BT-Drucksache 16/8527

zu der dritten Bearatung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung -16/7439, 16/7486, 16/8525- Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)

Vom 12. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8527
16. Wahlperiode 12. 03. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Katja Kipping, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 16/7439, 16/7486, 16/8525 –

Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der „Entwurf eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegever-
sicherung“ (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz) ist nicht geeignet, die bestehen-
den dringlichen Probleme im Bereich der Pflege zu lösen. Die Bundesregierung
reagiert auf die seit Jahren bestehenden Defizite unzureichend und ist an der Auf-
gabe gescheitert, eine nachhaltige Reform der Pflegeversicherung in die Wege zu
leiten.

Die Regierung ist weit hinter ihrer Koalitionsvereinbarung zurückgeblieben. So
gibt es keinen Finanzausgleich zwischen der gesetzlichen und der privaten
Pflegeversicherung. Die Dynamisierung der Leistungen ist völlig unzurei-
chend, mit der Folge, dass auch zukünftig die Sozialhilfebedürftigkeit nicht
überwunden wird.

Mit dem Gesetzentwurf werden weder die langfristige Orientierung der Leistun-
gen der Pflegeabsicherung am individuellen Bedarf noch das Ermöglichen ge-
sellschaftlicher Teilhabe für Empfängerinnen und Empfänger von Pflege- und
Assistenzleistungen angestrebt. Grundlage einer wirklichen Reform des Elften
Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) müsste die Neudefinition des Pflegebegriffs
sein. Diese Position haben zahlreiche Sachverständige im Rahmen der öffent-
lichen Anhörungen unterstützt. Die Bundesregierung lässt dem eigens dafür ein-
gesetzten Beirat jedoch bis November 2008 Zeit, einen solchen Begriff zu
entwickeln. Dadurch, dass der somatisch geprägte und verrichtungsbezogene
Pflegebegriff beibehalten wird, ist das systematische Einbeziehen von Menschen

mit demenziellen Erkrankungen in das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz nicht
möglich. Für eine hinwendungsbezogene, sprechende, eine Teilhabe ermög-
lichende und ganzheitliche Pflege- und Assistenzleistung bedarf es der Neu-
definition des Pflegebegriffs.

Mit der im Gesetz weiterhin vollzogenen Deckelung der Finanzen kann weder
die dringend erforderliche Verbesserung des Leistungsniveaus für die Betroffe-

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nen noch eine Unterstützung der Tätigkeit von Beschäftigten und Angehörigen
erfolgen.

Das Gesetz versäumt es, die je nach Lebenssituation unterschiedliche Art der
Unterstützung in Form von Pflege oder Assistenz abzubilden. Je nachdem, ob
Menschen beispielsweise aufgrund ihres Alters einen Teil der Alltagskompetenz
einbüßen oder aufgrund von Behinderungen und/oder chronischen bzw. erb-
lichen Erkrankungen in ihrer sozialen Teilhabe beeinträchtigt sind bzw. sich im
Sterbeprozess befinden, haben sie besondere spezielle Bedarfe.

Die im Entwurf des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vorgesehene stufen-
weise Anhebung der Geld- und Sachleistungen ist vollkommen unzureichend
und gleicht nicht einmal den seit der Einführung der Pflegeversicherung im
Jahr 1995 zu verzeichnenden Realwertverlust der Leistungen in Höhe von
ca. 15 Prozent aus. Für gut ein Viertel der Leistungsbezieherinnen und -bezieher
– nämlich die rund 530 000 Pflegebedürftigen der Pflegestufen I und II, die in
Heimen versorgt werden – wird die finanzielle Unterstützung überhaupt nicht
erhöht.

Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz sollen durch das Pflege-Wei-
terentwicklungsgesetz stärker berücksichtigt werden. Angesichts des großen Be-
treuungsaufwandes und der hohen Anzahl Betroffener können die geplanten
Leistungsverbesserungen aber nur eine Übergangslösung sein. So werden de-
menziell Erkrankte 1 200 Euro bzw. 2 400 Euro jährlich erhalten. Letzteres
ergäbe 6,57 Euro pro Tag, um sich davon zusätzliche Betreuungsleistungen ein-
zukaufen. Würden die von der Bundesregierung für 2008 eingeplanten Finanz-
mittel auf alle demenziell Erkrankten, die ambulant versorgt werden, aufgeteilt
werden, erhielte jede Person zwischen 1,00 und 1,50 Euro am Tag. Ähnliches gilt
auch für die Betreuung von Menschen mit demenziellen Erkrankungen in sta-
tionären Einrichtungen. Die von der Bundesregierung geplanten Verbesserungen
gehen in die richtige Richtung, müssen aber finanziell deutlich besser ausgestat-
tet werden.

