BT-Drucksache 16/7470

Für eine neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungsmittelhilfekonvention

Vom 12. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7470
16. Wahlperiode 12. 12. 2007

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike Höfken, Marieluise Beck
(Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller
(Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete
Nahrungsmittelhilfekonvention

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bei Naturkatastrophen und in humanitären Krisen, die durch politische Kon-
flikte, Kriege oder ökonomische Desaster bedingt sind, verliert oft eine große
Anzahl an Menschen den Zugang zu Nahrungsmitteln. In einer Situation, in der
die Menschen eines Landes nicht mehr fähig sind, sich selbst zu ernähren, sind
sie auf externe Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Diese wird von der internatio-
nalen Gemeinschaft bereitgestellt. Die elementare Bedeutung von Nahrungsmit-
telhilfe in humanitären Krisen wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Aller-
dings gab es in der jüngeren Vergangenheit immer wieder große Kritik an der
Praxis der gegenwärtigen Nahrungsmittelhilfe. Es lassen sich insbesondere zwei
Problembereiche identifizieren: Einerseits die politische Dimension von Nah-
rungsmittelhilfe und anderseits die teilweise negativen Auswirkungen von Nah-
rungsmittelhilfe für die Empfängerländer. Nahrungsmittelhilfe orientiert sich
nicht primär an den Bedürfnissen derjenigen, die von Hunger und Armut am
stärksten betroffen sind, sondern an den Agrarinteressen der Industrienationen.
Diese nutzen Nahrungsmittelhilfe als politisches Instrument, um agrarische
Überproduktionen kostengünstig abzusetzen. Dabei werden zum Teil auch gen-
technisch veränderte Nahrungsmittel gegen den Willen der Empfängerländer ab-
gegeben. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Geber in Notlagen oft lieber
die relativ schnell verfügbare Nahrungsmittelhilfe bereitstellen, obwohl andere
Instrumente der Nothilfe effizienter wären. Bestimmte Formen der Nahrungs-
mittelhilfe beeinträchtigen die Agrarproduktion in den Empfängerländern nega-
tiv und bedrohen damit die Existenzgrundlage von Kleinbauern und Händlern.
Hierzu zählt beispielsweise die Praxis der „Monetarisierung“. Diese wird insbe-
sondere von den USA, dem weltweit größten Geber von Nahrungsmittelhilfe,
eingesetzt: Die Regierung kauft das – häufig subventionierte – Getreide im
eigenen Land auf und verschifft es unter amerikanischer Flagge nach Übersee,

um es dort an Hilfsorganisationen zu übergeben. Diese wiederum verkaufen die
Nahrungsmittel zu Dumpingpreisen auf den lokalen Märkten und finanzieren
aus den Einnahmen ihre Armutsbekämpfungsprogramme vor Ort. Kritiker der
gegenwärtigen Nahrungsmittelhilfe führen an, dass so die Abhängigkeit der
Empfängerländer von Nahrungsmittelhilfe verstärkt wird. Durch die massive
Einfuhr westlicher Getreidesorten verändern sich langfristig zudem die Ernäh-
rungsgewohnheiten der Menschen in den Entwicklungsländern.

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Die aufgezeigten Defizite verlangen nach einer effizienteren, problemorientier-
ten Nahrungsmittelhilfe. Dabei müssen auch neue globale Rahmenbedingungen
wie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Nahrungsmittelproduktion
und die wachsende Nachfrage nach Lebensmitteln und Biotreibstoffen beachtet
werden.

Die Nahrungsmittelhilfekonvention (Food Aid Convention – FAC) ist ein inter-
nationales Abkommen zwischen den 23 traditionellen Geberländern von Nah-
rungsmittelhilfe. Sie ist das einzige rechtlich bindende internationale Abkom-
men, das zu Hilfsleistungen gegenüber den Entwicklungsländern verpflichtet.
2008 läuft die Nahrungsmittelhilfekonvention aus. Seit 2001 steht eine Neuver-
handlung des Abkommens an, die jedoch aufgrund divergierender Interessen der
Geberländer – wie sie insbesondere in den Agrarverhandlungen im Rahmen der
Doha-Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation (WTO) zum Ausdruck
kommen – verschoben werden musste. Für 2008 besteht die Hoffnung, die an-
stehende Neuregelung der Nahrungsmittelhilfekonvention in Angriff nehmen zu
können.

