BT-Drucksache 16/8186

Europäische Nachbarschaftspolitik zur Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus nutzen

Vom 20. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8186
16. Wahlperiode 20. 02. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger,
Dr. Barbara Höll, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Bodo Ramelow, Paul Schäfer
(Köln), Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Europäische Nachbarschaftspolitik zur Förderung von Frieden und Stabilität im
Südkaukasus nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Südkaukasusregion hat den Transformationsprozess nach dem Ende der
UdSSR bis heute nicht bewältigt. Die drei unabhängigen südkaukasischen
Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan leiden in unterschied-
lichem Ausmaß unter innenpolitischer Instabilität, Korruption, wirtschaftlicher
Not, Flüchtlingselend, tiefen Nationalitätengegensätzen und zwischenstaat-
lichen Konflikten. Auf ökonomischem Gebiet erzielen Aserbaidschan und Ge-
orgien mit der Förderung, Durchleitung und dem Verkauf von Erdöl und Erdgas
große Gewinne. Armenien bemüht sich, als Wissenschaftsstandort an Profil zu
gewinnen. Bislang profitieren lediglich ausländische Großkonzerne und die je-
weiligen Eliten von der Wirtschaftsentwicklung, während die Lebensbedingun-
gen der Bevölkerungsmehrheit oftmals durch Arbeitslosigkeit und Armut ge-
prägt sind. Die große soziale Kluft erhöht die politische Instabilität, die durch
die geostrategische Einflussnahme Russlands, der USA und der Europäischen
Union (EU) maßgeblich beeinflusst wird. Die Forderungen der EU nach wirt-
schaftlichem Umbau im neoliberalen Sinn haben in allen drei südkaukasischen
Republiken die bestehende soziale Spaltung weiter vertieft.

Derzeit stoßen im Kaukasus zwei gegensätzliche Achsen machtpolitischer und
wirtschaftlicher Interessen aufeinander. Während sich Armenien in einer Nord-
Süd-Achse an Russland und den Iran anlehnt, haben sich Georgien und Aser-
baidschan den globalen strategischen Ansprüchen der USA untergeordnet, sind
eine intensive Wirtschaftskooperation mit der Türkei eingegangen und Teil einer
West-Ost-Achse. Die Entwicklung und Festigkeit der beiden Achsen sind aller-
dings nicht vorbestimmt, da ihre Bildung pragmatischen Einflüssen unterliegt.
Der Südkaukasus ist als wichtige Transitregion für kaspische und zentralasia-
tische Erdöl- und Erdgaslieferungen vor allem für die USA, aber in wachsendem
Maße auch für die EU von strategischem Interesse. Die USA betreiben seit dem
Zerfall der Sowjetunion eine offensive Zurückdrängung des russischen Einflus-
ses in der Region, um die Kontrolle über die Rohstoffressourcen und Transport-
routen zu erlangen. Die zunehmende Einmischung der USA destabilisiert die
Südgrenze Russlands und erhöht die Gefahr, dass der Südkaukasusraum zum
Austragungsfeld einer geopolitischen Konfrontation zwischen beiden Groß-
mächten wird.

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Die EU ist in den letzten Jahren verstärkt als Akteurin in der Südkaukasus-
region aufgetreten. Seit dem Jahr 2004 sind die drei Südkaukasusrepubliken im
Rahmen von Aktionsplänen in die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)
eingebunden. Durch die falsche Grundausrichtung der ENP trägt die EU zu
einer Zuspitzung der Interessenauseinandersetzungen in der Region bei. Die
ENP zielt vorrangig darauf ab, die binneneuropäische Freihandelszone auf den
Südkaukasusraum auszudehnen. Die von der EU faktisch erzwungene Öffnung
der nationalen Märkte hat die soziale Lage der Bevölkerung in Armenien, Aser-
baidschan und Georgien jedoch nicht zum Besseren gewendet, sondern spürbar
verschlechtert. In Georgien lebt inzwischen über die Hälfte der Bevölkerung
unterhalb der Armutsgrenze. Der von der EU konditionierte Standortwett-
bewerb verhindert den Aufbau armutsfester Sozialstandards. Die Südkaukasus-
region läuft somit Gefahr, auf die geostrategische Rolle einer reinen Nach-
schubbasis für fossile Energieressourcen zugunsten Europas reduziert zu wer-
den.

