BT-Drucksache 16/8144

Militärischer Kurswechsel in Afghanistan - Fragen zu den geplanten Änderungen des Beitrags der Bundeswehr

Vom 15. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8144
16. Wahlperiode 15. 02. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin
Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Militärischer Kurswechsel in Afghanistan – Fragen zu den geplanten Änderungen
des Beitrags der Bundeswehr

Deutschland hat im vergangenen Jahr seinen militärischen Beitrag um 500 Sol-
datinnen und Soldaten erhöht und TORNADO-Aufklärungsflugzeuge für den
landesweiten ISAF-Einsatz in Afghanistan bereitgestellt. In den vergangenen
Tagen und Wochen verdichten sich Berichte, dass die Bundesregierung plant, das
deutsche militärische Engagement in Afghanistan zu ändern. Neben der Über-
nahme der Quick Reaction Force sind weitere Änderungen im Gespräch. Nach
Presseberichten gibt es innerhalb der Regierung Überlegungen, den deutschen
Verantwortungsbereich regional weiter auszuweiten, nach flexibleren Lösungen
für den Einsatz deutscher Soldaten im Süden Afghanistans zu suchen, den
Personalumfang um bis zu 1 000 Kräfte zu erhöhen und die Mandatslaufzeit auf
18 oder 24 Monate zu verlängern. Auch eine Erhöhung der Kampfausstattung
der Bundeswehr ist im Gespräch.

Die NATO hat Deutschland offiziell um die Übernahme der Quick Reaction
Force (QRF) gebeten, die den ISAF-Einsatz im Verantwortungsbereich der Bun-
deswehr in der Nordregion Afghanistans absichert. Die bislang von den Norwe-
gern gestellte Einheit ist eine Einsatz- und Unterstützungsreserve, die in Notfäl-
len schnell verfügbar ist und der Unterstützung der 4 000 ISAF-Soldaten (davon
bis zu 3 500 Bundeswehrangehörige) im Norden dient. Die Norweger haben
frühzeitig angekündigt, dass sie ab Sommer dieses Jahres die Verantwortung für
die QRF nach zwei Jahren abgeben wollen. Bis Anfang Februar hatte sich keine
Nation bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. Der Bundesminister der
Verteidigung Dr. Franz Josef Jung hat auf der Bundespressekonferenz am
6. Februar 2008 angekündigt, dass Deutschland bereit sei, Soldaten und Solda-
tinnen für die „Schnelle Eingreiftruppe“ für den Norden zu stellen. Einen Ein-
satz der deutschen QRF im Süden, der über die vom bisherigen ISAF-Mandat
grundsätzlich zulässige Notfall- und Aufklärungsunterstützung hinausgeht,
lehnte Bundesminister Dr. Franz Josef Jung ab. Nähere Einzelheiten teilte die
Bundesregierung bislang nicht mit.

Die meisten Abgeordneten gehen bislang davon aus, dass die Übernahme der
QRF-Aufgabe mit keinem Kurswechsel in Richtung Kampfeinsätze und keiner
schleichenden Ausweitung oder Neuinterpretation des Einsatzraums und Ein-
satzauftrags einhergeht. Unter diesen Umständen sehen sie die QRF-Aufgabe
vom bestehenden Mandat gedeckt. Gleichwohl gibt es unter den Abgeordneten
und in der Bevölkerung die Befürchtung, dass der deutsche Stabilisierungsein-

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satz mehr und mehr zu einem Kampfeinsatz werden könnte. Stellungnahmen aus
Regierungs- wie Oppositionskreisen haben suggeriert, dass mit der Übernahme
der QRF-Aufgabe die Bundeswehr in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit in
Kampfhandlungen in Afghanistan verwickelt werde. Diese Befürchtungen wur-
den durch öffentliche Stellungnahmen ranghoher Bundeswehroffiziere ver-
stärkt, die eine Ausrüstung mit schwerem Gerät (Kampfpanzer, Panzerhaubitze)
und eine weitere Aufstockung der Bundeswehr ins Gespräch brachten.

