BT-Drucksache 16/7161

zu dem Antrag der Bundesregierung -16/6939- Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

Vom 14. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7161
16. Wahlperiode 14. 11. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder
Steenblock, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/6939, 16/7140 –

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der
Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die
USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des
Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und
1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der US-geführten Operation
Enduring Freedom ist rechtlich und politisch umstritten. Sechs Jahre nach
den Anschlägen vom 11. September 2001 müssen die Wirksamkeit der ein-
gesetzten Mittel und die Rechtsgrundlagen für den Einsatz kritisch hinter-
fragt werden. Das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung
nach Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen – und davon abgeleitet
der Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags – ist keine hinreichende
rechtliche Grundlage mehr, um einen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
und am Horn von Afrika zweifelsfrei und auf unbegrenzte Zeit zu begründen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur TORNADO-Entsen-
dung (3. Juli 2007) die Bewertung der völkerrechtlichen Zulässigkeit der
Operation Enduring Freedom in Afghanistan dadurch umgangen, dass es die
klare Trennung zwischen OEF und ISAF als gegeben vorausgesetzt hat. Es
stellte fest, dass ein Organstreitverfahren „keine allgemeine Prüfung der Völ-
kerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der NATO“ erfordere:
„Weder hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob die Anschläge des

11. September 2001 völkerrechtlich dem damaligen afghanischen Taliban-
Regime zugerechnet werden können, noch ist zu entscheiden, ob sich die
Operation Enduring Freedom auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung
stützen konnte und fortdauernd kann und welche Rolle diesbezüglich den
Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen zukommt, in denen dieser das Selbstverteidigungsrecht anerkennt
bzw. bekräftigt.“

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2. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat wiederholt festgestellt, dass
islamistischer internationaler Terrorismus und andere Arten des Terrorismus
eine Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens darstel-
len. Der Sicherheitsrat betont zugleich die Verpflichtung der Staaten, Maß-
nahmen zur Bekämpfung des Terrorismus nur im Einklang mit dem Völker-
recht zu ergreifen. Im Kampf gegen internationale Terroristen kann der Ein-
satz von bewaffneten Kräften ein notwendiges Mittel sein, um die Gefahr ein-
zudämmen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die
bisherige Bilanz des vorwiegend militärischen und nachgeordnet politischen
Vorgehens gegen den internationalen Terrorismus ist ernüchternd. In den Jah-
ren 2001 bis 2005 gelang es, die Taliban von der Macht in Afghanistan zu
vertreiben und fernzuhalten sowie die dortige Ausbildungsinfrastruktur von
Al Qaida zu zerstören. Der wesentlich von Deutschland forcierte Petersberg
Prozess führte zur Schaffung der Verfassung für eine islamische Republik in
Afghanistan. Der US-geführte „Krieg gegen den Terror“ folgte aber dem Irr-
glauben, den islamistischen internationalen Terrorismus vor allem militärisch
besiegen zu können. Er wurde oft mit unverhältnismäßigen Mitteln und unter
Inkaufnahme von großen Opfern unter der Zivilbevölkerung durchgeführt.
Zusammen mit der Entführung von Verdächtigungen und der unwürdigen
und völkerrechtswidrigen Behandlung von Gefangenen förderten diese Vor-
gehensweisen islamistische Militanz, statt sie einzudämmen, und trugen zu
einer gesellschaftlichen Entfremdung gegenüber einer militärischen Terroris-
musbekämpfung bei. Der US-Angriff auf den Irak hat dann den Stabilisie-
rungsprozess in Afghanistan zurückgeworfen und der Akzeptanz der interna-
tionalen Präsenz dort erheblich geschadet. Das internationale Vorgehen ge-
gen den islamistischen Terrorismus muss auf den Prüfstand.

3. Bis zum heutigen Tage sind wichtige Verantwortliche der Terroranschläge
des 11. September 2001 noch nicht gefasst, ist ihre veränderte Infrastruktur
nicht zerschlagen. Insbesondere die unwegsamen paschtunischen Stammes-
gebiete im Westen Pakistans bilden die neuen Rückzugsräume, aus denen Al
Qaida und andere terroristische sowie radikalislamische Gruppen relativ ge-
schützt operieren. Auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder zu Ein-
zelaktionen von amerikanischen Kommandotruppen kam, gehört Pakistan
nicht zum Einsatzgebiet der Operation Enduring Freedom. Es ist die Aufgabe
der jeweiligen Regierung – in diesem Fall Pakistans –, entschieden gegen die
bewaffneten terroristischen Gruppen im eigenen Land vorzugehen und den
Gruppen den Nährboden zu entziehen.

