BT-Drucksache 16/819

Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen

Vom 7. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/819
16. Wahlperiode 07. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Renate Künast, Fritz Kuhn
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben – US-Atomwaffen
aus Deutschland und Europa vollständig abziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Taktische oder substrategische Atomwaffen unterliegen bisher keiner über-
prüfbaren Abrüstungs- oder Rüstungskontrollverpflichtung. Ihre weitere Re-
duzierung und Eliminierung ist insbesondere vor dem Hintergrund der Ge-
fahr, dass diese, zum Teil überalterten Waffen durch Diebstahl in falsche
Hände gelangen könnten, von eminenter Bedeutung.

Der Deutsche Bundestag (Bundestagsdrucksache 15/5254 vom 13. April
2005) hat die Bundesregierung dazu aufgefordert „sich für die Wiederbele-
bung der amerikanisch-russischen Abrüstung bei substrategischen und takti-
schen Kernwaffen einzusetzen, um diese erhebliche Lücke im nuklearen Ab-
rüstungsprozess zu schließen. Vor allem die taktischen Kernwaffen sollten in
transparenter und nachvollziehbarer Weise auf beiden Seiten reduziert und
demontiert werden.“ Der Deutsche Bundestag tritt weiterhin für eine rasche,
überprüfbare und unumkehrbare Abrüstung der taktischen Atomwaffen und
die Ergreifung und Unterstützung diesbezüglicher Initiativen ein.

2. Ende 1991, kurz vor der Auflösung der Sowjetunion, kündigten die damali-
gen Präsidenten George Bush und Michail Gorbatschow wechselseitig ein-
seitige Schritte zur substanziellen Abrüstung ihrer taktischen Atomwaffen
an. Diese Absicht wurde vom russischen Präsidenten Boris Jelzin 1992 be-
kräftigt. Der Deutsche Bundestag begrüßt diese vor 15 Jahren beschlossenen
Beiträge zur nuklearen Abrüstung.

Die Umsetzung und Unumkehrbarkeit dieser rechtlich unverbindlichen Er-
klärungen ist nicht verifizierbar. Die USA haben nach eigenen Angaben ihre
Bestände an substrategischen Atomwaffen seit 1989 um mehr als 90 Prozent
und die Zahl der auf dem NATO-Gebiet vorgesehenen Lagerstätten um

80 Prozent reduziert. Im Rahmen der Umsetzung der Presidental Nuclear
Initiatives (PNI) sind weltweit angeblich mehr als 3 000 taktische US-Atom-
waffensprengköpfe zurückgezogen und vernichtet worden. Nach Angaben
der NATO, wurde diese Reduzierung in Europa 1993 abgeschlossen. Derzeit
haben die USA vermutlich 1 100 taktische Atomwaffen im aktiven Bestand.
Etwa 480 dieser Atomwaffen werden in Europa, davon 20 in Büchel und 130
in Ramstein, vermutet.

Drucksache 16/819 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die Zahlen über den Bestand und die Reduzierung der russischen taktischen
Atomwaffen schwanken erheblich. Russland hat alle taktischen Atomwaffen,
die außerhalb seines Staatsgebietes gelagert waren, zurückgezogen. Experten
gehen davon aus, dass es in Russland von den ehemals bis zu 21 000 Atom-
sprengköpfen noch zwischen 3 000 und 8 000 taktische Atomsprengköpfe
gibt. Von russischer Seite wurde 2004 angekündigt, dass in Reaktion auf die
amerikanischen Pläne zum Bau von Mini-Nukes nicht alle taktischen Atom-
waffen wie beabsichtigt zerstört, sondern nur eingelagert würden. Die Siche-
rung und die Sicherheit der russischen Atomwaffen und Lagerstätten gilt als
eine der größten Sorgen der internationalen Staatengemeinschaft.

3. Die 1997 von den USA und Russland angekündigte Absicht, die Abrüstung
der substrategischen Atomwaffen und vertrauensbildende, die Transparenz
erhöhende Maßnahmen zum Gegenstand von START III Verhandlungen zu
machen, wurde Ende 2000 fallen gelassen. Die Vertragsstaaten des NVV ha-
ben sich auf der Überprüfungskonferenz 2000 zu 13 Schritten zur Abrüstung
verpflichtet. Das bisherige Ergebnis ist enttäuschend und ein Grund für die
gegenwärtige Krise der nuklearen Abrüstung und Nichtweiterverbreitung.
Der Deutsche Bundestag dringt darauf, die Umsetzung dieser Schritte mit
aller Kraft und mit neuen Initiativen fortzusetzen. Dies gilt auch für die wei-
tere Reduzierung der in Schritt 9 genannten nichtstrategischen Atomwaffen
als wesentlicher Bestandteil des nuklearen Abrüstungsprozesses und die in
Schritt 11 gemachte Zusicherung, die allgemeine und vollständige Abrüstung
unter wirksame internationale Kontrolle zu stellen.