Angesichts der vehementen Forderungen von NATO-Verbündeten nach mehr
militärischer Unterstützung für den Süden des Landes, wird erwartet, dass der
Druck auf die Bundesregierung, Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen außer-
halb des bisherigen Einsatzgebietes im Norden einzusetzen, anhält. In der
Öffentlichkeit schließt die Bundesregierung bislang einen Einsatz von Bundes-
wehrsoldaten und -soldatinnen außerhalb des deutschen Verantwortungsberei-
ches im Norden aus. Ohne Änderung des ISAF-Mandats ist ein dauerhafter
Einsatz von Bundeswehreinheiten im Süden Afghanistans nicht möglich. Laut
ISAF-Bundestagsmandat darf die Bundeswehr außerhalb der Regionen Kabul
und Nord nur „für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaß-
nahmen eingesetzt werden, sofern diese Unterstützungsmaßnahmen zur Erfül-
lung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar sind“. Am Rande der Münchner
Sicherheitskonferenz wurde bekannt, dass es innerhalb der Bundesregierung
und der Regierungskoalition Überlegungen gibt, das militärische Engagement
auszubauen und die parlamentarische Beteiligung einzuschränken.

Die Diskussionen um eine Aufstockung, Ausweitung und Flexibilisierung des
deutschen militärischen Engagements verstärken die berechtigte Sorge, dass
die Übernahme der QRF-Aufgabe einen weiteren Schritt in Richtung Kampf-
einsätze bedeutet. Noch ist nicht erkennbar, dass es in Afghanistan, der NATO
und in der internationalen Staatengemeinschaft (trotz erheblicher Truppenauf-
stockung) zu einem erfolgversprechenden Kurswechsel für die Stabilisierung
Afghanistans – einschließlich des pakistanischen Grenzgebietes – gekommen
ist.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was ist der konkrete Inhalt der NATO-Anforderung, und ging diese Anfrage
nur an Deutschland oder auch an andere Nationen?

Hat die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit vergleichbare Anfra-
gen bzw. Anfragen zur Verstärkung der Eingreiftruppen bzw. der robusten
Reservekräfte erhalten, und wenn ja, welche, und wie wurden diese von der
Bundesregierung beantwortet?

2. Handelt es sich bei der NATO-Anfrage um eine Anfrage für einen dauerhaf-
ten oder einen zeitlich befristeten Einsatz, und beabsichtigt die Bundesregie-
rung in ihrer Antwort auf die Anfrage eine zeitliche Befristung zu signalisie-
ren?

Falls der Einsatz zeitlich befristet sein soll, wann ist eine Ablösung bzw. Be-
endigung vorgesehen?

3. Wie bewertet die Bundesregierung die in der Öffentlichkeit verstärkt ge-
äußerte Befürchtung, dass die Übernahme der „Schnellen Eingreiftruppe“ ein
Türöffner für Einsätze im Süden und Osten des Landes sei und sich die Bun-
deswehr mit der Übernahme der QRF regelmäßig auf Unterstützungsleistun-
gen für andere Regionalkommandos einrichten muss?

4. Wie und mit welcher Begründung beabsichtigt die Bundesregierung auf die
Forderungen der USA und Kanada nach einem stärkeren Engagement der
Bundeswehr im Süden Afghanistans zu reagieren?

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5. Schließt die Bundesregierung eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in
Afghanistan, auch die zeitlich begrenzte Übernahme von Spezialaufgaben
im Süden und Osten des Landes, von vornherein aus?

6. Gibt es Überlegungen der Bundesregierung die Personalobergrenze von
derzeit bis zu 3 500 Soldatinnen und Soldaten weiter zu erhöhen?

Wenn ja, welche?

Trifft die in den Medien genannte Zahl von bis zu 1 000 zusätzlichen Solda-
ten und Soldatinnen zu?

Wozu soll die potentielle Erhöhung der Truppenzahl dienen?

7. Gibt es Überlegungen, den Verantwortungsbereich der Bundeswehr über die
bisherige Nordregion hinaus zu erweitern?

Wenn ja, welche?

