BT-Drucksache 16/7472

Für eine humane und solidarische Pflegeversicherung

Vom 12. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7472
16. Wahlperiode 12. 12. 2007

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
Katja Kipping, Monika Knoche, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Dr. Lothar Bisky und der Fraktion DIE LINKE.

Für eine humane und solidarische Pflegeabsicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Leitbild einer jeden Reform der öffentlich verantworteten Absicherung von
Pflege- und Assistenzleistungen muss der Erhalt der Menschenwürde sein.

Zwölf Jahre nach Inkrafttreten der Pflegeversicherung (Elftes Buch Sozial-
gesetzbuch – SGB XI) reagiert die Bundesregierung mit ihrem so genannten
Reformvorschlag vollkommen unzureichend auf die seit Jahren bestehenden
Defizite. Anstatt mit einer Neudefinition des Pflegebegriffs eine grundlegende
Reform des SGB XI einzuleiten, deckelt die Regierung zunächst die Finanzen.
Damit beschränkt sie den Spielraum für die dringend erforderliche Verbesserung
des Leistungsniveaus für die Betroffenen, der Arbeitsbedingungen für die Be-
schäftigten und Angehörigen, der Qualität und der erforderlichen Pflegestruktu-
ren. Der somatisch geprägte und verrichtungsbezogene Pflegebegriff erweist
sich als unbrauchbar für hinwendungsbezogene, sprechende, Teilhabe ermög-
lichende und ganzheitliche Pflege- und Assistenzleistung. Seine Neudefinition
ist eine notwendige Voraussetzung, um zum Beispiel Menschen mit dementiel-
len Erkrankungen einbeziehen zu können.

Um eine solidarische und humane Absicherung von Pflege und Assistenz zu ge-
währleisten, ist eine nachhaltige Finanzierung auf der Grundlage einer Bürgerin-
nen- und Bürgerversicherung erforderlich. In diese Versicherung sind alle Ein-
kommen einzubeziehen. Als erster Schritt muss ein Finanzausgleich zwischen
gesetzlicher und privater Pflegeversicherung erfolgen.

Leistungen der Pflegeabsicherung sind langfristig am individuellen Bedarf zu
orientieren. Empfängerinnen und Empfängern von Pflege- und Assistenzleistun-
gen ist gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Die Praxis zeigt, dass Menschen in verschiedenen Lebenssituationen eine unter-
schiedliche Art der Unterstützung in Form von Pflege oder Assistenz brauchen,
je nachdem ob sie beispielsweise aufgrund von Alter einen Teil der Alltagskom-

petenz einbüßen oder aufgrund von Behinderungen und/oder chronischen bzw.
erblichen Erkrankungen in ihrer sozialen Teilhabe beeinträchtigt sind. Men-
schen im oder nahe am Sterbeprozess bilden eine weitere Gruppe mit besonde-
rem Bedarf. Dies muss sich auch im Leistungsgeschehen abbilden.

Die Bundesregierung sieht bis 2012 eine stufenweise Anhebung der Geld- und
Sachleistungen vor, die vollkommen unzureichend ist. Damit gleicht sie nicht
einmal den seit der Einführung der Pflegeversicherung zu verzeichnenden Real-

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wertverlust der Leistungen in Höhe von ca. 15 Prozent aus. Für gut ein Viertel
der Leistungsbezieherinnen und -bezieher – nämlich die rund 530 000 Pflege-
bedürftigen der Pflegestufen I und II, die in Heimen versorgt werden – soll die
finanzielle Unterstützung überhaupt nicht erhöht werden. Für Menschen mit ein-
geschränkter Alltagskompetenz sieht die Bundesregierung maximal 2 400 Euro
im Jahr vor, was einer Tagespauschale von 6,57 Euro entspricht. Würden tat-
sächlich eine Million Menschen mit dementiellen Erkrankungen ihre Unterstüt-
zung einfordern, blieben im Jahre 2008 nur 76 Cent pro Tag für jeden Einzelnen
übrig.

