BT-Drucksache 16/833

Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/833
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, Inge Höger-Neuling,
Ulla Jelpke, Katja Kipping, Ulla Lötzer, Kornelia Möller, Dr. Ilja Seifert, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In den vergangenen Jahren wurden etliche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
ergriffen, die deutliche negative Effekte für Frauen gezeigt haben. Frauen sind
in besonderem Maße Verliererinnen der Arbeitsmarktreformen der vergangenen
Jahre.

Dabei besteht hinsichtlich dem in Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes festge-
schrieben Staatsauftrag, die tatsächliche Gleichberechtigung von Männern und
Frauen zu fördern, dringender Handlungsbedarf. Hinsichtlich der Chancen-
gleichheit zwischen den Geschlechtern am Arbeitsmarkt sind die Probleme
durch aktuelle Berichte der EU-Kommission, der Bundesregierung und anderer
Institutionen bekannt. Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt noch immer in vie-
lerlei Hinsicht strukturell benachteiligt. Beispielsweise ist die Erwerbsbeteili-
gung von Frauen nach wie vor geringer als die von Männern und sie sind durch-
schnittlich deutlich länger arbeitslos. Die Erwerbsquote von Frauen stieg in den
letzten Jahren zwar an, allerdings nur dadurch, dass gleichzeitig mehr Frauen in
Teilzeit arbeiten. In Deutschland ist die Differenz zwischen den Durchschnitts-
arbeitszeiten von Frauen und Männern im Vergleich zu anderen europäischen
Ländern besonders groß. Frauen arbeiten nicht nur wesentlich häufiger Teilzeit
als Männer, sondern oftmals auch in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die
keine eigenständige Existenzsicherung ermöglichen: Der Anteil der Frauen, die
unter 15 Stunden wöchentlich beschäftigt sind, hat sich zwischen 1991 und 2004
mehr als verdoppelt. 2003 war jede fünfte abhängig beschäftigte Frau gering-
fügig beschäftigt (21 Prozent). 2004 waren 68,1 Prozent aller ausschließlich ge-
ringfügig Beschäftigten Frauen.

In Deutschland beeinträchtigt die familiale Verantwortung für Kinder in hohem
Maße die Erwerbsbeteiligung von Frauen nach wie vor gravierender als in vielen
anderen Staaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(Gender-Datenreport 2005, S. 274). Das ist besonders für Alleinerziehende dra-

matisch. Ihr Armutsrisiko ist nach wie vor sehr hoch; über 80 Prozent der allein
erziehenden Frauen sind von Armut betroffen.

Das durchschnittliche Einkommen von Frauen in Deutschland liegt mindestens
20 Prozent unter dem von Männern. Damit nimmt Deutschland den drittletzten
Rang unter den EU-Staaten im Hinblick auf die Angleichung der Einkommen
von Frauen und Männern ein. Die Lohnungleichheit nimmt im Gegensatz zu den
meisten anderen europäischen Ländern in Deutschland sogar wieder zu (vgl. Be-

Drucksache 16/833 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

richt der Europäischen Kommission zur Gleichstellung von Frauen und Män-
nern 2006). Berufe, in denen überwiegend Frauen arbeiten, werden traditionell
niedriger bezahlt. So werden beispielsweise Niedriglöhne vor allem im Dienst-
leistungsbereich und bei Dienstleistungsberufen gezahlt. Aber auch innerhalb
gleicher Berufe gibt es große geschlechtsspezifische Unterschiede, vor allem im
oberen Einkommensbereich. „Die Einkommen gut verdienender Frauen hören
dort auf, wo die Einkommen gut verdienender Männer erst anfangen“ wird im
WSI-FrauenDatenReport 2005 festgestellt. Dabei sind Frauen in Entscheidungs-
positionen nach wie vor wesentlich seltener zu finden als Männer.

Das deutsche Berufsbildungssystem verstetigt die großen Einkommensunter-
schiede zwischen Frauen und Männern, da im Rahmen der meist von Männern
wahrgenommenen betrieblichen Ausbildung im Bereich der industriellen und
handwerklichen Berufe eine Grundlage für Weiterbildung und Aufstieg angebo-
ten wird, während dies in den vorwiegend von Frauen besuchten schulischen
Ausbildungsgängen und Büroberufen selten der Fall ist. Bis zu 20 Prozent der
Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern lassen sich jedoch nicht aus struk-
turellen Differenzen erklären, sondern werden auf direkte Diskriminierung auf-
grund des Geschlechts zurückgeführt.