8. Gibt es Überlegungen nationale Einsatzbeschränkungen weiter zu reduzie-
ren, wenn ja, welche?

9. Inwiefern gibt es in der Bundesregierung Überlegungen, die Bundeswehr
für den Einsatz in Afghanistan mit Kampfpanzern, Haubitzen oder Jagd-
bombern auszustatten?

Welche Erwartungen verknüpft die Bundesregierung damit?

10. Beabsichtigt die Bundesregierung, die Laufzeit des am 13. Oktober 2008
auslaufenden ISAF-Mandats der Bundeswehr auf mehr als 12 Monate aus-
zudehnen und den Termin der Mandatsverlängerung vorzuziehen?

a) Wenn ja, wie begründet die Bundesregierung dies?

b) Wie will die Bundesregierung den Eindruck widerlegen, dass die Verlän-
gerung der Mandatslaufzeit dem Zweck dienen soll, der kontroversen
gesellschaftlichen Debatte um den Afghanistan-Einsatz – insbesondere
im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 – auszuweichen?

11. a) Hält die Bundesregierung das derzeitige Konzept der Nato für Afghanis-
tan für zielführend angesichts der Tatsache, dass mit der ISAF-Auswei-
tung nach Süden und Osten die militärischen Auseinandersetzungen und
Anschläge vor allem in den Regionen Süd und Ost deutlich zugenommen
haben und sich die Sicherheit der Bevölkerung verschlechtert statt ver-
bessert hat?

b) Welche Defizite sieht die Bundesregierung diesbezüglich?

c) Teilt sie die Forderung vieler in und zu Afghanistan arbeitenden Organi-
sationen und Experten nach einem Strategiewechsel, und wie will sie auf
ihre NATO-Partner einwirken, um einen Strategiewechsel in Afghanis-
tan voranzubringen?

12. Welche zusätzlichen Aufgaben ist die Bundesregierung bereit zu überneh-
men bzw. welche zusätzlichen Fähigkeiten und Ressourcen ist sie bereit zur
Verfügung zu stellen, um eine Wende in der Afghanistan-Strategie der
NATO und der Internationalen Gemeinschaft insgesamt glaubwürdig zu
untermauern?

13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, dass Frankreich sein
militärisches Engagement in Südafghanistan verstärken will, und wie be-
wertet die Bundesregierung diese Pläne?

14. Welche konkreten Aufgaben soll eine deutsche QRF übernehmen, und wie
viele und welche Kräfte und Fähigkeiten sollen nach jetzigem Planungs-
stand für die QRF zur Verfügung gestellt werden?

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15. Welche Rolle spielten bisher QRF-Einheiten beim deutschen ISAF-Kontin-
gent seit 2002?

Wieweit verfügen andere Friedensmissionen mit deutscher Beteiligung über
QRF-Fähigkeiten?

16. Sieht die Bundesregierung in der möglichen Übernahme der QRF eine neue
Qualität des deutschen ISAF-Einsatzes, und wenn nein, wie begründet sie
dies?

17. a) Wie oft waren ISAF-Kräfte in der ISAF-Region Nord seit Präsenzbeginn
Anfang 2004 und in anderen Regionen in über Schusswechsel hinaus-
gehende Gefechte verwickelt und damit an Kampfeinsätzen beteiligt?

b) Wie wahrscheinlich sind Gefechtssituationen in der Region Nord ange-
sichts der gegenwärtigen und absehbaren Risiko- und Bedrohungslage in
dieser Region?

c) Inwieweit gibt es in der Region Nord Ansätze einer Aufstandsbewe-
gung?

18. Gehören zu den Aufgaben einer QRF auch Operationen zur offensiven Auf-
stands- und Terrorismusbekämpfung oder kann die Bundesregierung dieses
ausschließen?

19. a) Welchen Stellenwert hat Eskalationsvermeidung im Aufgabenkatalog
und in den Einsatzregeln einer QRF?

b) Inwieweit weichen die Einsatzregeln einer QRF von denen der ISAF-
Kräfte im Norden insgesamt ab?