4. Der Deutsche Bundestag dankt der Bundesregierung für ihre in der Vergan-
genheit gemachten Vorschläge zur kontrollierten Eliminierung taktischer Nu-
klearwaffen und die wertvollen Beiträge, um die 7. Überprüfungskonferenz
zum NVV vor einem Scheitern zu bewahren. Wir begrüßen und unterstützen,
dass die Bundesregierung im Jahr 2005 ihre Bereitschaft erklärt hat, einen
Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland zu befürworten. Die diesbezüg-
lichen Konsultationen mit den Bündnispartnern müssen fortgesetzt werden.
Der Deutsche Bundestag begrüßt und unterstützt die Entscheidung der Bun-
desregierung, keine neuen nuklearwaffenfähigen Trägersysteme zu beschaf-
fen und damit die technische-nukleare Teilhabe zu beenden. Die Jagdbom-
ber-Geschwader 31 und 33 werden 2007 bis 2010 bzw. 2012 bis 2015 mit den
mehrrollenfähigen Eurofighter ausgestattet. Es ist nicht geplant, den Euro-
fighter für einen Einsatz mit Nuklearwaffen zu befähigen. Der Deutsche Bun-
destag sieht in einem schnellstmöglichen Ausstieg der Bundeswehr aus der
nuklearen Teilhabe ein international wichtiges Zeichen und eine Stärkung des
Abrüstungs- und Nichtweiterverbreitungsprozesses.

5. Alle NATO-Staaten, in denen US-Atomwaffen gelagert sind, haben im Okto-
ber 2004 der Resolution der UN-Generalversammlung zugestimmt, die eine
weitere Reduzierung der nichtstrategischen Atomwaffen fordert. Staaten wie
Kanada und Griechenland haben sich in den vergangenen Jahren aus der
technischen-nuklearen Teilhabe der NATO zurückgezogen. Großbritannien
hat die Jagdbomberflotte von der Nuklearrolle befreit. Die NATO hat mehr-
fach bekräftigt, in keinem der Beitrittsländer Atomwaffen stationieren zu
wollen. Der Deutsche Bundestag begrüßt den Beschluss des belgischen
Senats vom 21. April 2005 für einen „schrittweisen Rückzug der amerikani-
schen taktischen Atomwaffen aus Europa“ und den Vorschlag „im NATO-
Russland-Rat Verhandlungen über die Reduzierung und Vernichtung der
amerikanischen taktischen Atomwaffen in Europa und der russischen takti-
schen Atomwaffen aufzunehmen.“ Er unterstützt das Ziel, dass diese Schritte
zu einer atomwaffenfreien Zone aller Nichtkernwaffenstaaten in Europa füh-
ren müssen. Der frühere britische Außenminister, Robin Cook, und Robert

McNamara, früherer US-Verteidigungsminister, appellierten nach dem
Scheitern der NVV-Konferenz am 23. Juni 2005 in der Financial Times „Jetzt

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/819

ist es an der Zeit für die Verantwortlichen in der NATO, den Weg für ein Ab-
kommen mit Russland über die Erfassung und nachprüfbare Vernichtung tak-
tischer Atomwaffen zu ebnen, indem sie die in Europa verbliebenen Waffen
dieses Typs abziehen.“

6. Die Zukunft der taktischen Atomwaffen wird auch in den USA offen dis-
kutiert. Der „Report of the Defense Science Board Task Force on Future Stra-
tegic Strike Forces“ (Februar 2004) empfiehlt dem US-Verteidigungsminis-
terium „OSD [Office of the Secretary of Defense] should consider elimina-
ting the nuclear role for Tomahawk cruise missiles and for forward-based,
tactical, dual-capable aircraft. There is no obvious military need for these sys-
tems, and eliminating the nuclear role would free resources that could be used
to fund strategic strike programs of higher priority. To a great extent, their
continuation is a policy decision.“ Nach einem Bericht des US-Außenminis-
teriums vom 10. Februar 2005 „the United States can reduce the number of
deployed nuclear warheads, and can further reduce non-strategic warheads to
achieve President Bush’s vision of the smallest stockpile consistent with na-
tional security“. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat im Oktober
2005 angekündigt, die Entscheidung über einen Abzug der US-Atomwaffen
Deutschland und der NATO zu überlassen. Auch der Kongress hat im Rah-
men der Haushaltsberatungen für das Jahr 2006 sein Interesse an dem Thema
artikuliert. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Bereitschaft der US-Regie-
rung, die taktischen Atomwaffen zur Disposition zu stellen.

