BT-Drucksache 16/8747

Politik der Bundesregierung und EU im israelisch-palästinensischen Konflikt angesichts der Krise im Gazastreifen

Vom 8. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8747
16. Wahlperiode 08. 04. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy,
Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe,
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Politik der Bundesregierung und EU im israelisch-palästinensischen Konflikt
angesichts der Krise im Gazastreifen

Israel hat im Sommer 2005 seine militärischen Kräfte und Siedlungen aus dem
Gazastreifen abgezogen, aber die Kontrolle über Luft- und Seeraum sowie die
Grenzen behalten. Seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 hat sich das
politische Klima in den palästinensischen Gebieten kontinuierlich verschlech-
tert. Der Nichtanerkennung der Hamasregierung folgten ein internationaler
Boykott und die Einführung eines alternativen Finanzierungsmechanismus
(TIM). Palästinensisches Institutionengefüge und Wirtschaft erodieren seitdem
zusehends.

Die zwischenzeitlich unter saudi-arabischer Vermittlung gebildete Regierung
der nationalen Einheit zwischen Fatah und Hamas in Palästina scheiterte. Die
EU lehnt wie die USA und Israel Kontakte mit der Hamas ab. Im Juni 2007 über-
nahm die Hamas gewaltsam die Macht in Gaza. Seitdem herrscht eine De-facto-
Trennung zwischen Gaza und Westbank. In der Folge der Annapolis-Konferenz
vom November 2007 begannen Verhandlungen zwischen der palästinensischen
Autonomiebehörde und der israelischen Regierung. Während mit Fatah in der
Westbank verhandelt wird, wird der Gazastreifen von Israel rigoros abgeriegelt.
Die Folgen für die Zivilbevölkerung sind gravierend. 95 Prozent aller Industrie-
aktivitäten mussten eingestellt werden, die Arbeitslosenrate stieg auf ca. 40 Pro-
zent. Bis zu 80 Prozent der Bevölkerung sind auf Lebensmittelhilfen angewie-
sen, der Gesundheitssektor liegt brach (The Gaza Strip: A Humanitarian
Implosion, Amnesty et. al. 6. März 2008).

Die Hamas und andere Gruppierungen im Gazastreifen haben seit der faktischen
Trennung von Gaza und Westbank den Raketenbeschuss gegen israelische Zivi-
listinnen und Zivilisten fortgesetzt. Von September 2005 bis Mai 2007 wurden
über 2 700 Raketen abgefeuert, die in diesem Zeitraum vier israelische Zivilis-
tinnen und Zivilisten töteten und 75 verletzten. Militärische Gegenmaßnahmen
Israels forderten im gleichen Zeitraum über 59 palästinensische Todesopfer und

270 Verletzte – so Human Rights Watch in einem Report. Bundesregierung, EU
und VN haben die unverhältnismäßige Gewalt kritisiert und beide Seiten zu
einer Einstellung der Gewalt aufgefordert.

Drucksache 16/8747 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die humanitäre Lage in Gaza?

2. Welche Beiträge leistet sie zu einer Verbesserung?

3. Auf welche Weise trägt sie derzeit direkt und indirekt zur Finanzierung des
Budgets der Palästinensischen Autonomiebehörde bei, und welche Pro-
bleme ergeben sich dabei für die praktische Umsetzung der Budgethilfen
für den faktisch unter Hamas-Herrschaft stehenden Gazastreifen?

4. Welche konkrete Politik betreiben die Bundesregierung und die EU gegen-
über der Hamas, und welche konkreten Maßnahmen sieht sie, um den
anhaltenden Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, durch den israelische
Zivilisten bedroht werden, zu unterbinden?

5. Gibt es Überlegungen, Kontakte mit Vertretern der Hamas aufzunehmen,
und wie ist der Diskussionsstand innerhalb der EU hinsichtlich direkter und
indirekter Kontakte oder Verhandlungen?

6. Teilt die Bundesregierung die auch in Israel laut Umfragen immer mehr ver-
tretene Auffassung, dass ein mit der Hamas verhandelter Waffenstillstand
für ein Ende der aktuellen Gewaltwelle sinnvoll wäre, und welche Erkennt-
nisse hat sie über den Stand von inoffiziellen oder offiziellen Verhandlun-
gen darüber?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die jüngsten Vermittlungsbemühungen
des Jemen zu Verhandlungen zwischen der Hamas und der Fatah zu kom-
men?

8. Teilt die Bundesregierung die israelische Auffassung, dass die Aufnahme
von Gesprächen zwischen der Fatah und der Hamas ein Ende der Verhand-
lungen im Rahmen des Annapolis-Prozesses zwischen Israel und der paläs-
tinensischen Autonomiebehörde zur Folge haben müsse?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über menschenrechtliche Pro-
bleme und Islamisierungstendenzen im Gazastreifen unter der Herrschaft
der Hamas seit Juni 2007?

10. Wie beurteilt sie die anhaltende Inhaftierung von Parlamentariern der
Hamas und anderer Fraktionen des palästinensischen Legislativrates
(PLC)?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung den völkerrechtlichen Status von Gaza
und die Fortdauer der israelischen Verantwortung als Besatzungsmacht
nach dem Truppenabzug, und wie bewertet sie israelische Einschätzungen,
dass mit dem Rückzug diese Verantwortung endete (z. B. Rede des israe-
lischen Botschafters der Vereinten Nationen – VN –, Gilad Cohen, im
Sicherheitsrat vom 22. Januar 2008, „we chose to disengange“)?

12. Welche Verantwortungen ergeben sich nach Ansicht der Bundesregierung
seitens Israels für die Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen
zur Grundversorgung der Bevölkerung?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung völkerrechtlich die politische und
wirtschaftliche Isolation des Gazastreifens, und wie thematisiert sie die
Blockade in bilateralen Konsultationen?

14. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass eine Erleichterung der
Bewegungsfreiheit der Menschen im Gazastreifen und dem Westjordanland
davon abhängen sollte, dass die Sicherheit der israelischen Bevölkerung vor
Anschlägen gewährleistet wird oder dass diese auch von der politischen
Position der Hamas abhängen sollte?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8747

15. Teilt die Bundesregierung die von der EU-Ratspräsidentschaft in ihrer
Stellungnahme vom 2. März 2008 zum Ausdruck gebrachte Verurteilung
von Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung des Gazastreifens?

16. Teilt die Bundesregierung die von der EU-Ratspräsidentschaft in ihrer
Stellungnahme vom 2. März 2008 zum Ausdruck gebrachte Verurteilung
von unverhältnismäßiger Gewalt der israelischen Armee gegen die paläs-
tinensische Bevölkerung in Gaza („… Presidency condemns the recent
disproportionate use of force by the Israeli Defense Forces – IDF – against
Palestinian population in Gaza …“)?

17. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die kollektive Bestrafung
einer Zivilbevölkerung eine Rechtspflicht verletzt, die sich aus einem zwin-
genden Völkerrechtsgrundsatz ergibt?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung angesichts des Kollektivstrafverbots des
humanitären Völkerrechts die verschiedenen Einzelmaßnahmen im Rah-
men der Blockadepolitik der israelischen Regierung (z. B. Grenzschließun-
gen, Stopp von Lieferungen von Gütern und Leistungen etc.)?

19. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Drosselung der Kraftstoff-
lieferungen in den Gazastreifen angesichts der Tatsache, dass dadurch nur
noch eine unzureichende Stromerzeugung möglich ist, welche die Grund-
versorgung der Bevölkerung beeinträchtigt, eine Maßnahme mit Kollektiv-
strafcharakter darstellt?