Veränderungen der Familienstruktur, des Familienbildes, der Erwerbsbiogra-
phien von Frauen und der Arbeitswelt bringen neue Herausforderungen für die
Pflegeabsicherung mit sich. Der Regierungsentwurf reagiert auch darauf unzu-
reichend. Bereits jetzt ist ein Trend zur stärkeren Inanspruchnahme von profes-
sioneller Pflege bzw. Assistenz zu konstatieren. Der Regierungsentwurf sieht
jedoch keine Maßnahmen vor, die Verteilung der Pflege- bzw. Assistenzaufga-
ben zwischen Staat und Familie zu Gunsten einer stärkeren öffentlichen Verant-
wortung zu verschieben. Bundesregierung und Koalition fehlt es an Mut, die
kostenintensive Entlastung der familiären Hilfe durch professionelle Pflege- und
Assistenzkräfte umzusetzen.

Das Risiko, pflege- und/oder assistenzbedürftig zu werden, hängt auch mit der
sozialen Situation, der Bildung und dem Einkommen der Betroffenen zusam-
men. Die Bundesregierung versäumte es, diese Chancenungleichheit durch stär-
kere Prävention, Rehabilitation und Gesundheitsförderung wirksam zu verrin-
gern. So könnte auch Pflegebedürftigkeit vermieden, hinausgezögert oder redu-
ziert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf für die schrittweise Reform – ggf. in mehreren Stufen –
der Pflegeabsicherung vorzulegen, die noch in dieser Legislaturperiode ver-
abschiedet werden kann. Grundpfeiler der Reform sollen sein:

● eine Neudefinition des Pflegebegriffs, der assistierte Teilhabe und eine
bedarfsdeckende, ganzheitliche, sprechende Pflege ermöglicht,

● die Gewährleistung einer Wahlmöglichkeit von gleichgeschlechtlicher
Pflege/Assistenz,

● eine grundlegende Überarbeitung des Begutachtungsverfahrens und

● die Überwindung des starren Pflegestufenmodells,

● die Pflegeversicherung als Rehabilitationsträger im SGB IX zu verankern;

2. das Pflegerisiko durch ein Präventionsgesetz und gesundheitsfördernde Maß-
nahmen zu verringern;

3. ein Sofortprogramm aufzulegen, das die unmittelbaren Probleme von Pflege-
bedürftigen angeht. Dabei sind nachfolgende Punkte zu berücksichtigen:

a) Die Leistungen der Pflegeversicherung (SGB XI) sind anzuheben und zu
dynamisieren. Hierfür ist der 15-prozentige Realwertverlust der Pflege-
leistungen unverzüglich auszugleichen. Außerdem sind die Sachleistungs-
beträge für die ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege um weitere
25 Prozent anzuheben. Ab 2009 sind die Leistungen der Pflegeversiche-
rung jährlich in Höhe der Bruttolohnentwicklung zu dynamisieren.

b) Menschen mit dementiellen Erkrankungen sind in die Leistungen der Pfle-
geversicherung zu integrieren. Der zusätzliche Leistungsbetrag für Men-

schen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz ist auf 6 000 Euro

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jährlich anzuheben. Gleichzeitig sind Menschen der so genannten Pflege-
stufe 0 einzubeziehen.

c) Ambulante und alternative Wohn- und Versorgungsformen sind auszu-
bauen. Es ist darauf hinzuwirken, dass Pflegeversicherung und Kommu-
nen hierfür in angemessenem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung
stellen.

d) Die Rahmenbedingungen für Angehörige und Ehrenamtliche sind zu ver-
bessern. Der Anspruch auf professionelle Beratung, Anleitung, Betreuung
und Supervision ist auszubauen. Anbieter- und kostenträgerunabhängige
Pflege- und/oder Assistenzberatung ist einzurichten. Tages-, Kurzzeit-
und Nachtpflege sind auszuweiten.