Veränderungen der Familienstruktur, des Familienbildes, der Erwerbsbiogra-
phien von Frauen und der Arbeitswelt bringen neue Herausforderungen für die
Pflegeabsicherung mit sich. Bereits jetzt ist eine berechtigte stärkere Inan-
spruchnahme von professioneller Pflege bzw. Assistenz zu konstatieren. Der
Entwurf des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes reagiert darauf unzureichend
und sieht keine Maßnahmen vor, die Pflege- bzw. Assistenzaufgaben zwischen
Staat und Familie zu Gunsten einer stärkeren professionellen Verantwortung zu
verlagern. Es fehlt der mutige Schritt, Möglichkeiten zu schaffen, familiäre
Hilfe, die Pflegende physisch und psychisch wie finanziell überlastet, durch
professionelle Pflege- und Assistenzkräfte konsequent und ausreichend zu er-
gänzen.

Ohne eine spürbare Erhöhung der Einnahmen der gesetzlichen Pflegeversiche-
rung wird keine menschenwürdige und gute Pflege möglich sein. Um eine soli-
darische und humane Absicherung von Pflege und Assistenz zu gewährleisten,
ist eine nachhaltige Finanzierung beispielsweise auf der Grundlage einer Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung erforderlich. In diese Versicherung sind alle
Einkommen einzubeziehen. Als erster Schritt muss ein Finanzausgleich zwi-
schen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung erfolgen, wie im Koali-
tionsvertrag von CDU, CSU und SPD festgelegt worden war.

Im Rahmen der öffentlichen Anhörungen zum Entwurf des Pflege-Weiterent-
wicklungsgesetzes haben viele Sachverständige festgestellt, dass für die lang-
fristige nachhaltige Finanzierung der Pflege die Beitragssätze je nach Ausge-
staltung der Pflegeleistungen auf 4 bis 7 Prozent steigen müssten. Durch die
Einführung einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung lässt sich

der Beitragsanstieg auf 2,5 bis 4 Prozent begrenzen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8527

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf für die schrittweise Reform der Pflegeabsicherung vor-
zulegen, der noch in dieser Legislaturperiode vom Parlament behandelt und
verabschiedet werden kann. Grundpfeiler der Reform sollen sein:

● eine Neudefinition des Pflegebegriffs, der assistierte Teilhabe und eine
bedarfsdeckende, ganzheitliche, sprechende Pflege ermöglicht,

● die Gewährleistung einer Wahlmöglichkeit von geschlechtergleicher
Pflege/Assistenz,

● eine grundlegende Überarbeitung des Begutachtungsverfahrens,

● die Überwindung des starren Pflegestufenmodells und

● die Verankerung der Pflegeversicherung als Rehabilitationsträgerin im
SGB IX;

2. das Pflegerisiko durch ein Präventionsgesetz und gesundheitsfördernde
Maßnahmen zu verringern;

3. ein Sofortprogramm aufzulegen, das die unmittelbaren Probleme von Pfle-
gebedürftigen angeht. Dabei sind nachfolgende Punkte zu berücksichtigen:

a) Die Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) sind anzuheben und zu
dynamisieren. Hierfür ist der 15-prozentige Realwertverlust der Pflege-
leistungen unverzüglich auszugleichen. Außerdem sind die Sachleistungs-
beträge für die ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege um weitere
25 Prozent anzuheben. Ab 2009 sind die Leistungen der Pflegeversiche-
rung jährlich in Höhe der Bruttolohnentwicklung zu dynamisieren.

b) Menschen mit demenziellen Erkrankungen sind in die Leistungen der Pfle-
geversicherung zu integrieren. Der zusätzliche Leistungsbetrag für Men-
schen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz ist auf 6 000 Euro
jährlich anzuheben. Gleichzeitig sind Menschen der so genannten Pflege-
stufe 0 einzubeziehen.

