BT-Drucksache 16/7113

Regelsätze bedarfsgerecht anpassen

Vom 14. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7113
16. Wahlperiode 14. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Dr. Thea Dückert, Kai Gehring, Katrin Göring-
Eckardt, Britta Haßelmann, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel, Dr. