BT-Drucksache 16/7464

Haltung der Bundesregierung zum Abschuss bedrohlicher Flugzeuge ("Renegade Aircraft"), darunter gekaperter Passagiermaschinen, und zu Medienberichten, wonach eine Auswahl hierzu bereiter Piloten durch den Bundesminister der Verteidigung erfolgt sein soll

Vom 6. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7464
16. Wahlperiode 06. 12. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln),
Monika Lazar, Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Neuforn, Josef Philip
Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zum Abschuss bedrohlicher Flugzeuge („Renegade
Aircraft“), darunter gekaperter Passagiermaschinen, und zu Medienberichten,
wonach eine Auswahl hierzu bereiter Piloten durch den Bundesminister der
Verteidigung erfolgt sein soll

Der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, und der Bundes-
minister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, haben sich in den vergangenen
Wochen wiederholt zur Frage geäußert, wie mit der möglichen Bedrohung durch
von Terroristen gekaperten Flugzeugen, insbesondere Passagiermaschinen um-
gegangen werden soll. Um der Gefahr eines gezielten Absturzes – ähnlich den
Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA – etwa auf Gebäude, Sport-
stadien oder Atomkraftwerke zu begegnen, wurde von den beiden Bundesminis-
tern verschiedentlich die Möglichkeit eingefordert, Flugzeuge abschießen lassen
zu dürfen.

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung behauptete, er habe die Bereitschaft zur
Befolgung solcher Abschussbefehle schon vor bzw. anlässlich der Fußballwelt-
meisterschaft 2006 bei den in Frage kommenden Luftwaffenpiloten feststellen
lassen (FOCUS vom 17. September 2007): „Ich habe zusammen mit der Luft-
waffenführung festgelegt, dass nur diejenigen Piloten fliegen sollten, die …
auch dazu bereit wären, diesen Befehl auszuführen.“

Ein in einer Luftverteidigungszentrale tätiger deutscher Offizier bekräftigte, in
den Alarmrotten kämen nur solche Offiziere zum Einsatz, „die im Fall eines
übergesetzlichen Notstandes zur hundertprozentigen Befehlsausübung bereit
sind“; eine diesbezügliche „Befehlsverweigerung“ sei aufgrund der Vorabspra-
chen deshalb „nicht vorstellbar“ (Leipziger Volkszeitung vom 18. September
2007).

Schon im Frühjahr 2006 hatte Bundesminister Dr. Franz Josef Jung angekün-
digt: „Wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung be-
steht, würde ich aufgrund übergesetzlichen Notstandes den Befehl geben, das
Flugzeug abzuschießen.“ (B. Z. vom 5. März 2006).
Und am 5. April 2006 hatte Bundesminister Dr. Franz Josef Jung gegenüber dem
„TAGESSPIEGEL“ im gleichen Zusammenhang auf eigene Flugabwehrerfah-
rungen rekurriert:

„Es geht zunächst um Abdrängen und Niederbringen eines solchen Flugzeugs.
Dafür trage ich die Verantwortung … Dann kommt der Warnschuss. Dann
kommt die Frage der Bekämpfung. Ich respektiere selbstverständlich, was das

Drucksache 16/7464 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Verfassungsgericht dazu gesagt hat. Eine ganz andere Frage ist aber: Wann
haben wir es mit einem Fall der Nothilfe nach Artikel 35 des Grundgesetzes zu
tun? Wann ist der Bündnisfall gegeben – ich erinnere daran, dass nach dem An-
schlag vom 11. September 2001 die Nato den Bündnisfall ausgerufen hat. Und
wann handelt es sich vielleicht schon um einen Verteidigungsfall? … Im Vertei-
digungsfall gelten andere Grundsätze. Ich war als Wehrdienstleistender bei der
Flugabwehr. Da hätten wir im Verteidigungsfall nicht geprüft, ob an Bord eines
Flugzeugs Unbeteiligte gewesen wären. Da gelten andere Kriterien.“

Der Deutsche Bundestag hatte 2005 ein Luftsicherheitsgesetz beschlossen, das
in solchen Situationen eine unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt unter
engsten Voraussetzungen zuließ. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete
in seiner Entscheidung vom 15. Februar 2006, dass damit auch der Abschuss
eines vollbesetzten Passagierflugzeugs möglich werde. Das Grundgesetz erlau-
be einen Einsatz mit militärischen Mitteln unter Amtshilfegesichtspunkten
nicht. Darüber hinaus verbiete das Recht auf Leben nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1
des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des
Artikels 1 Abs. 1 GG einen Abschuss, soweit davon tatunbeteiligte Menschen
an Bord des Luftfahrzeuges betroffen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hält die Bundesregierung den Abschuss von „Renegade Aircraft“ durch die
Luftwaffe und einen dahingehenden Befehl

a) nach geltendem Recht für rechtmäßig,

b) grundgesetzkonform für gesetzlich regelbar,

und worauf gründen sich diese Auffassungen jeweils, insbesondere ange-
sichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

2. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr einen Befehl des Bundesministers der Verteidigung, „Renegade
Aircraft“ abzuschießen,

a) zu befolgen hätten, oder

b) aufgrund der o. g. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und an-
gesichts § 11 Abs. 2 des Soldatengesetzes berechtigt oder verpflichtet
wären zu verweigern?