Viel hängt davon ab, dass wir Geschlechtergerechtigkeit endlich als eine zen-
trale Frage der Demokratie begreifen und die Gleichstellung von Frauen und
Männern in der Arbeitsmarktpolitik konsequent und systematisch fördern. Dazu
gehören nicht nur die gleichen Partizipationsmöglichkeiten für Frauen und Män-
ner am Erwerbsleben, sondern auch die gerechte Verteilung unbezahlter und be-
zahlter Arbeit.

Stattdessen wurde die ungleiche Teilhabe von Frauen und Männern am Arbeits-
markt weiter verschärft. Durch die Hartz-I bis III-Gesetzgebung wurde ein staat-
lich subventionierter Niedriglohnsektor zur vermeintlichen Lösung der Arbeits-
marktkrise gezielt ausgeweitet. Die so genannten Mini- und Midi-Jobs sind
keine Existenz sichernden Beschäftigungsverhältnisse. Sie eröffnen keinen aus-
reichenden Anspruch auf soziale Sicherungsleistungen. Sie werden vor allem
von Frauen ausgeübt. Deshalb sind es vor allem auch Frauen, die durch diese Art
der Beschäftigung in eine Abhängigkeits- und Armutsspirale gedrängt werden.

Im „Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleis-
tungen am Arbeitsmarkt“ (Bundestagsdrucksache 16/505) wird die „Gefahr“
dokumentiert, „dass ein größerer Teil der Frauen durch diese zunehmend als ein-
zige Beschäftigungsalternative infrage kommende Tätigkeit unfreiwillig auf
eine ‚Hausfrauenrolle’ reduziert (…) und die bisherige geschlechterdifferen-
zierte Segmentation des Arbeitsmarktes weiter forciert“ wird. Dieser Gefahr
muss dringend entgegengewirkt werden. Gleiches gilt für die „Gefahr“, dass
„Midi-Jobs das Armutsrisiko im Alter insbesondere von Frauen erhöhen (…)
und das tradierte Geschlechterverhältnis auch bei höher qualifizierten Frauen
verfestigen“. Dies ist besonders brisant angesichts dessen, dass Hinweise darauf
vorliegen, dass Mini- und Midi-Jobs „andere Beschäftigungsverhältnisse inner-
betrieblich verdrängt haben“ und „mit den Mini-Jobs für Arbeitslose keine
Brücke in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entstanden“ ist. Durch
Einkommenseinbußen sinken die Rentenansprüche von Frauen.

Mit den sog. Hartz-Gesetzen wurde ein Geschlechtermodell zementiert, das
Männer als „Ernährer“ und Frauen als „Dazuverdienerinnen“ betrachtet. Dieses
Modell ist ein kulturelles und sozialpolitisches Konstrukt aus dem 19. Jahrhun-
dert, das weder den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist noch
dem im Grundgesetz verankerten Gebot, die Gleichberechtigung von Männern
und Frauen aktiv zu fördern, gerecht wird.

Selbsterklärte Zielsetzung des Bundes ist es, die Gleichstellung von Frauen und

Männern als durchgängiges Prinzip in der Arbeitsförderung zu verfolgen. Die-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/833

ses Ziel ist bei den Hartz-Reformen I bis III auch bezüglich der Steuerung der
Bundesagentur für Arbeit nicht umgesetzt worden. Spezifische Ziele zum
Gender Mainstreaming sind in den Zielvereinbarungen zwischen Agentur und
Regionaldirektion nicht enthalten, „weder externe zur Gleichstellung auf dem
Arbeitsmarkt, noch interne für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bun-
desagentur“ (Bundestagsdrucksache 16/505).

Durch die Hartz-IV-Gesetzgebung werden Frauen über die Anrechnung des
Partnereinkommens im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft wieder verstärkt in
eine finanzielle Abhängigkeit ihrer Partner gedrängt. Da durch diese Regelung
nachweislich überwiegend Frauen ihre Individualansprüche verlieren, ist sie in
höchstem Maße diskriminierend. Die Frauen verlieren jedoch nicht nur An-
sprüche auf finanzielle Leistungen und eine eigenständige Existenzgrundlage.
Sie verlieren darüber hinaus ihre individuellen Anwartschaften auf Rentenver-
sicherung. Als Nichtleistungsempfängerinnen haben sie keinen Rechtsanspruch
auf Beratung, Vermittlung und Weiterbildung durch die Agentur für Arbeit und
erhalten diese nur in Ausnahmefällen.