Ein erstes internationales Nahrungsmittelhilfeabkommen wurde 1967 verab-
schiedet. Damals wollten die westlichen Industriestaaten ihre Getreideüber-
schüsse sinnvoll für die Hungerbekämpfung in Entwicklungsländern einsetzen.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Abkommen mehrmals neu verhan-
delt – zum letzten Mal 1999 –, so dass inzwischen humanitäre und entwick-
lungspolitische Erwägungen in die Konvention integriert werden konnten.
Während in früheren Jahren der Fokus auf Getreidelieferungen lag, schließt die
Nahrungsmittelhilfekonvention inzwischen Lebensmittel wie Reis, Hülsen-
früchte, Speiseöl, Zucker, Milchpulver, aber auch Düngemittel und Saatgut mit
ein. Diese Bestandteile werden mit komplizierten Konvertierungsfaktoren in
Weizenäquivalente, die Berechnungseinheit der Nahrungsmittelhilfekonven-
tion, umgerechnet. Zudem befürwortet die Konvention die wachsende Präfe-
renz der Geber – allen voran der EU – für Einkäufe auf lokalen und regionalen
Märkten. Anstatt in den Industrieländern erzeugte Nahrungsmittel nach Afrika,
Asien und Lateinamerika zu verschiffen, werden die Naturalien im Empfänger-
land, oder – wenn dort nicht genug verfügbar sind – in einem Nachbarland ein-
gekauft (In-Cash-Hilfe). Die Vorteile der In-Cash-Hilfe bestehen darin, dass die
Kosten für den Transport gesenkt werden, dass die Hilfe schneller ankommt
und dass lokale Produktion und lokale Verteilungswege gefördert werden. Trotz
dieser positiven Entwicklungen ist das gegenwärtige Nahrungsmittelhilfe-
abkommen wie oben aufgezeigt einiger Kritik ausgesetzt.

Im Mai 2007 richtete die Bundesregierung in Berlin eine internationale Konfe-
renz „Food Aid – Exploring the Challenges“ aus, an der sich mehr als hundert
Experten aus Wissenschaft, internationalen Organisationen, zivilgesellschaft-
lichen Gruppen sowie Regierungsvertreter aus allen Teilen der Welt beteiligten.
Das Fachpublikum war sich einig darüber, dass ein großer Reformbedarf be-
steht. Der bei dieser Konferenz entstandene „Berlin Consensus“ zielt darauf ab,
den Rahmen der gesamten Konvention zu erweitern in Richtung einer umfassen-
deren „Food Assistance Convention“, die Nahrungsmittelhilfe in breitere Ernäh-
rungssicherungsstrategien einbettet.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention gemäß der
menschenrechtlichen Verpflichtung zur Erfüllung des Rechts auf adäquate
Nahrung nach Artikel 11 des Internationalen Pakts für wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Menschenrechte, sowie im Sinne der freiwilligen Leit-
linien der FAO (Food and Agriculture Organization) zur progressiven Umset-

zung des Rechts auf adäquate Nahrung einzusetzen;

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2. eine deutliche Verbesserung der Steuerungsstruktur der Nahrungsmittelhilfe-
konvention einzufordern. Die Mitgliedstaaten müssen die Einhaltung ihrer
Verpflichtungen durch Kontroll- und Sanktionsmechanismen sichern und
transparent machen. Dies kann beispielsweise durch Überprüfungsmechanis-
men (Peer-Review) des Entwicklungsausschusses der OECD und durch die
regelmäßige Veröffentlichung von Berichten geschehen. Letztere sollten
Daten über die Quantität, Qualität, Angemessenheit und Rechtzeitigkeit der
bereitgestellten Nahrungsmittelhilfe beinhalten;

3. eine Erneuerung der Mitgliederstruktur der Nahrungsmittelhilfekonvention
zu unterstützen und die Aufnahme neuer Mitglieder flexibler zu gestalten:
Regierungen der Empfängerländer und andere wichtige Interessenvertreter
wie die VN-Agenturen World Food Programme (WFP) und die FAO sowie
Nichtregierungsorganisationen spielen bei der Bedarfsanalyse, bei der Frage
nach einer angemessenen Ressourcenallokation und dem effektiven Ge-
brauch der Nahrungsmittelhilfe eine entscheidende Rolle. Dies muss in einer
neuen Nahrungsmittelhilfekonvention zum Ausdruck kommen;

4. die Nahrungsmittelhilfekonvention unter VN-Dach bei der FAO in Rom an-
zusiedeln. Hierfür spricht die geographische Nähe sowohl zu den FAO-
Experten im Bereich Hungerbekämpfung, Ernährungssicherheit, Landwirt-
schaft und Recht auf Nahrung als auch zu den Praktikern innerhalb des WFP
als größte operationale Agentur der Nahrungsmittelhilfe. Die FAO als spe-
zialisierte VN-Agentur verfügt über eine stärkere Legitimität und ein stär-
keres Profil innerhalb des internationalen Systems als der Internationale
Getreiderat. Auch die Europäische Kommission befürwortet explizit den
FAO-Reformprozess und betont die Führerschaft der FAO im Bereich ihres
Mandates;

5. eine angemessene Quantität und Qualität der Nahrungsmittelhilfe in der
neuen Konvention zu sichern: Die Verpflichtungsstruktur für die Mitglied-
staaten muss so ausgestaltet werden, dass unabhängig von den Lebensmittel-
preisen auf dem Weltmarkt die Quantität gesichert wird. Die gegenwärtige
Berechnung in Getreideeinheiten in metrischen Tonnen sollte zugunsten einer
qualitätsbezogenen Einheit (z. B. Kalorienmenge, Nährwertgehalt) aufgege-
ben werden;