Worauf gründet die Bundesregierung je ihre Auffassung?

3. a) Ließ der Bundesminister der Verteidigung tatsächlich schon vor der Fuß-
ballweltmeisterschaft 2006 Soldatinnen und Soldaten der für die Durch-
führung eines Abschusses in Frage kommenden Flugzeugverbände befra-
gen oder anderswie feststellen, wer von ihnen einen Befehl zum Abschuss
von „Renegade Aircraft“ befolgen würde?

b) Wann, wie und durch wen genau wurden diese Befragungen bzw. Prüfun-
gen durchgeführt?

c) Bei welchen Stellen, Verbänden, Soldaten?

d) Welchen Wortlaut haben die von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung er-
wähnten diesbezüglichen „Feststellungen“, Befehle bzw. Weisungen?

e) Aus welchem Grund genau fanden die Befragungen bzw. Untersuchungen
statt?

f) Welchem Ziel dienten sie?

g) Auf welcher rechtlichen Grundlage fanden sie statt?
h) Wie viele Piloten genau wurden befragt bzw. geprüft?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7464

i) Wie viele der in Frage kommenden Piloten erklärten sich zum etwaigen
Abschuss

aa) grundsätzlich bereit,

bb) unter Bedingungen bereit,

cc) grundsätzlich nicht bereit?

j) Falls dies nicht schriftlich dokumentiert wurde: Was war Grund für derlei
Heimlichkeit?

k) Welche disziplinarischen Konsequenzen oder Auswirkungen in der
Dienstgestaltung hatte eine ablehnende oder zustimmende Erklärung für
die befragten Piloten jeweils?

l) Insbesondere wie viele der Piloten, die sich zur Befolgung eines solchen
Abschussbefehls nicht bereit erklärten, wurden seither von ihrem damali-
gen Dienstposten entfernt?

m)Insbesondere wie viele der Piloten, die sich zur Befolgung eines solchen
Abschussbefehls bereit erklärten, erhielten seither (welche?) dienstlichen
Vorteile oder Zusagen?

n) Wie und durch wen wurden „verweigernde“ Piloten in den Alarmrotten
ersetzt?

o) Woher wurden ggf. zur Befolgung eines Abschussbefehls bereite Ersatz-
piloten gewonnen?

p) In welcher Weise wurden Piloten bei der Befragung über ihre Abschuss-
bereitschaft und vor einer diesbezüglichen Erklärung rechtlich aufgeklärt,
insbesondere über ihre höchstpersönliche strafrechtliche Verantwortlich-
keit wegen Totschlags nach solchem Abschuss?

q) Aktualisierte und wiederholte der Bundesminister der Verteidigung seit-
her (ggf. über Dritte) seine Befragungen?

r) Wenn ja: Wie lauten dazu die Antworten entsprechend vorstehender
Fragen 4a bis 4q?

s) Welche praktischen und rechtlichen Folgen hat es für Piloten, die einen
Abschussbefehl entweder befolgen oder verweigern bzw. dies jeweils vor-
her ankündigen?

Gilt auch hinsichtlich eines solchen Abschussbefehls die Antwort des Par-
lamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey vom 19. September 2007
auf die Frage 44 des Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, dass „rechtmäßige Be-
fehle zu befolgen (sind)“ (Bundestagsdrucksache 16/6486)?

t) Ist der diesbezügliche „ressortübergreifende Abstimmungsbedarf“ inzwi-
schen erfolgreich überwunden worden, aufgrund dessen das Bundes-
ministerium der Verteidigung für die o. g. parlamentarische Antwort An-
fang September 2007 eine erforderliche Fristverlängerung erbat (Spiegel
online vom 17. September 2007; FAZ.net vom 21. September 2007)?

Wenn ja, mit welchem Ergebnis?

4. Betrachtet die Bundesregierung „Renegade Aircraft“, die von innerhalb oder
außerhalb der deutschen Staatsgrenze in den Luftraum der Bundesrepublik
Deutschland eingeflogen sind, als Angriff von außen, dessen Abwehr durch
die Streitkräfte als Verteidigung im Sinne von Artikel 87a, Abs. 2 GG zu wer-
ten ist

a) bereits nach derzeitiger Rechtslage?
b) aufgrund dahingehender zulässiger Grundgesetzänderung?

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5. Was versteht die Bundesregierung unter einem Quasi-Verteidigungsfall?

Will sie diesen Fall gesetzlich regeln und gegebenenfalls wie ?

6. Welche sonstigen konkreten Planungen stellt die Bundesregierung zur Ände-
rung des Grundgesetzes an, die den Abschuss von „Renegade Aircraft“ be-
treffen, insbesondere bezüglich der Artikel 35 und 87a GG?

Berlin, den 6. Dezember 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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