BT-Drucksache 16/7751

Gegen Armut trotz Arbeit - Strategie zur Stärkung geringer Einkommen

Vom 16. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7751
16. Wahlperiode 16. 01. 2008

Antrag
der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt
Bender, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Christine Scheel, Irmingard
Schewe-Gerigk und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gegen Armut trotz Arbeit – Strategie zur Stärkung geringer Einkommen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

„Armut trotz Arbeit“ ist für immer mehr Menschen gesellschaftliche Wirk-
lichkeit. Ein Beleg für diese Entwicklung ist der kontinuierliche Anstieg der
Zahl derjenigen, die staatliche Leistungen beziehen, obwohl sie erwerbstätig
sind. Aktuell bekommen 1,26 Millionen Menschen ergänzendes Arbeitslosen-
geld II (ALG II), darunter 556 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.

Ein weiterer Beleg ist die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Eine Unter-
suchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verzeichnet
einen steten Anstieg der Zahl der abhängig Vollzeitbeschäftigten unterhalb der
Niedriglohnschwelle: 1995 waren es 15,3 Prozent, 2003 schon 18,3 Prozent.
Diese Entwicklung hält ungebrochen an.

Entscheidend für die Bedürftigkeit von Erwerbstätigen ist neben der Höhe des
Erwerbseinkommens und der Frage des Beschäftigungsumfangs auch die
jeweilige familiäre Situation. Alleinerziehende und insbesondere Paare mit
mehreren Kindern sind überdurchschnittlich oft und überdurchschnittlich lange
von Transferzahlungen abhängig. Ursächlich dafür sind höhere Lebens-
haltungskosten, die durch ein einziges Einkommen oder die Kombination von
Vollzeit- und geringfügiger Tätigkeit nicht gedeckt werden können. Um die
Voraussetzungen für eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familien-
leben zu verbessern, ist der qualitative und quantitative Ausbau der Kinder-
betreuungsinfrastruktur erforderlich. Die skandinavischen Länder zeigen: Der
beste Schutz gegen Kinderarmut ist die Berufstätigkeit beider Elternteile.

Darüber hinaus ist aber auch eine Abstimmung anderer Leistungen auf diese
spezielle Problemlage notwendig. Derzeit gibt es keine abgestimmte Strategie,
mit der die zunehmende Verarmung Erwerbstätiger erfolgreich bekämpft und
ihre Abhängigkeit von der Grundsicherung vermieden werden kann.

Auch der von der Bundesregierung geplante Erwerbstätigenzuschuss ist hierfür

ungeeignet. Danach soll mit dem Erwerbstätigenzuschuss ein Parallelsystem
zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) entstehen, das keine ent-
scheidenden Verbesserungen für Geringverdienerinnen und -verdiener mit sich
bringen würde. Der Erwerbstätigenzuschuss ist als befristeter Zuschuss in Höhe
von 20 bis 25 Prozent des Lohns konzipiert und mit einem hohen bürokrati-
schen Aufwand bei Erst- und Wiederbeantragung verbunden. Den Erwerbs-
tätigen droht damit dieselbe Prüfbürokratie wie im SGB II. Dabei ist kein Vor-

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teil gegenüber bereits existierenden Instrumenten im SGB II und im SGB III
erkennbar, die zum Teil eine wesentlich höhere Bezuschussung des Lohns vor-
sehen. Da die Bundesregierung den Erwerbstätigenzuschuss absehbar nicht
durch flächendeckende Mindestlöhne flankieren wird, sind hohe Mitnahmen
der Arbeitgeber über Lohndumping zu erwarten. Die Kosten für den Erwerbs-
tätigenzuschuss sollen darüber hinaus den Beitragszahlerinnen und -zahlern
aufgebürdet werden, obwohl es sich bei der Verbesserung der Rahmenbedin-
gungen für Geringverdienerinnen und -verdiener um eine gesamtstaatliche
Aufgabe handelt, die aus Steuermitteln finanziert werden müsste.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

folgende Gesamtstrategie umzusetzen, mit der der zunehmenden Armut er-
werbstätiger Menschen entgegengewirkt wird. Diese Strategie umfasst sowohl
die Stärkung von kleinen Einkommen als auch die Stärkung vorgelagerter
Systeme sozialer Sicherung. Ziel ist es, die Abhängigkeit Erwerbstätiger von
der Grundsicherung zu beenden und zukünftig zu vermeiden. Dabei wird die
spezielle Situation von Alleinerziehenden und Paaren mit Kindern besonders
berücksichtigt. Erforderlich ist die Umsetzung folgender Elemente:

1. Entlastung von Geringverdienerinnen und -verdienern durch gezielte Sen-
kung der Lohnnebenkosten

Um die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich auf Arbeitnehmer-
und Arbeitgeberseite gezielt und spürbar zu senken, soll das Grüne Progressiv-
Modell umgesetzt werden. Analog zur geltenden Praxis im Steuersystem führt
es dazu, dass hohe Einkommen mehr, niedrige weniger belastet werden.