c) Ambulante und alternative Wohn- und Versorgungsformen sind auszu-
bauen. Es ist darauf hinzuwirken, dass Pflegeversicherung und Kommunen
hierfür in angemessenem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.

d) Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu ver-
bessern. Professionelle Beratung, Anleitung, Betreuung und Supervision
ist als Leistung der Pflegeversicherung auszubauen. Anbieter- und kosten-
trägerunabhängige Pflege- und/oder Assistenzberatung ist einzurichten.
Tages-, Kurzzeit- und Nachtpflege sind auszuweiten.

e) Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzufüh-
ren, die der Organisation der Pflege von Angehörigen oder nahestehenden
Personen dient. In dieser Zeit erhalten abhängig Beschäftigte eine Lohn-
ersatzleistung in Höhe von Arbeitslosengeld (I). Während der Pflegezeit
besteht Kündigungsschutz. Die Möglichkeit einer Pflegezeit gilt für Be-
triebe unabhängig von der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teil-
zeitmöglichkeiten und flexible Arbeitszeitreglungen zu ermöglichen. Für
andere Versicherte, die nicht abhängig beschäftigt sind, werden analoge
Regelungen geschaffen, um auch ihnen die Möglichkeit zur Organisation
der Pflege zu geben.

f) Für eine verbesserte stationäre Versorgung im Sinne der Heimbewohne-
rinnen und Heimbewohner sind die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs-
möglichkeiten von Heimbeiräten zu erweitern. Prüf- und Qualitätsberichte

vom Medizinischen Dienst (MDK) und Heimaufsicht sind allgemeinver-

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ständlich zu veröffentlichen. Kontrollen haben grundsätzlich unangemel-
det stattzufinden.

g) Pflege- und Assistenzkräften sind verbesserte berufliche Perspektiven zu
bieten. Altenpflegekräfte müssen in ihrer Bezahlung Krankenpflegekräften
angeglichen werden. Überbelastung soll abgebaut, Arbeitszeiten sollen
flexibilisiert, Teilzeitarbeit und eine verbesserte Ausbildung ermöglicht
werden. Gleichzeitig sind die Angebote an Qualifikations- und Weiter-
bildungsmaßnahmen (inkl. Supervision) auszuweiten.

h) Die Pflegekassen haben dafür Sorge zu tragen, dass nur mit solchen An-
bietern Verträge abgeschlossen werden, deren Beschäftigte zu Tarifbedin-
gungen entlohnt werden und die nicht weniger als 8,44 Euro/Stunde brutto
verdienen.

i) In den stationären Einrichtungen ist eine ausreichende Ausstattung mit qua-
lifiziertem Personal zu gewährleisten. Es ist ein Instrument einer qualitäts-
bezogenen Personalbemessung zu entwickeln, das bundesweit einheitlich
und rechtsverbindlich ist. Mindestens die Hälfte des Personals muss aus
Fachkräften bestehen.

j) Eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege ist
einzuführen. Die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegever-
sicherung ist aufzuheben. Hierfür sind alle, auch Selbstständige, Beam-
tinnen und Beamte und Freiberuflerinnen und Freiberufler, in die gesetz-
liche Pflegeversicherung (SGB XI) einzubeziehen. Sämtliche Einkommen
– u. a. aus unselbständiger und selbständiger Arbeit (sowie Kapital-, Miet-
und Zinseinkünften) – werden beitragspflichtig und mit einem einheitli-
chen Beitragssatz belegt. Die Beitragsbemessungsgrenze wird stufenweise
angehoben, im ersten Schritt ist sie auf die Höhe der Beitragsbemessungs-
grenze der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben. Rentnerinnen und
Rentner zahlen künftig nur den halben Beitragssatz; die andere Hälfte wird
aus der Rentenversicherung beglichen. Der höhere Pflegebeitrag von Kin-
derlosen wird abgeschafft.

k) Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind insgesamt zur Hälfte an den
Beiträgen für die Pflegeversicherung zu beteiligen, die auf Einkommen aus
abhängiger Beschäftigung erhoben werden.

Berlin, den 11. März 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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