4. Weil das Taliban-Regime dieser Aufgabe über Jahre hinweg nicht nachkam
und den Attentätern nach dem 11. September 2001 weiter Schutz und Unter-
stützung bot, haben sich die USA – unterstützt und getragen von einer breiten
Allianz von Staaten und gestützt auf die UN-Sicherheitsrats-Resolution 1368
vom 12. September 2001 – zur militärischen Selbstverteidigung entschieden.
Mit dem Abschluss des Petersberg-Prozesses, hat Afghanistan seine Souve-
ränität wiedererlangt. Die afghanische Regierung trägt damit auch im Be-
reich der Sicherheit, inklusive der Terrorismusbekämpfung, die Hauptverant-
wortung. Sie wird hierbei von der internationalen Staatengemeinschaft, ins-
besondere VN-mandatierten International Security Assistance Force (ISAF)
unterstützt.

5. Die Vereinten Nationen haben im Dezember 2001 das Mandat der ISAF-Mis-
sion zunächst nur auf Kabul und Umgebung beschränkt und im Oktober 2003
auf ganz Afghanistan ausgeweitet. Die seit August 2003 von der NATO ge-
führte ISAF-Truppe übernahm zunächst im Norden, dann im Westen und
schließlich 2006 im Süden und Osten die Verantwortung. Im Operationsplan
vom Dezember 2005 hat ISAF die Ausbildung der Afghanischen Nationalar-

mee und die Aufgabe der Bekämpfung von bewaffneten Aufständischen mit
übernommen. Am 5. Oktober 2006 hat die auf 40 000 Kräfte aufgewachsene

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7161

ISAF die territoriale Ausweitung abgeschlossen. Spätestens damit ist die Be-
rufung auf das Recht auf Selbstverteidigung und somit die Rechtsgrundlage
für die Operation Enduring Freedom in Afghanistan fragwürdig geworden.
Für die Operation Enduring Freedom liegt, kein Status of Forces Agreement
(SOFA) vor, das die Rechte der Streitkräfte in Afghanistan regelt. Die afgha-
nische Regierung hat die USA wiederholt aufgefordert, eigenmächtige Mili-
täraktionen zu unterlassen.

6. Mit der Operation Enduring Freedom (OEF) unterhalten die USA in Afgha-
nistan eine extralegale Parallelstruktur, die für den Wiederaufbau, die Ausbil-
dung von Armee und Polizei, die Bekämpfung von Aufständischen und den
Terrorkampf zuständig ist. Abstimmungsprozesse mit den Partnern können
damit umgangen, Einblicke und Einwirkungsmöglichkeiten begrenzt wer-
den. Die Berichte der Bundesregierung zeigen, dass sie über weite Strecken
keine Kenntnis und keinen Einfluss darauf hat, was im Rahmen der OEF ge-
schieht. Der „Military Commissions Act“ erlaubt den US-Truppen uneinge-
schränkte auch willkürliche Verhaftung von Terrorverdächtigen sowie die
Anwendung folterähnlicher Verhörmethoden.

Zurzeit sind noch ca. 12 000 OEF-Kräfte in Afghanistan präsent, davon
11 000 US-Soldaten. Die Operation Enduring Freedom ist vornehmlich nicht
mit der unmittelbaren Terrorismusbekämpfung befasst. Etwa 6 000 US-Sol-
daten von OEF sind an der Ausbildung, Einsatzführung und -begleitung der
afghanischen Armee, der afghanischen Polizei und der afghanischen Hilfs-
polizei beteiligt. Die von OEF ausgebildeten und geführten Truppen und
Sicherheitskräfte werden zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt und von
OEF-Truppen begleitet. In den gemeinsamen Operationsgebieten von ISAF
und OEF im Osten und Süden kann zwischen ISAF- und OEF-Kräften, Ter-
rorbekämpfung und Aufstandsbekämpfung, Einsätzen unter dem Mandat der
VN oder Einsätzen unter Berufung auf das Recht auf Selbstverteidigung von
außen nicht mehr unterschieden werden.