20. Sind nach Auffassung der Bundesregierung die Aufgaben der QRF vom
ISAF-Mandat gedeckt?

Welche Mandatsgrenzen gelten für die geplante QRF und in welchem Rah-
men kann bzw. soll die deutsche QRF auch an Einsätzen außerhalb der bis-
herigen Mandatsgrenzen teilnehmen?

21. Wie kann die Bundesregierung garantieren, dass die QRF nicht zu einem
Türöffner für eine schleichende Mandatsausweitung wird, wie sie vielfach
befürchtet wird und wie es nach allen Erfahrungen mit solchen Einsätzen
auch immer wieder geschieht?

22. Wer erteilt den QRF-Kräften vor Ort den konkreten Einsatzauftrag?

Für welche Einsatzszenarios sind die Planungen der QRF-Kräfte ausgelegt?

23. Handelt es sich beim Einsatz der QRF-Kräfte um einen Kampfeinsatz, wenn
nein, warum nicht?

24. Verfügt die Bundeswehr nach Auffassung der Bundesregierung über ausrei-
chende personelle und materielle Ressourcen für die Übernahme der QRF,
und wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung, Aussagen wie die des Vor-
sitzenden des Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, sowie des ehemali-
gen Generalinspekteurs der Bundeswehr, Harald Kujat, die Bundeswehr sei
für die Übernahme der QRF nicht ausreichend ausgerüstet?

25. Wie sollen die deutschen QRF-Kräfte ausgestattet werden, für welche Sze-
narien ist welcher Waffeneinsatz vorgesehen?

Sind zusätzliche Beschaffungen notwendig, und wenn ja, welche voraus-
sichtlichen Kosten werden für diese veranschlagt?

26. Wie sollen die für die QRF vorgesehenen Bundeswehrsoldaten ausgebildet
werden, welche Ausbildungsschwerpunkte sollen gesetzt werden, und wo
und in welchem Umfang soll der Einsatz geübt werden?

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27. Wie wird die Durchhaltefähigkeit der QRF-Kräfte eingeschätzt, wann und
wie oft sollen die Truppen ausgetauscht werden?

28. Wie bewertet die Bundesregierung Auftrag, Verlauf und Ergebnis der Ope-
ration „Harakate Yolo II“, welche konkreten Aufgaben hat die von den
Norwegern für das Regionalkommando Nord gestellte QRF dabei über-
nommen, und wie viele Opfer unter den internationalen Streitkräften, den
afghanischen Sicherheitskräften, der Zivilbevölkerung und auf Seiten der
gegnerischen Kräfte waren dabei zu verzeichnen?

29. Wieweit konnte in den Operationsdistrikten von Yolo II inzwischen staat-
liche Sicherheitsstrukturen etabliert bzw. gestärkt werden?

Wieweit sind diese Distrikte (wieder) für UNAMA und Hilfsorganisationen
zugänglich?

Welche Unterstützung leistet dabei die EU-Polizeimission EUPOL?

30. Wie oft und in welchen Einssatzspektren war die norwegische QRF im
Regionalkommando Nord und wie oft, wo und in welchen Einsätzen war die
QRF bisher außerhalb des Regionalkommandos Nord eingesetzt?

Welche konkreten Anforderungen für Unterstützungsleistungen gab es von
Seiten des COM ISAF für andere Regionen, und welche wurden mit wel-
cher Begründung zurückgewiesen?

31. Wie hoch sind die zusätzlichen finanziellen Aufwendungen, die die Bundes-
regierung für die geplante Übernahme der QRF durch die Bundeswehr ver-
anschlagt?

32. Gibt es Hinweise, dass es durch die Bereitstellung bzw. den Einsatz von
deutschen QRF-Kräften zu einer Zunahme des Anschlagsrisikos auf die
Bundeswehr oder in Deutschland kommen kann, und wie bewertet die Bun-
desregierung dieses Risiko?

Was wird getan, um diesem Risiko entgegenzuwirken?

Berlin, den 15. Februar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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