Die Ausrichtung der ENP ist daher grundlegend zu verändern. Die Aufgabe
einer veränderten Nachbarschaftspolitik muss darin bestehen, die eigenständige
Entwicklung und den Ausbau sozialer Standards in den Südkaukasusstaaten
nachhaltig zu unterstützen. Dies bedeutet: Nicht mehr Liberalisierung, sondern
mehr gesellschaftliches Eigentum und mehr demokratische Kontrolle über die
Verwendung der Ressourcen und Gewinne sind notwendig.

Die EU muss den Südkaukasusstaaten Exporterleichterungen für ihre überwie-
gend agrarischen Produkte gewähren und gezielte entwicklungspolitische Maß-
nahmen vereinbaren. Dazu gehört der Aufbau bzw. die Wiederinstandsetzung
einer Agrarprodukte verarbeitenden Industrie und einer diversifizierten Kon-
sum- und Investitionsgüterindustrie. Als unmittelbar angrenzender Nachbar-
schaftsraum der erweiterten Europäischen Union könnten die Staaten der Süd-
kaukasusregion eine wichtige Brückenfunktion für den politischen Dialog und
die interkontinentale Zusammenarbeit wahrnehmen, wenn die Region nicht
mehr der fremdbestimmten Einflussnahme durch äußere Großmächte unterwor-
fen ist.

Die im EU-Reformvertrag von Lissabon 2007 bestätigte Militarisierung der EU-
Außenbeziehungen steht im Widerspruch zu dem Ziel, Frieden und Stabilität in
anderen Regionen zu fördern. Eine Ausdehnung des NATO-Einflusses in die
Südkaukasusstaaten berührt daher auch unterhalb einer formellen Beitritts-
schwelle die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands. Die Errichtung von US-
amerikanischen Militärbasen oder NATO-Stützpunkten in einzelnen Südkauka-
susstaaten würde die prekäre Stabilitätslage in der Region zusätzlich verschär-
fen. Die Förderung von Frieden und Stabilität in der Südkaukasusregion ver-
langt eine umfassende Abrüstung auf allen Seiten, die humanitäre und zivilpoli-
tische Lösung der Regionalkonflikte sowie nachhaltige Entwicklungschancen in
den Südkaukasusstaaten.

Die aus der machtpolitischen Konfrontation zwischen Russland und den USA/
der EU resultierende, regionale Blockbildung erschwert die friedliche Bei-
legung der Nationalitätenkonflikte. Anfang der 90er Jahre haben gewaltsame
Staatsgründungsbestrebungen entlang ethnischer Grenzen im Südkaukasus zu
hunderttausenden Kriegsflüchtlingen und Binnenvertriebenen geführt. Im von
Georgien abtrünnigen Abchasien wird die Rückkehr von über 300 000 Georgie-
rinnen und Georgiern in ihre abchasischen Heimatorte verhindert. Die anhal-
tende Besetzung von ca. 20 Prozent des Staatsgebiets der Republik Aserbaid-
schan durch die Nachbarrepublik Armenien und die separatistischen Truppen
der international nicht anerkannten „Republik Bergkarabach“ hat über eine Mil-
lion aserbaidschanischer Zivilistinnen und Zivilisten zu Flüchtlingen und Bin-
nenvertriebenen im eigenen Land gemacht. Aserbaidschan hat seither erheb-
liche Anstrengungen unternommen, um hunderttausende Binnenflüchtlinge in

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festen Wohnunterkünften unterzubringen. Diese Anstrengungen müssen inten-
siviert werden, um auch den übrigen, unter miserablen Bedingungen in primiti-
ven Zeltlagern lebenden Flüchtlingen eine Perspektive zu geben. Das Recht al-
ler aserbaidschanischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Herkunftsregionen
muss davon unberührt bleiben. Armenien musste ebenfalls unter enormen
Schwierigkeiten über 350 000 Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Die massive Ab-
wanderung gut ausgebildeter Fachkräfte erschwert den Wiederaufbau des noch
immer unter den Spätfolgen des verheerenden Erdbebens von 1988 leidenden
Landes zusätzlich.