e) Es ist eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige einzufüh-
ren, die der Organisation der Pflege von Angehörigen oder nahestehenden
Personen dient. In dieser Zeit erhalten abhängig Beschäftigte eine Lohn-
ersatzleistung in Höhe von Arbeitslosengeld (I). Während der Pflegezeit
besteht Kündigungsschutz. Die Möglichkeit einer Pflegezeit gilt für
Betriebe unabhängig von der Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter. Für Personen, die die Pflege dauerhaft übernehmen wollen, sind Teil-
zeitmöglichkeiten und flexible Arbeitszeitregelungen zu ermöglichen. Für
andere Versicherte, die nicht abhängig beschäftigt sind, werden analoge
Regelungen geschaffen, um auch ihnen die Möglichkeit zur Organisation
der Pflege zu geben.

f) Für eine verbesserte stationäre Versorgung im Sinne der Heimbewohne-
rinnen und Heimbewohner sind die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs-
möglichkeiten von Heimbeiräten zu erweitern. Prüf- und Qualitätsbe-
richte von Medizinischem Dienst (MDK) und Heimaufsicht sind
allgemeinverständlich zu veröffentlichen. Kontrollen haben grundsätzlich
unangemeldet stattzufinden.

g) Pflege- und Assistenzkräften sind verbesserte berufliche Perspektiven zu
bieten. Altenpflegekräfte müssen in ihrer Bezahlung Krankenpflegekräf-
ten angeglichen werden. Überbelastung soll abgebaut, Arbeitszeiten sol-
len flexibilisiert, Teilzeitarbeit und eine verbesserte Ausbildung ermög-
licht werden. Gleichzeitig sind die Angebote an Qualifikations- und
Weiterbildungsmaßnahmen (inkl. Supervision) auszuweiten.

h) In den stationären Einrichtungen ist eine ausreichende Ausstattung mit
qualifiziertem Personal zu gewährleisten. Es ist ein Instrument einer qua-
litätsbezogenen Personalbemessung zu entwickeln, das bundesweit ein-
heitlich und rechtsverbindlich ist. Mindestens die Hälfte des Personals
muss aus Fachkräften bestehen.

i) Eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege ist
einzuführen. Die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegever-
sicherung ist aufzuheben. Hierfür sind alle, auch Selbstständige, Beamtin-
nen und Beamte und Freiberuflerinnen und Freiberufler, in die gesetzliche
Pflegeversicherung (SGB XI) einzubeziehen. Sämtliche Einkommen –
u. a. aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie aus Kapital-,
Miet- und Zinseinkünften – werden beitragspflichtig und mit einem ein-
heitlichen Beitragssatz belegt. Die Beitragsbemessungsgrenze wird stu-
fenweise angehoben, im ersten Schritt ist sie auf die Höhe der Beitrags-
bemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben.
Rentnerinnen und Rentner zahlen künftig nur den halben Beitragssatz; die
andere Hälfte wird aus der Rentenversicherung beglichen. Der höhere
Pflegebeitrag von Kinderlosen wird abgeschafft.

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j) Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind insgesamt zur Hälfte an den
Beiträgen für die Pflegeversicherung zu beteiligen.

Berlin, den 11. Dezember 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die gegenwärtige Definition der Pflegebedürftigkeit steht in der Kritik, weil sie
Aspekte des Pflegebedarfs wie allgemeine Betreuung, Beaufsichtigung und
Anleitung, Kommunikation und soziale Teilhabe nicht ausreichend einbezieht.
Gesellschaftliche Entwicklungen wie der zunehmende Wunsch nach Wohn-
gemeinschaften älterer Menschen werden in den derzeitigen Regelungen der
Pflegeversicherung nur unzureichend berücksichtigt. Pflegebedürftige Men-
schen müssen ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben führen
können. Dieser Anspruch ist der Maßstab für die Bewertung der derzeitigen
Gesetze und Regelungen für die Pflegeabsicherung sowie für Reformvorhaben.