6. sich dafür einzusetzen, dass die Ausgabe von Nahrungsmittelhilfe an Bedarfs-
analysen wie das „Emergency Food Security Assessment“ des WFP, gekop-
pelt wird;

7. in Zuge der Neuverhandlung der Konvention neue Instrumente der Nah-
rungsmittelhilfe mit einzubeziehen. Zu diesen Instrumenten zählen u. a. die
Anreicherung von Lebensmitteln mit Mineralstoffen und Vitaminen, die
Übernahme von Transportkosten für Nahrungsmittelhilfe, die von einem
Drittland dem Empfängerland zur Verfügung gestellt werden (Twinning),
Essensmarken, Gutscheine oder Geld, das direkt an die Endverbraucher geht;

8. sich dafür einzusetzen, dass dem Wunsch von Empfängerländern nach Liefe-
rungen von Nahrungsmitteln ohne gentechnische Veränderungen voll und
ohne Zeitverzögerungen entsprochen wird;

9. eine Konvention zu fördern, die Nahrungsmittelhilfe in langfristige, wirt-
schaftliche Entwicklungs- und Armutsbekämpfungskonzepte integriert. Der
LRRD-Ansatz (Linking Relief, Rehabilitation and Development) muss ge-
stärkt werden: Alle Formen der Nahrungsmittelhilfe müssen in langfristige
Ernährungssicherungsstrategien eingebunden werden. Insbesondere der
Übergang von humanitärer Soforthilfe zu mittel- und langfristiger Ernäh-
rungssicherung, die ohne Hilfslieferung auskommt, muss gewährleistet wer-

den. Oberstes Ziel der von Hunger betroffenen Staaten und der Geberländer
muss es sein, die Menschen mittel- und langfristig zur Selbsternährung zu

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befähigen und damit das Recht auf Nahrung gemäß der staatlichen Gewähr-
leistungspflicht und der völkerrechtlichen Verpflichtung zur progressiven
Umsetzung des Rechts auf adäquate Nahrung zu erfüllen (Artikel 2 des
internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und wirtschaftliche Men-
schenrechte);

10. Nahrungsmittelhilfe, die sich auf akute Notsituationen konzentriert, mit an-
deren humanitären Aktivitäten sehr genau abzustimmen und entsprechend
den „Grundsätzen und empfehlenswerten Praktiken der humanitären Hilfe“
(auf die sich die wichtigsten Geber humanitärer Hilfe im Jahr 2003 im Rah-
men der „Good Humanitarian Donorship Initiative“ geeinigt haben) abzu-
wickeln. Im Kontext der von den Vereinten Nationen eingeleiteten Reform
des globalen Systems der humanitären Hilfe sollte Nahrungsmittelhilfe, die
der humanitären Soforthilfe dient, langfristig in eine umfassende „Humani-
tarian Aid Convention“ unter dem Dach von UNOCHA (United Nations
Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) integriert werden;

11. den Missbrauch von Nahrungsmittelhilfe als Instrument der Beseitigung
von Agrarüberschüssen durch entsprechende Regelungen im Rahmen der
Welthandelsorganisation (WTO) zu verhindern. Die handelsverzerrenden
Wirkungen von kommerzieller Nahrungsmittelhilfe in Form von Rohstof-
fen muss reglementiert werden. Gleichzeitig muss gewährleistet werden,
dass humanitäre Nahrungsmittelhilfe in Notfällen („emergency food aid“)
von WTO-Regelungen ausgeschlossen bleibt. Hierfür soll im Rahmen des
Agrarabkommens der WTO eine „Safe-Box“ geschaffen werden. Das Vor-
liegen eines „Notfalls“ muss unter Einbeziehung der VN und des Inter-
nationalen Roten Kreuzes multilateral deklariert werden;

12. eine Konvention zu fördern, die darauf achtet, dass bei der Nahrungsmittel-
hilfe möglichst auf regionale Produkte zurückgegriffen wird, um einer
Destabilisierung von lokalen Marktpreisen und damit der Gefährdung der
Existenzgrundlage von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen entgegen zu wir-
ken. Hierbei muss gewährleistet werden, dass der Einkauf lokaler und regio-
naler Nahrungsmittel nicht zu Spekulationen bei lokalen Händlern führen
darf;

13. die Auswirkungen, die neue globale Entwicklungen auf Nahrungsmittel-
hilfe haben, zu erforschen. Zu den sich verändernden Rahmenbedingungen
zählen die weltweit wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Bio-
treibstoffen, die steigenden Preise für Nahrungsmittel und wachsende
Transportkosten, die durch den Klimawandel bedingte steigende Anzahl an
Naturkatastrophen, der wachsende Anteil an genmanipulierten Getreide bei
der landwirtschaftlichen Produktion.

Berlin, den 12. Dezember 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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