Die Lösung der „eingefrorenen“ Konflikte verlangt von allen Beteiligten die
Achtung der international anerkannten Staatsgrenzen. Nur gewaltfreie Lösun-
gen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien und ihrer legitimen, völkerrecht-
lich begründeten Interessen kann zu einem dauerhaften und gerechten Frieden
führen. Hierfür müssen die Vermittlungsanstrengungen intensiviert und unter
dem Dach der OSZE vereint werden. Eine unilaterale Anerkennung der beste-
henden territorialen Sezessionsgebilde würde dagegen gefährliche Präzedenz-
fälle für weitere ethnisch-separatistische Bestrebungen, insbesondere im an-
grenzenden Nordkaukasus und weiteren Regionen Russlands, im Irak, auf dem
Balkan und anderswo schaffen.

Trotz der deklarierten Schwerpunktsetzung hat die Bundesregierung gerade
während ihrer EU-Ratspräsidentschaft nur unzureichend auf die Förderung von
Frieden und Stabilität im Südkaukasus hingewirkt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. zur Förderung von Frieden und Stabilität im Südkaukasus auf eine grund-
legende Veränderung der EU-Nachbarschaftspolitik hinzuwirken und Maß-
nahmen zum Rüstungsabbau und zur Entmilitarisierung zu unterstützen:

a) sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, die ENP dahingehend zu verän-
dern, dass die EU-Entwicklungsprogramme nicht von einer Adaptierung
des neoliberalen Wirtschaftsmodells abhängig gemacht werden und nicht
die Souveränitätsrechte der Empfängerländer hinsichtlich der freien
Wahl der Wirtschafts- und Eigentumsordnung einschränken, um den
Aufbau eines öffentlichen Sektors im Bereich der Daseinsvorsorge nicht
auszuschließen; Prioritäten einer veränderten Nachbarschaftspolitik im
Südkaukasus müssen sein – Armutsbekämpfung, sozialer Ausgleich, fai-
rer Handel, Stärkung der demokratischen Entwicklung und der sozialen
Demokratie sowie der demokratischen Mitspracherechte in der Wirt-
schaft;

b) sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der EU-Binnenmarkt auch
stärker für andere Exportprodukte als Erdöl und Erdgas – d. h. vor allem
für agrarische und industrielle Produkte – aus dieser Region geöffnet
wird;

c) dazu beizutragen, die regionale Blockbildung schrittweise aufzulösen und
die Vernetzung aller Staaten der Region zu einem gemeinsamen südkau-
kasischen Wirtschaftsraum mit gleichberechtigten Partnern zu fördern; die
bisher eher bescheidene deutsche Kaukasus-Initiative in diesem Sinn wei-
terzuentwickeln;

d) sich auf EU-Ebene für eine bedarfsgerechte Anpassung der im Nationalen
Richtprogramm 2007 bis 2010 zur Armutsbekämpfung in Georgien vor-
gesehenen EU-Finanzmittel einzusetzen;

e) den weiteren Export von Rüstungsgütern der Ausfuhrliste Teil 1 A und
von Kriegswaffen der Kriegswaffenliste B in die Südkaukasusstaaten
nicht zu genehmigen und die Entsendung von EU-Truppen abzulehnen;

