BT-Drucksache 16/8430

Zur Menschenrechtssituation in Afghanistan - Todesurteil gegen Sayed Parviz Kambakhsh

Vom 5. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8430
16. Wahlperiode 05. 03. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln),
Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zur Menschenrechtssituation in Afghanistan – Todesurteil gegen Sayed Parviz
Kambakhsh

Der 23-jährige Student Sayed Parviz Kambakhsh wurde am 23. Januar von
einem afghanischen Gericht in Mazar-i-Sharif wegen „Beleidigung des Islam“
zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde vom afghanischen Senat nach vorheriger
Zustimmung infolge internationaler Proteste ausgesetzt, besteht aber juristisch
weiter und soll vom Verfassungsgericht geprüft werden. Lokale Ulema (isla-
mische Rechtsgelehrte) und Ratsversammlungen fordern die Vollstreckung. Am
7. Februar sicherte Präsident Hamid Karsai gegenüber der amerikanischen
Außenministerin Condoleezza Rice ein gerechtes Verfahren zu. Sayed Parviz
Kambakhsh befindet sich aber weiter in Haft. Er hatte an seiner Universität per
Email einen Artikel über Frauenrechte in Afghanistan verbreitet, der sich kri-
tisch über den Koran äußert. Die UN und Menschenrechtsorganisationen haben
bemängelt, dass Kambakhsh keine Möglichkeit zu einer Verteidigung einge-
räumt wurde. Gegenüber der britischen NRO „Institute of War and Peace Re-
porting“ sagte Kambakhsh aus, dass er zu einem Geständnis gezwungen wurde
(www.iwpr.net).

Louise Arbour, Hohe Kommissarin der UN für Menschenrechte hat gegenüber
Präsident Hamid Karsai die Wahrung der Pressefreiheit in Afghanistan an-
gemahnt. Kambakhshs Bruder Sayed Yaqub Ibrahimi arbeitet für das „Institute
of War and Peace Reporting“. Nach Einschätzung von dessen Direktorin Kean
Mackenzies richtet sich die Verhaftung auch als Einschüchterungsversuch gegen
Ibrahimis investigative Berichterstattung, in deren Rahmen mehrfach hochran-
gige Kommandeure in der Provinz Balkh und anderen Nordprovinzen kritisiert
wurden.

Laut Afghanistan-Konzept der Bundesregierung vom 5. September 2007 geht
die „größte Bedrohung der Menschenrechte“ in Afghanistan „von lokalen
Machthabern und Kommandeuren“ aus. Auch wenn die Situation regional sehr
unterschiedlich ist, kontrollieren Warlords und lokale Kommandeure noch im-

mer weite Teile des Landes, in einigen Provinzen ersetzen diese weitgehend
staatliche Autoritäten. Noch immer dominiert vielfach traditionelles Gewohn-
heitsrecht, existieren unterschiedliche Rechtssysteme. Hinzu kommt, dass die
afghanische Verfassung zwar Menschenrechte und Meinungsfreiheit garantiert,
in Artikel 3 heißt es aber: „In Afghanistan darf kein Gesetz dem Glauben und
den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen.“

Drucksache 16/8430 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Angesichts dessen wird auch die Frage diskutiert, welche Erwartungen die inter-
nationale Gemeinschaft an den von ihr unterstützten neuen Staat Afghanistan
hat. Der Bundesminister des Auswärtigen Dr. Frank-Walter Steinmeier erklärte
dazu: „Wir wollen einen demokratischen Staat ausrichten, der vielleicht nicht
ganz denselben Weg nimmt wie die Musterdemokratien Europas, der seine
Eigenständigkeiten behalten wird, aber bei dem wir erwarten wollen und erwar-
ten müssen, dass das Mindestmaß der ja auch in VN-Vereinbarungen geltenden
Regeln beachtet wird.“ (Deutschlandfunk, 27. Januar 2008).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche näheren Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Fall Kambakhsh,
wie hat sie den Fall gegenüber afghanischen Behörden angesprochen, und
welche Maßnahmen ergreift sie, um auf eine Verhinderung des Urteilsvoll-
streckung und eine Freilassung Kambakhshs hinzuwirken?

2. Wie bewertet die Bundesregierung angesichts des verhängten Todesurteils
gegen Sayed Parviz Kambakhsh

a) die personellen und institutionellen Voraussetzungen der afghanischen
Justiz,

b) die Wirksamkeit der Verankerung der Grundrechte und Schutz der Men-
schenrechte in der afghanischen Verfassung,

c) die rechtliche und faktische Gewährleistung der Pressefreiheit in Afgha-
nistan?