7. Der schleppende Prozess der nuklearen Abrüstung, Gerüchte über die Sta-
tionierung oder Verlagerung von taktischen Atomwaffen in Europa oder
deren Einsatz im Zusammenhang mit nuklearen „Präventivschlägen“ haben
in der Öffentlichkeit immer wieder für Unruhe gesorgt. Initiativen wie die der
„Mayors for Peace“ plädieren für die „Aufnahme von Verhandlungen, die zu
einer umfassenden Abschaffung und Zerstörung von Atomwaffen führen.
Ebenso fordern wir die internationale Kontrolle von atomwaffenfähigen
Materialien, um einen heimlichen Bau von Atombomben zu verhindern“.
Mehr als 1 150 Kommunen, darunter mehr als 180 deutsche Städte und Ge-
meinden, haben sich bislang dem Appell der „Mayors for Peace“ angeschlos-
sen. Sie sind Ausdruck dafür, dass das Thema viele Menschen, auch auf kom-
munaler und Landesebene bewegt. Der Deutsche Bundestag begrüßt die
Entscheidung des Landtags in Rheinland-Pfalz, einen Abzug der US-Atom-
waffen zu unterstützen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. an der Stärkung des Nichtweiterverbreitungsvertags, einschließlich der
Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung, weiterhin aktiv mit-
zuwirken;

2. weiterhin mit Nachdruck für die Einrichtung eines Kernwaffenregisters, eine
Berichtspflicht im Rahmen der Überprüfungskonferenzen, eine Offenlegung
der Plutoniumbestände und sonstigen vertrauensbildenden und die Trans-
parenz erhöhenden Maßnahmen im nationalen wie internationalen Bereich
einzutreten;

3. weiterhin Vorschläge zu unterbreiten bzw. zu unterstützen, die eine vollstän-
dige Reduzierung und Vernichtung aller substrategischen Atomwaffen im
Rahmen überprüfbarer Abrüstungsvereinbarungen zum Ziel haben;

4. weiterhin und verstärkt an bi- und multilateralen Aktivitäten mitzuwirken,
die die Sicherung und Vernichtung von nuklearen Beständen, insbesondere in
Russland, zum Ziel haben;

Drucksache 16/819 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
5. bilateral und im Rahmen der EU und NATO darauf hin zu wirken,

● dass in Umsetzung der vielfältigen Beschlüsse und Erklärungen die Rolle
und die Bedeutung von Atomwaffen weiter gesenkt werden,

● die Nuklear-Strategie der NATO auch in den Punkten nukleare Nichtan-
griffsgarantien gegen Nicht-Nuklearwaffenstaaten und Verzicht auf den
Ersteinsatz von Atomwaffen angepasst wird,

● dass auf die Weiterentwicklung von taktischen Atomwaffen und Mini-
Nukes verzichtet wird,

● dass die Atomwaffenbestände auch im Bündnis weiter reduziert werden;

6. weiterhin bilateral und gegenüber den Partnern in der EU und NATO zu be-
kräftigen, dass die Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der
veränderten Weltlage und der Krise der nuklearen Nichtweiterverbreitung
und Abrüstung bereit und Willens ist,

● auf die Mitwirkung der Bundeswehr an der technisch-nuklearen Zusam-
menarbeit in Friedens- wie in Kriegszeiten zu verzichten

● sich keine neuen nuklearfähigen Trägersysteme zu beschaffen

● die gegenwärtigen Jagdbomber-Verbände schnellstmöglich von der Nuk-
learrolle zu befreien

● einen weiteren und vollständigen Abbau der US-amerikanischen Atom-
waffen in Europa mit Nachdruck zu fordern und zu unterstützen;

7. Initiativen für die Einrichtung einer atomwaffenfreien Zone aller Nicht-Nuk-
learwaffenstaaten in Europa zu unterstützen;

8. den Deutschen Bundestag über die Umsetzung dieser Maßnahmen fortlau-
fend und in geeigneter Weise zu unterrichten.

Berlin, den 7. März 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.