Das Progressiv-Modell sieht vor, dass erst ab einem Bruttoeinkommen ober-
halb von 2 000 Euro die volle Last der Sozialversicherungsabgaben von zusam-
men rund 40 Prozent (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) anfallen. Für alle
Einkommen bis 2 000 Euro sollen die Beitragssätze langsam und stufenlos an-
steigen. Damit werden Beitragssätze von insgesamt 20 Prozent bei einem
Bruttoeinkommen von 400 Euro, von 25 Prozent bei 800 Euro, von 30 Prozent
bei 1 200 Euro und von 35 Prozent bei 1 600 Euro erreicht. Durch das Pro-
gressiv-Modell haben Geringverdienerinnen und -verdiener netto mehr in der
Tasche und können so von staatlichen Hilfen unabhängig werden.

Durch die abgesenkten Beiträge werden außerdem die Rahmenbedingungen für
Arbeitgeberinnen und -geber attraktiver, zusätzliche Arbeitsplätze anzubieten.
Insbesondere im Dienstleistungssektor oder in anderen personalintensiven Be-
reichen werden neue Arbeitsplätze entstehen. Damit erhöhen sich auch für
Menschen mit geringeren Qualifikationen die Chancen, wieder eine Arbeit zu
finden. Bisherige Sonderregelungen wie Mini- und Midijobs werden mit dem
Progressiv-Modell abgeschafft. Bisher geringfügig Beschäftigte erhalten da-
durch den vollwertigen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen.

2. Mindestlöhne für alle Branchen einführen

Für gerechte Löhne, fairen Wettbewerb und gegen Mitnahmen sind Mindest-
löhne in allen Branchen unerlässlich. Partielle Lösungen reichen nicht aus.
Mindestlöhne müssen alle Arbeitnehmerinnen und -nehmer einbeziehen. Sie
müssen sowohl tariflich als auch nicht tariflich organisierte Wirtschaftsbereiche
erfassen und die Tarifautonomie stärken. Um diese Ziele zu erreichen, sind drei
Maßnahmen notwendig:

a) Die unverzügliche Einrichtung einer Mindestlohn-Kommission nach dem
Vorbild von Großbritannien, die unter Beteiligung von Sozialpartnern und
Wissenschaft Empfehlungen für die Höhe von Mindestlöhnen erarbeitet.

Alle Arbeitnehmerinnen und -nehmer, die keine tariflichen und all-

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gemeinverbindlich erklärten Mindestlöhne erhalten, sollen von diesem Ver-
fahren profitieren. So wird eine allgemein wirkende Mindestlohnschranke
nach unten gegen Lohndrückerei eingerichtet.

b) Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz muss in Stufen bis spätestens Ende April
2009 auf alle Branchen ausgeweitet werden. Dafür müssen die Branchen bis
Ende 2008 die erforderlichen Voraussetzungen schaffen. Schaffen sie dies
nicht, soll die Mindestlohn-Kommission auch für diese Branchen tätig wer-
den.

c) Das Tarifvertragsgesetz muss schnellstens so reformiert werden, dass bran-
chenintern vereinbarte Mindestlöhne leichter für allgemeinverbindlich er-
klärt werden können und die Spitzenverbände das Verfahren nicht mehr im
Tarifausschuss blockieren können. Dann profitieren auch Arbeitnehmerin-
nen und -nehmer der Branchen von Mindestlöhnen, deren Arbeitgeberinnen
und -geber keine Mitglieder der Tarifgemeinschaft sind. Die Tarifvertrags-
parteien sollen wieder umfassende Verantwortung für ihre Branche überneh-
men können.