3. Wie oft wurde nach Kenntnis der Bundesregierung in Afghanistan seit 2002
die Todesstrafe verhängt, und mit welcher Urteilsbegründung?

a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die entsprechenden
Verfahren?

Sind diese fair und gerecht gewesen, und wenn nein, aus welchen Gründen
nicht?

b) Wie viele zum Tode Verurteilte wurden in Afghanistan seit 2002 pro Jahr
hingerichtet?

c) Wie viele zum Tode verurteilten Personen befinden sich nach Kenntnis der
Bundesregierung derzeit in Afghanistan in Todeszellen?

4. Wie viele Verfahren sind derzeit gegen kritische Journalisten in Afghanistan
anhängig, und was wird ihnen konkret vorgeworfen?

5. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Einschüchterungsver-
suche gegenüber Sayed Yaqub Ibrahimi infolge dessen Arbeit für das
„Institute of War and Peace Reporting“ und seiner Kritik an politischen Per-
sönlichkeiten in den nördlichen Provinzen?

6. Welche Möglichkeiten und Pflichten zur Einflussnahme auf Stellenplanung
und Amtspraxis der afghanischen Verwaltung sieht die Bundesregierung un-
ter Beachtung der afghanischen Unabhängigkeit angesichts ihrer regionalen
Verantwortung für Polizei-, Justiz- und Verwaltungsaufbau in der Nordpro-
vinz?

7. Ist nach Auffassung der Bundesregierung die afghanische Regierung für sys-
tematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich?

8. Sind der Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen seitens der afgha-
nischen Provinzregierungen oder einzelner Vertreterinnen und Vertreter in
den unter deutschem Regionalkommando stehenden Nordprovinzen bekannt?

Wie geht die Bundesregegierung mit Verstößen gegen die Menschenrechte

seitens der afghanischen Regierung, Verwaltung oder einzelner Komman-
deure in ihrem Zuständigkeitsbereich um?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8430

9. Welche Konsequenzen hat konkret der Fall Kambakhsh für die deutschen
Maßnahmen im Bereich von Polizeiausbildung und Justizaufbau?

10. Wie beurteilt die Bundesregierung den aktuellen Stand von Reform und
Aufbau des afghanischen Justizsystems?

11. Wie evaluiert die Bundesregierung das bisherige deutsche und EU-Engage-
ment im Bereich Justizaufbau und der zivilgesellschaftlichen Aufklärung
über individuelle Rechte?

12. Wie beurteilt die Bundesergierung die afghanische Pressefreiheit und das
afghanische Mediengesetz sowie die Diskussion über eine Veränderung des
Gesetzes?

13. Welche Maßnahmen unterstützt derzeit die Bundesregierung speziell, um
Aufbau und Entwicklung einer freien Presse zu unterstützen, und welche
weiteren Maßnahmen plant sie?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung die wiederholten Eingriffe des Informa-
tions- und Kultusministeriums in Personalentscheidungen des staatlichen
Senders RTA, und welche Kenntnisse besitzt sie über das Vorhaben des bis
Januar 2007 amtierenden Intendanten Najib Roshan, den Sender in eine un-
abhängige, öffentlich-rechtliche Anstalt nach deutschem Vorbild umzuwan-
deln?

15. Wo müssen nach Meinung der Bundesregierung Einschränkungen des
demokratischen Modells in Afghanistan im Vergleich zu den „Musterde-
mokratien Europas“ (Bundesminister des Auswärtigen Dr. Frank-Walter
Steinmeier, Deutschlandfunk, 27. Januar 2008) in Kauf genommen werden?

16. Welche Mindeststandards müssen nach Auffassung der Bundesregierung
eingehalten werden?

Wie kann dies langfristig gewährleistet werden, wenn die afghanische Ver-
fassung Grundrechte explizit mit der Voraussetzung der Übereinstimmung
mit islamischen Normen einschränkt?

17. Wer bestimmt in Afghanistan formal über die Auslegung islamischer
Rechtstexte und -prinzipien, und wie werden diese in der Rechtswirklich-
keit auf verschiedenen Ebenen angewendet?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung das Spannungsverhältnis zwischen reli-
giösem und säkularem Recht in Afghanistan, und wie beurteilt sie die An-
wendungspraxis des islamischen Rechtes in Afghanistan?

19. Werden islamische Rechtsgelehrte und Richter, darunter auch konservative
und orthodoxe Vertreter, gezielt in Reformansätze und Ausbildung im Jus-
tizsektor einbezogen und ihre Auslegung islamischer Rechtsquellen zum
Gegenstand spezifischer Diskussionen über die islamische Rechtspraxis ge-
macht?

Berlin, den 5. März 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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