20. Welche weiteren Einzelmaßnahmen fallen aus Sicht der Bundesregierung
unter das Kollektivstrafverbot?

21. Hat die Bundesregierung ihre Bedenken gegenüber dem israelischen Vorge-
hen in Gaza, falls diese bestehen, gegenüber Premierminister Ehud Olmert
bei dessen Besuch in Berlin im Februar 2008 und bei dem Besuch von Bun-
deskanzlerin Dr. Angela Merkel im März 2008 im Rahmen der Regierungs-
konsultationen zum Ausdruck gebracht?

22. Wie bewertet die Bundesregierungen die Möglichkeit einer internationalen
Friedenstruppe in Gaza, die neben anderen Politikerinnen und Politikern
auch Premierminister Ehud Olmert und Außenministerin Tzipi Livni bereits
thematisierten, und wie ist der Diskussionsstand innerhalb der EU zu diesem
Vorschlag?

23. Hat die Europäische Union nach Ansicht der Bundesregierung eine Rechts-
pflicht, Handlungen eines Partnerlandes, die schwere Verletzungen eines
zwingenden Völkerrechtsgrundsatzes darstellen, nicht anzuerkennen und
ihnen keinerlei Rechtswirkung zu verleihen?

Falls ja, hat die EU aus Sicht der Bundesregierung eine Pflicht sicherzustel-
len, dass ihre Hilfsleistungen für die palästinensische Bevölkerung in einer
Weise umgesetzt werden, die nicht rechtswidrigen Vorgaben des israelischen
Staates folgt und diese faktisch toleriert und ihnen praktische Wirkung ver-
leiht?

24. Welche präventiven Maßnahmen ergreift die EU, um zu verhindern, dass
ihre Hilfsmaßnahmen im Rahmen israelischer Politik als politisches Instru-
ment oder Druckmittel eingesetzt werden?

25. Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Mitfinan-
zierung der Kraftstoffversorgung des Gazastreifens durch die EU während
der anhaltenden Blockade?

Drucksache 16/8747 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
26. Erhält die EU genaue Kenntnis über Maßnahmen von israelischer Seite,
welche die von ihr mitfinanzierte Treibstoffversorgung behindern, und wer-
den in Fällen, wo bereits Zahlungen vorgenommen wurden, aber Lieferun-
gen nicht stattfinden können, diese von der israelischen Regierung erstattet?

27. Inwieweit evaluiert die Bundesregierung den Verbleib weiterer euro-
päischer Entwicklungsmittel oder Subventionen, die in den Gazastreifen
fließen bzw. aufgrund der Blockadepolitik ihre Empfänger nicht erreichen
können?

28. Inwieweit evaluiert sie unmittelbare Schäden für europäische und interna-
tionale Hilfsprojekte aufgrund von militärischen Einsätzen und Einschrän-
kungen der Bewegungs- und Handelsfreiheit, und wie hoch beziffert sie
diese?

29. Setzt sich die Bundesregierung aktiv für eine Rückkehr der EU-BAM-Mis-
sion nach Rafah ein, und mit welchen Akteuren verhandelt sie darüber?

30. Wie hat sich der Personalstand der Mission seit der Schließung der Rafah-
Grenze im Juni 2007 entwickelt, und welche Aktivitäten wurden seitdem
unternommen?

31. Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen bzw. innerhalb der
EU angeregt, um eine innerpalästinensische Versöhnung zu begünstigen?

32. Mit welchen Mitteln oder Sachleistungen wurde die Palästinensische Auto-
nomiebehörde unter Führung von Präsident Mahmud Abbas seit Juni 2007
von der Bundesregierung bilateral oder multilateral unterstützt?

33. Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung, dass seitens der US-
Administration Sicherheitskräfte der Fatah insbesondere im Gazastreifen zu
gewaltsamem Vorgehen gegen die Hamas ermuntert wurden (Vanity Fair:
„The Gaza Bombshell“, 8. April 2008), und wie verhindert sie, dass Unter-
stützungsmaßnahmen der Bundesregierung und EU in der Westbank zur
Unterstützung von Präsident Mahmud Abbas die Spaltung zwischen Gaza
und Westbank vertiefen?

Berlin, den 8. April 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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