BT-Drucksache 16/877

Das Abkommen von Dayton weiterentwickeln und überwinden

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/877
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Winfried Nachtwei, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Abkommen von Dayton weiterentwickeln und überwinden

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor mehr als zehn Jahren wurde der Vertrag von Dayton unterzeichnet. Vier Jahre
Massenmord und Massenvertreibungen sind damit beendet worden. Nach ihrem
jahrelangen Versagen bleibt dies ein Verdienst der internationalen Staatenge-
meinschaft.

Das Friedensabkommen von Dayton, auf dem die gegenwärtige Staatskonstruk-
tion Bosnien-Herzegowinas beruht, war nur möglich als politischer Kompro-
miss zwischen den kriegführenden Seiten. Er folgte nicht den Prinzipien des
Rechts, sondern schrieb die Ergebnisse des Krieges fest.

Es ist deshalb an der Zeit, dem Friedensprozess in Bosnien-Herzegowina einen
neuen Impuls zu geben. Bosnien-Herzegowina wird nur dann als Staat und Ge-
sellschaft eine Zukunft haben, wenn es gelingt, staatliche Strukturen zu schaffen,
die Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen bieten und die die ökonomische und
gesellschaftliche Entwicklung des gesamten Landes fördern. Der Versöhnungs-
prozess zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen wird nur dann substan-
tiell vorankommen, wenn für das gesamte Land ein stabiler politisch-rechtlicher
Rahmen sowie eine ökonomische und soziale Perspektive entwickelt werden.
Dies setzt anhaltendes Engagement sowohl der internationalen Staatengemein-
schaft als vor allem auch der Gesellschaft in Bosnien-Herzegowina selbst voraus.

Bosnien und Herzegowina ist immer noch kein funktionierender, demokratischer
Gesamtstaat. Der Gesamtstaat ist im Vergleich zu den Entitäten schwach. Die je-
weiligen Nationalismen und die auf sie bezogene Verfassungsstruktur bestimmen
das Verhältnis der Entitäten zum Gesamtstaat und behindern damit auch jede
Politik, die über die jeweiligen Entitäten hinaus Wirksamkeit entfalten kann. Eine
erhebliche Rechtsunsicherheit gehört zu den praktischen Auswirkungen dieser
Struktur. Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die Ankündigung des Hohen
Repräsentanten, im Rahmen der beabsichtigten Verfassungreform auf eine Stär-
kung der gesamtstaatlichen Strukturen hinzuwirken.
Die parallele Struktur von Protektorat und gewähltem Parlament als Folge des
Abkommens von Dayton ist eine Konstruktion, die den Demokratisierungspro-
zess des Landes belastet. Dieses ständige Demokratiedefizit des Gesamtstaates
hemmt die Eigenverantwortlichkeit der Gesellschaft, ist aber im Vertrag von
Dayton angelegt. Daher muss die protektoratähnliche Machtstruktur unter der
Leitung eines Hohen Repräsentanten schrittweise und so rasch wie möglich
abgebaut werden. Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die Ankündigung des

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Hohen Repräsentanten die so genannten Bonn Powers im Zusammenhang der
Parlamentswahlen im Oktober dieses Jahres zu überprüfen und schrittweise ab-
zubauen.

Das friedliche Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und religiösen
Gruppen ist nach wie vor stark gefährdet. Korruption, Kriminalität und Prostitu-
tion gehören zu den Übeln, die unter den beschriebenen Bedingungen gedeihen
und das Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung bestärken. Die Staatsquote
ist aufgrund der Doppellungen und Verdreifachungen des Staatsapparates extrem
hoch und belastet in vielfältiger Weise die wirtschaftlichen Perspektiven des Lan-
des. Angesichts einer offiziellen Arbeitslosigkeit von 42 Prozent, schnell wach-
sender Armut und ungünstigen ökonomischen Prognosen sieht eine Mehrheit der
Bevölkerung und insbesondere der jungen Menschen keine Zukunft für sich.

Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die zum zehnten Jahrestag der Unter-
zeichnung des Abkommens von Dayton beschlossene Deklaration führender
Parteien Bosniens-Herzegowinas, in der eine Annäherung an die euroatlanti-
schen Organisationen zum Ziel erklärt wird. Die Institutionen in Bosnien-Her-
zegowina sollen demnach gestärkt sowie der Schutz der ethnischen Minderhei-
ten gewährleistet werden. Auch eine Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegs-
verbrecher Tribunal wird erstmals von bosnisch-serbischer Seite zugesichert.

Diese Zusammenarbeit und insbesondere die Verhaftung von Radovan Karadzic
und Ratko Mladic sind Voraussetzungen für einer Annäherung an die euroatlan-
tische Gemeinschaft und für den Aussöhnungsprozess im Land selbst. Der Deut-
sche Bundestag unterstützt die in diesem Zusammenhang vom Hohen Repräsen-
tanten geforderte Auslieferung von Kriegsverbrechern als Bedingung für Ver-
handlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU.

Ohne langfristiges, wenngleich zeitlich begrenztes Engagement der internatio-
nalen Gemeinschaft wird es jedoch keine Stabilität in Südosteuropa geben.
Bosnien-Herzegowina braucht weiterhin die Hilfe der internationalen Gemein-
schaft. Ein Scheitern würde die Stabilität der gesamten Region sowie die Bei-
trittsperspektiven der Anrainerstaaten gefährden und die nationalistischen
Kräfte in den Nachbarstaaten stärken.

Der Deutsche Bundestag fordert daher die internationale Gemeinschaft sowie
die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina, die Vertragsstaaten des Dayton-
Abkommens, die Europäische Union und die Anrainerstaaten auf, die bisherigen
Entwicklungen im Rahmen einer internationalen Staatenkonferenz kritisch zu
bilanzieren. Dabei gilt es, das Bewährte beizubehalten und zugleich die Hinder-
nisse für die weitere Entwicklung Bosnien-Herzegowinas zu überwinden.

Ziel der Bemühungen in Bosnien-Herzegowina und der internationalen Gemein-
schaft muss eine mittels eines Referendums angenommene Verfassungsreform
sein, die zu funktionsfähigen staatlichen Strukturen und einer sich selbst tragenden
Wirtschaft führt. Voraussetzung dafür sind stabile rechtsstaatliche Verhältnisse
und eine untereinander dialogfähige Zivilgesellschaft in allen nationalen und re-
ligiösen Gruppen. Am Ende dieses Prozesses stehen ein Friedensvertrag der ehe-
mals kriegführenden Seiten und eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die die
Resolution 1031 (1995) und das Abkommen von Dayton sowie die darauf folgen-
den Resolutionen ablösen sollen. Damit werden die Voraussetzungen für eine
realistische Perspektive Bosnien-Herzegowinas für einen EU-Beitritt geschaffen.

Berlin, 8. März 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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