Das Nebeneinander getrennt geführter und unterschiedlichen Aufträgen fol-
genden Missionen im gleichen Operationsgebiet widerspricht allen militä-
rischen Regeln und der politischen Vernunft. Der Versuch, beide Operationen
gleichzeitig getrennt zu halten und möglichst eng zu koordinieren, muss zu
Verwerfungen führen. Insbesondere die militärischen Kommandoaktionen
und das teils rücksichtslose Vorgehen von OEF erweisen sich als kontrapro-
duktiv und unverantwortlich. Sie gefährden ISAF und die Aussichten auf den
Gesamterfolg in Afghanistan. Der Deutsche Bundestag nimmt zur Kenntnis,
dass sich ISAF und OEF um einheitliche Einsatzregeln und um die Vermei-
dung von Opfern unter der Zivilbevölkerung bemühen. Das reicht nicht aus.
Es darf außerhalb des ISAF-Verantwortungsbereichs keine weiteren auslän-
dischen Militär- und Sicherheitskräfte geben.

7. Der deutsche militärische Beitrag zum Anti-Terror-Kampf beschränkte sich
in den vergangenen Jahren auf die maritimen Beiträge am Horn von Afrika
und im Mittelmeer. Laut Aussage von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung
kam das Kommando Spezialkräfte im Rahmen von OEF seit Oktober 2005 in
Afghanistan nicht mehr zum Einsatz. Bei früheren Einsätzen hatten die Spe-
zialsoldaten ihren Auftrag, mutmaßliche Terroristen zu bekämpfen, zu ver-
haften und vor Gericht zu bringen, nur sehr eingeschränkt durchführen kön-
nen, weil auf US-Seite eine rechtsstaatliche Vorgehensweise nicht gewähr-
leistet war. Die Überwachung des Mittelmeerraums bedarf keines gesonder-
ten Mandats; sie gehört zu den Routineaufgaben der NATO. Die Obergrenze
von 1 400 Soldatinnen und Soldaten liegt weit über den ca. 300 Soldatinnen
und Soldaten, die in den vergangenen Jahren durchschnittlich im Einsatz

waren. Für die zunehmend in den Vordergrund gerückte Begründung der
Überwachung strategisch wichtiger Seewege am Horn von Afrika, gibt es

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keine Rechtsgrundlage. Gleichzeitig gehören Piraterie zur See und der
Schutz der Schifffahrtswege zu jenen Bereichen, bei denen im Rahmen kol-
lektiver Sicherheit international Handlungs- und Regelungsbedarf besteht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom und an der
Operation Active Endeavour im Mittelmeer zu beenden,

2. für den Einsatz der Marine zur Überwachung der für „den Welthandel strate-
gisch wichtigen Seepassage“ ein Mandat der Vereinten Nationen vorzulegen
und darauf hinzuwirken, dass Piraterie zur See von der internationalen Staa-
tengemeinschaft im Einklang mit dem Völkerrecht wirksamer bekämpft
wird,

3. gegenüber den USA, in der NATO und gegenüber den ISAF-Partnern darauf
zu drängen, dass das Nebeneinander von ISAF und OEF beendet wird und
die Gesamtverantwortung für die militärische Sicherheitsunterstützung der
afghanischen Regierung allein bei ISAF liegt,

4. darauf hinzuwirken, dass die US-Administration die nationale Ausbildung
der afghanischen Polizei- und Militärkräfte unter dem Dach der Operation
Enduring Freedom beendet und die militärischen Ausbildungsanteile in die
ISAF-Mission einbringt,

5. darauf zu drängen, dass die anderen an OEF beteiligten Staaten weiterhin
Ressourcen für die ISAF-Mission zur Verfügung stellen, und die Strukturen
und Ressourcen von ISAF zu stärken,

6. darauf hinzuwirken, dass die afghanische Armee, die afghanische Polizei und
die ISAF-Kräfte bei ihrem Vorgehen gegen militante Oppositionsgruppen
künftig alles unternehmen, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermei-
den,

7. die Verhütung von Opfern, die Einhaltung der Menschenrechte und des
humanitären Kriegsvölkerrechts zu einem entscheidenden Maßstab zu ma-
chen und in der Bundeswehr und gegenüber den Partnernationen darauf zu
drängen, dass dieser Maßstab in die Praxis umgesetzt und wirksam über-
wacht wird,

8. in der NATO für ein Verfahren einzutreten, das den Bündnisfall – insbeson-
dere dessen Ausrufung, Konsequenzen und Beendigung – rechtlich eindeutig
regelt.

Berlin, den 14. November 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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