3. Existenzsicherung für Kinder verbessern

Über die bisher beschlossene Entfristung hinaus muss der Kinderzuschlag so
reformiert werden, dass damit das ursprünglich intendierte Ziel dieses Instru-
ments erreicht wird: Er soll Familien unterstützen, in denen das Einkommen
der Eltern zwar ausreicht, um den eigenen Unterhalt, nicht aber den der Kinder
vollständig zu sichern. Familien sollen nicht ihrer Kinder wegen Grundsiche-
rung beantragen müssen. Sie müssen alternativ den Kinderzuschlag wählen
können. Hierfür müssen das Antragsverfahren für den Kinderzuschlag entbüro-
kratisiert, der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet und die Anrech-
nung des Elterneinkommens verändert werden.

4. Reform des Wohngeldes

Das Wohngeld hat aufgrund der Einführung des SGB II im Januar 2005 an
Wirkung als vorrangige Leistung eingebüßt. Durch die Wiederaufwertung des
Wohngeldes werden Geringverdienerinnen und -verdiener gestärkt und ihr
Abrutschen in die Bedürftigkeit verhindert. Deshalb werden die Erhöhung des
Wohngeldes, die stärkere Berücksichtigung der Nebenkosten, die Erhöhung der
Einkommensgrenzen sowie der Freibeträge für Kinder und eine Ausweitung
des Kreises der Berechtigten angestrebt. In Zukunft müssen die Kosten für das
Wohngeld von Bund und Ländern wieder jeweils hälftig getragen werden.

Berlin, den 16. Januar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Drucksache 16/7751 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Begründung

Immer mehr erwerbstätige Menschen können von ihrem Einkommen nicht
leben. Dies wird deutlich an der Zahl der so genannten Aufstockerinnen und Auf-
stocker, also derjenigen, die zusätzlich zu ihrem Einkommen ergänzendes
Arbeitslosengeld II beziehen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA)
ist ihre Zahl von September 2005 bis August 2007 von 949 000 auf 1,26 Mil-
lionen gestiegen. Die Zahl derjenigen Aufstockerinnen und Aufstocker, die so-
zialversicherungspflichtig arbeiten, ist in diesem Zeitraum auf 556 000 ange-
wachsen. Im September 2005 waren es noch 416 000.

Auch wenn eine aktuelle Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung für das Jahr 2005 vor allem für vollzeitbeschäftigte Allein-
stehende häufig eine nur vorübergehende Abhängigkeit von der Grund-
sicherung ausweist: Unbestreitbar ist, dass immer mehr Menschen vorüber-
gehend oder dauerhaft auf ergänzende staatliche Unterstützung neben ihrem
Einkommen angewiesen sind. Zudem bestätigt die Untersuchung des IAB, dass
es insbesondere für Alleinerziehende, Paare mit Kindern sowie für Teilzeit-
beschäftigte schwer ist, den Hilfebezug zu beenden und wieder selbständig
ihren Unterhalt zu bestreiten.

Wirksame Strategien gegen „Armut trotz Arbeit“ müssen diese Erkenntnisse
berücksichtigen. Erforderlich sind Instrumente, die Erwerbsarbeit im unteren
Einkommensbereich lohnender machen, die Schaffung von Arbeitsplätzen er-
leichtern und die Lohndumping auf Kosten der Allgemeinheit unterbinden.
Ebenso erforderlich sind aber auch flankierende Maßnahmen, durch die ins-
besondere Haushalte mit Kindern schnell und unbürokratisch unterstützt wer-
den und durch die ihre Abhängigkeit vom Arbeitslosengeld II verhindert wird.
Hierzu gehören der Kinderzuschlag, der bisher sein Ziel nicht erreicht, sowie
das Wohngeld. Für die Reform des Wohngeldes müssen die Ergebnisse des
Evaluierungsberichts der Bund-Länder-Projektgruppe zur Wohngeldvereinfa-
chung vom 1. Januar 2005 in die Überlegungen miteinbezogen und insbeson-
dere strukturelle Lösungsvorschläge zur Praktikabilität der Abgrenzung zwi-
schen Wohngeld und Transferbereich erarbeitet werden.

Der von der Bundesregierung angekündigte Erwerbstätigenzuschuss erfüllt
nach den bekannt gewordenen Plänen diese Anforderungen nicht. Da wichtige
flankierende Maßnahmen fehlen, ist absehbar, dass die Zahl der auf den
Erwerbstätigenzuschuss angewiesenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht sinken, sondern weiter steigen würde. Der wesentliche Effekt des Er-
werbstätigenzuschusses läge demnach in der Kostenverschiebung – vom Bund
und den Kommunen hin zu den Beitragszahlerinnen und -zahlern in der
Arbeitslosenversicherung.

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