Die Finanzierung der Pflegeversicherung im SGB XI erfolgt in einem eng be-
grenzten Rahmen als „Teilkaskoversicherung“, weshalb sich die Leistungsbe-
messung nicht an der Deckung des Bedarfs ausrichtet. Die derzeit gewährten
Leistungen dienen lediglich dazu, die familiäre, nachbarschaftliche oder ehren-
amtliche Pflege zu ergänzen. Im Fall der Inanspruchnahme der professionellen
Pflege sind die Betroffenen oder ihre Angehörigen gezwungen, zusätzlich auf
ihr Einkommen und/oder Vermögen zurückzugreifen. Ist dieses nicht vorhanden
bzw. aufgebraucht, müssen die Betroffenen „Hilfe zur Pflege“ im Rahmen der
Sozialhilfe (SGB XII) beantragen.

Die fehlende Bedarfsdeckung wird dadurch verschärft, dass die Leistungen der
Pflegeversicherung seit ihrer Einführung nicht dynamisiert wurden. Die Ver-
sicherten haben infolgedessen einen wachsenden Anteil der Kosten zu tragen.
Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger unter den Pflegebe-
dürftigen steigt. „Hilfe zur Pflege“ wird aber nur gewährt, wenn nach den stren-
gen Regeln der Sozialhilfe keine finanzielle Unterstützung durch Angehörige
erfolgen kann. So werden immer mehr Menschen auch mit kleineren und mitt-
leren Einkommen gezwungen, für ihre Eltern oder Lebensgefährten einen Teil
der Pflege zu finanzieren. Sinnvoll erscheint, sich zumindest an die Regelung
des so genannten Schonvermögens an § 43 Abs. 2 SGB XII (d. h. 100 000 Euro
wie bei der Grundsicherung im Alter) anzulehnen.

Ohne die Neudefinition des Pflegebegriffs ist eine wirkliche Reform der Pflege-
versicherung nicht möglich. Die unterbreiteten Reformvorschläge der Bundes-
regierung mit dem im November 2007 eingebrachten Gesetzentwurf greifen zu
kurz. Noch nicht einmal die wenigen angestrebten Strukturverbesserungen wer-
den ihre Wirkung entfalten können, da die Bundesregierung sie finanziell nicht
solide untersetzt.

Auf lange Sicht sind die Leistungen der Pflegeversicherung am individuellen
Bedarf zu orientieren. Die Ermöglichung von Teilhabe für die Leistungsempfän-
gerinnen und -empfänger nach deren persönlichen Wünschen und Gewohnhei-
ten ist dabei von zentraler Bedeutung. Diese Zielsetzung erfordert einen schritt-
weisen Ausbau der Absicherung des Pflegerisikos und Assistenzbedarfs.

Es besteht aber sofortiger Handlungsbedarf, um die stark angespannte Situation

der Pflegeversicherung mit ihren erheblichen Auswirkungen auf die Betroffenen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/7472

und ihre Angehörigen sowie die Pflegekräfte unmittelbar verbessern zu können.
Hierfür ist ein Sofortprogramm umzusetzen sowie umgehend ein Präventions-
gesetz bis zum Ende dieses Jahres vorzulegen. Prävention und Gesundheitsför-
derung können dazu beitragen, bestimmte Erkrankungen zu vermeiden bzw. die
Eintrittswahrscheinlichkeit von bestimmten Krankheiten zu senken. Außerdem
kann – in Verbindung mit einem Ausbau der Rehabilitation – der Eintritt von
Pflegebedürftigkeit hinausgezögert bzw. vermieden oder der Pflegebedarf ver-
ringert werden.