Die Hartz-Gesetzgebung steht auch im Widerspruch zur politischen Orientie-
rung der Europäischen Kommission. Diese fordert die Mitgliedstaaten auf,
durch eigene Maßnahmen und Aktivitäten zur Überwindung geschlechtsspezi-
fischer Stereotype auf dem Arbeitsmarkt beizutragen, sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung von Frauen zu fördern, das geschlechtsspezifische
Lohngefälle abzubauen und Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Fami-
lie zu erleichtern. In der Bundesrepublik Deutschland wurden stattdessen Ar-
beitsmarktreformen durchgeführt, die die ungleiche Teilhabe von Männern und
Frauen am Erwerbsleben verschärft haben. Anstatt ein Gleichstellungsgesetz für
die Privatwirtschaft umzusetzen, wie es die ehemalige Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Christine Bergmann in der 14. Legis-
laturperiode geplant hatte, wurde die freiwillige „Vereinbarung zwischen der
Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur För-
derung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“
vom 21. Juli 2001 geschlossen, die bisher zu keinen nennenswerten Ergebnissen
geführt hat.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Maßnahmen zu ergreifen und gesetzliche Regelungen zu schaffen, die tatsäch-
liche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Berei-
chen systematisch fördern und die der geschlechtsspezifischen Segregation des
Arbeitsmarktes entgegenwirken. Das bedeutet u. a.:

– ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz einzuführen und damit die EU-
Gleichbehandlungsrichtlinie (Änderungsrichtlinie 2002/73/EG zur Richtlinie
76/207/EWG) unverzüglich umzusetzen;

– verbindliche Verfahrensvorschriften zur Umsetzung des Artikels 141 des
EG-Vertrages zu veranlassen, um den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleich-
wertige Arbeit“ durchzusetzen. Die Überwindung der Entgeltdifferenz
zwischen Frauen und Männern ist auch für den öffentlichen Dienst zu ge-
währleisten;

– umgehend ein Gesetz zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der Pri-
vatwirtschaft einzuführen, das die Privatwirtschaft u. a. verbindlich verpflich-
tet, den Anteil von Frauen in verantwortlichen Positionen und in den Füh-
rungsebenen systematisch zu erhöhen;

– ein Steuerrecht, das in seiner Wirkung keine geschlechterspezifischen Diskri-
minierungen (z. B. Ehegattensplitting) enthält;
– die Einführung eines Existenz sichernden gesetzlichen Mindestlohns;

Drucksache 16/833 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– Mini- bzw. Midi-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsver-
hältnisse zu transformieren, die volle Ansprüche auf soziale Sicherung ge-
währleisten;

– die sozialen Sicherungssysteme in einer Weise umzugestalten, so dass sie
nicht mehr an einer männlichen Erwerbsbiografie ausgerichtet sind, sondern
Menschen mit berufsbiographischen Lücken langfristig eigenständig durch
die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als Indivi-
dualanspruch, die Armut überwindet und gesellschaftliche Teilhabe gewähr-
leistet, absichern;

– das diskriminierende Prinzip der Bedarfsgemeinschaft beim Arbeitslosen-
geld II abzuschaffen und Individualansprüche einzuführen, um insbesondere
Frauen, die mehrheitlich von der Aberkennung eigener Ansprüche betroffen
sind, aus der finanziellen Abhängigkeit von ihren Partnern zu lösen;

– ein Programm zur Förderung der gleichen Teilhabe von Frauen und Männern
an Erwerbsarbeit, das besondere Lebenslagen gezielt berücksichtigt: seien es
z. B. familiäre Verpflichtungen, wie die Betreuung von Kindern und die
Pflege älterer Menschen, ein Migrationshintergrund oder Behinderungen;

– unverzüglich Konzepte für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf zu entwickeln und umzusetzen, die Länder und Kommunen finan-
ziell verpflichten und in die Lage versetzen, eine flächendeckende, qualitativ
hochwertige und gebührenfreie ganztägige Betreuung für alle Kinder und
Jugendlichen von 0 bis 14 Jahren anzubieten bzw. diese aufzubauen. Der
Rechtsanspruch auf eine ganztägige Betreuung für jedes Kind ist auf Bundes-
ebene festzuschreiben;

– Gender Mainstreaming in der Gesetzgebung konsequent umzusetzen und bei
allen zukünftigen Gesetzesvorhaben eine geschlechterdifferenzierte Folgen-
abschätzung durchzuführen, um mögliche negative Auswirkungen auf die
Gleichstellung von Frauen und Männern von vornherein verhindern zu kön-
nen.

Berlin, den 8. März 2006

Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Diana Golze
Inge Höger-Neuling
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Ulla Lötzer
Kornelia Möller
Dr. Ilja Seifert
Jörn Wunderlich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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