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im Rahmen der OSZE eine umfassende Abrüstungsinitiative für die
Region zu erarbeiten, die die Vereinbarung einschließt, die eigenen Terri-
torien nicht für Angriffe von Drittmächten auf die Nachbarländer zur Ver-
fügung zu stellen, wie dies die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres
jüngst vereinbart haben;

f) sich in den Verhandlungen zur Lösung der Regionalkonflikte im Südkau-
kasus für das uneingeschränkte Rückkehrrecht aller Kriegsflüchtlinge und
Binnenvertriebenen einzusetzen;

g) sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass die Südkaukasusstaaten im Be-
darfsfall finanzielle und personelle Unterstützung bei der medizinischen
Langzeitbetreuung kriegstraumatisierter Flüchtlinge erhalten;

2. bei den Bemühungen um die Beilegung der „frozen conflicts“ (Abchasien,
Südossetien und Bergkarabach) prinzipiell von der Achtung der international
anerkannten Staatsgrenzen auszugehen:

a) nur gewaltfreie Lösungen unter Einbeziehung aller Konfliktparteien anzu-
streben;

b) sich bei den Bemühungen um eine Beilegung der Regionalkonflikte in
Abchasien und Südossetien für die Erhaltung der vollen territorialen
Integrität Georgiens und für die kulturelle und politische Autonomie der
abchasischen und südossetischen Minderheiten innerhalb der völkerrecht-
lich anerkannten Staatsgrenzen Georgiens auszusprechen;

c) die guten Beziehungen Deutschlands zu Tbilissi und Moskau intensiv zu
nutzen, um zur Entspannung der georgisch-russischen Beziehungen bei-
zutragen;

d) sich in den Verhandlungen der OSZE-Minsk-Gruppe für die Wiederher-
stellung der vollen territorialen Integrität der Republik Aserbaidschan und
für die kulturelle und politische Autonomie der armenischen Minderheit
innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Staatsgrenzen Aserbaidschans
auszusprechen, als alternative Verhandlungsoption einvernehmliche, ge-
genseitige Gebietsaustausche (Goble-Plan) nicht auszuschließen; zur Ver-
besserung der Vermittlungschancen im Berg-Karabach-Konflikt aktiv in
der OSZE-Minsk-Gruppe mitzuarbeiten;

e) sich mit Nachdruck für die vollständige Erfüllung der Resolutionen des
UN-Sicherheitsrats Nummer 822, 853, 874 und 884 aus dem Jahr 1993
durch Armenien und Aserbaidschan einzusetzen;

3. eine Politik der kleinen Schritte und menschlichen Erleichterungen zur Kon-
fliktlösung zu nutzen und mit dazu beizutragen, die gestörten zwischenstaat-
lichen Beziehungen zu verbessern:

a) die abgetrennten Gebiete für Besuche der ehemaligen Bewohnerinnen und
Bewohner zu öffnen und familiäre Kontakte nicht zu behindern;

b) im Rahmen der EU und der OSZE darauf hinzuwirken, dass den Regie-
rungen der Republiken Armenien und Aserbaidschan als vertrauensbil-
dende Maßnahme der Vorschlag einer Vereinbarung über den Erhalt
historischer armenischer und aserbaidschanischer Kulturgüter und Denk-
mäler auf dem Territorium des jeweiligen Nachbarn unterbreitet wird;

c) die Einberufung von armenisch-aserbaidschanischen Versöhnungskom-
missionen vorzuschlagen, um die gesellschaftliche Verarbeitung des indi-
viduell erlebten Konfliktgeschehens zu unterstützen;

d) auf Ebene der deutsch-armenischen Beziehungen den Vorschlag zu unter-
breiten, den beim Erdbeben 1988 stark beschädigten und weiterhin erdbe-
bengefährdeten Atomreaktor Metzamor schnellstmöglich abzuschalten

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und sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der Republik Armenien
die diesbezüglich notwendigen finanziellen und technologischen Mittel
zur Kompensation und Diversifizierung ihrer Stromerzeugungsquellen
gewährt werden;

e) die Regierungen der Türkei und Armeniens mit Nachdruck zu ermutigen,
ihre Beziehungen zu normalisieren und zu diesem Zweck die symbolisch
wichtige Eröffnung eines ersten regulären Grenzübergangs zwischen bei-
den Ländern vorzuschlagen.

Berlin, den 19. Februar 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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