Eine Anhebung der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung ist aus den ge-
nannten Gründen dringend geboten. Neben dem Ausgleich des Realwertver-
lusts sollen für eine bessere Qualität der Pflege und bessere Arbeitsbedingun-
gen die Sachleistungsbeträge für die ambulante, teilstationäre und stationäre
Pflege um weitere 25 Prozent angehoben werden. Dies bedeutet, dass ab 2008
die ambulanten und teilstationären Sachleistungsbeträge in Pflegestufe I von
bisher 384 Euro auf 553 Euro, in Pflegestufe II von 921 Euro auf 1 325 Euro
und in Pflegestufe III von 1432 auf 2 059 Euro (in Härtefällen von 1 918 Euro
auf 2 758 Euro) angehoben werden. Das Pflegegeld beträgt in Pflegestufe I
statt bisher 205 Euro ab 2008 236 Euro, in Pflegestufe II statt 410 Euro künftig
472 Euro, in Pflegestufe III statt 665 Euro künftig 765 Euro. Die stationären
Leistungsbeträge werden in Pflegestufe I von 1 032 Euro auf 1 484 Euro im
Jahr 2008 angehoben, in Pflegestufe II von 1 279 Euro auf 1 839 Euro und in
Pflegestufe III von 1 432 auf 2 059 Euro (in Härtefällen von 1 699 Euro auf
2 428 Euro). Damit künftig der Wert der Versicherungsleistungen erhalten
bleibt, sind die Leistungen jährlich in Höhe der Bruttolohnentwicklung zu
dynamisieren.

Seit dem 1. Januar 2002 erhalten Menschen mit erheblich eingeschränkter All-
tagskompetenz einen zusätzlichen Leistungsbetrag von bis zu 460 Euro jährlich.
Hiermit ist den Betroffenen und ihren Angehörigen nicht ausreichend geholfen.
Daran ändert auch die von der Bundesregierung geplante Erhöhung auf bis zu
2 400 Euro jährlich wenig. Kontinuität in der Betreuung kann so nicht gewähr-
leistet werden. Die Anhebung dieses Betrags auf 6 000 Euro jährlich ist ein ers-
ter Schritt in Richtung einer wirklichen Unterstützung von Menschen mit de-
mentiellen Erkrankungen.

Um die Teilhabe und Selbstbestimmung von Pflegebedürftigen zu gewährleis-
ten, müssen Menschen mit Pflegebedarf das Recht haben, Wohnort und Versor-
gungsform frei auswählen zu können. Für den Ausbau ambulanter und alterna-
tiver Wohnformen sind daher in einem angemessenen Umfang zusätzliche Mit-
tel zur Verfügung zu stellen.

Das „Teilkasko-Prinzip“ erfordert enorme zeitliche und finanzielle Anstrengun-
gen von Angehörigen und nahestehenden Personen. Überforderung und Über-
lastung sind daher keine Seltenheit. Angehörige sind daher durch professionelle
Beratung, Anleitung, Betreuung und Supervision zu unterstützen. Mit der Erhö-
hung der Pflegestufen können dringend benötigte Angebote der Tages-, Kurz-
zeit- und Nachtpflege ausgebaut und genutzt werden.

Einen bezahlten Pflegeurlaub wird es nach den Plänen der Bundesregierung
künftig nicht geben. Angehörige sollen jedoch eine unbezahlte Pflegezeit von
bis zu 6 Monaten nehmen können. Eine solche unbezahlte Pflegezeit kommt
allerdings für viele Personen schon aus finanziellen Gründen nicht in Frage.
Gleichzeitig hat die von der Bundesregierung vorgesehene Einschränkung auf
Betriebe bis zu 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Folge, dass
insbesondere in den neuen Bundesländern viele Menschen diese Pflegezeit
überhaupt nicht in Anspruch nehmen können. Daher sieht das Sofortprogramm
eine sechswöchige Pflegezeit vor, gedeckt durch eine Lohnersatzleistung. Für

Personen hingegen, die die Pflege ihrer Angehörigen oder nahestehenden Perso-

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nen dauerhaft übernehmen wollen, ermöglichen bessere Teilzeitmöglichkeiten
und flexiblere Arbeitszeiten die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.

Wo Profit an oberster Stelle steht, bleibt die Qualität auf der Strecke. Der Medi-
zinische Dienst der Krankenkassen hat in seinem Qualitätsbericht für Pflege-
heime, aber auch für den ambulanten Bereich z. T. problematische Zustände
festgestellt. Gute Pflege braucht Zeit und ausreichend qualifiziertes Personal.
Die deutliche Aufstockung der stationären Leistungsbeträge bietet hierfür den
ersten notwendigen Spielraum. Zudem trägt die erhöhte Transparenz durch die
Veröffentlichung von allgemeinverständlichen Prüf- und Qualitätsberichten und
die Einführung grundsätzlich unangemeldeter Kontrollen dazu bei, dass das Ziel
einer optimalen stationären Versorgung erreicht wird.

Pflegekräften ist eine berufliche Perspektive zu bieten, damit sie ihren Beruf
auch über einen langen Zeitraum motiviert ausüben können. Notwendig ist die
gesellschaftliche und finanzielle Aufwertung ihres Berufes. Die Bundesregie-
rung plant den umgekehrten Weg: Indem Pflegekassen künftig Verträge mit Ein-
zelpflegekräften unterschiedlicher Qualifikation abschließen können, die keinen
tarifvertraglichen Schutz genießen, wird an der Abwärtsspirale bei der Bezah-
lung gedreht.

Die Qualität der Pflege bzw. Assistenz in den stationären Einrichtungen und im
ambulanten Bereich hängt ganz entscheidend von einer ausreichenden Aus-
stattung mit qualifiziertem Personal ab. Spielraum für die Überwindung der
personellen Unterbesetzung bietet die Anhebung der stationären Leistungsbe-
träge. Wie viel Personal in jedem Heim und in jedem Dienst jedoch tatsächlich
erforderlich ist, kann erst festgestellt werden, wenn die Personalbemessung auf
dem individuellen Bedarf jeder/jedes Einzelnen beruht. Dafür ist eine qualitäts-
bezogene Personalbemessung zu schaffen, die bundesweit einheitlich und
rechtsverbindlich werden muss. Mindestens die Hälfte des Personals muss aus
Fachkräften bestehen. Es ist zu prüfen, ob für das Heimrecht die Zuständig-
keit des Bundesgesetzgebers wiederherzustellen ist, um einen bundeseinheit-
lichen Minimalstandard der Qualität in der stationären Pflege sicherstellen zu
können.

Die Anforderungen an die Qualität, an die erforderlichen Pflegestrukturen und
das Leistungsniveau machen die Finanzierung der Pflegeversicherung zu einer
Schlüsselfrage für eine humane Pflege. Für die gemeinsame Bewältigung dieser
Aufgaben ist analog zum Modell der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerver-
sicherung ein neues Finanzierungskonzept in der Pflegeversicherung einzufüh-
ren. So kann die gesellschaftliche Akzeptanz für einen Umbau der pflegerischen
Versorgung geschaffen werden. Die von der Bundesregierung vorgesehene An-
hebung des allgemeinen Beitragssatzes ab 1. Juli 2008 um 0,25 Prozent reicht
für eine nachhaltige Finanzierung nicht aus. Die Koalition ist damit an ihrer
Zielsetzung, eine nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung sicherzustel-
len, gescheitert. Noch nicht einmal ein Finanzausgleich zwischen der privaten
und der gesetzlichen Pflegeversicherung ist in den Plänen der Bundesregierung
enthalten, was einen Bruch mit dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2005 dar-
stellt.

Die faktische Abkehr vom Prinzip der Parität in der Pflegeversicherung, also
der jeweils hälftigen Beitragszahlung durch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
einerseits und die Beschäftigten andererseits, ist zu überwinden. Infolge der
Abschaffung eines Feiertags haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
die Pflegeversicherung zwölf Jahre lang größtenteils allein finanziert. Das Bei-
spiel Sachsen, in dem der Buß- und Bettag erhalten blieb, macht dies deutlich:
Dort müssen die Beschäftigten derzeit 1,35 Prozent ihres Einkommens, die
Arbeitgeber lediglich 0,35 Prozent als Pflegeversicherungsbeitrag zahlen.

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Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird durch die neue paritätische
Finanzierung eine spürbare Entlastung geschaffen. Aufgrund des gestrichenen
Feiertags müssen dementsprechend höhere Arbeitgeberbeiträge veranschlagt
werden. In Sachsen, wo der Feiertag blieb, wird der Arbeitgeberanteil dem
Arbeitnehmeranteil angeglichen.

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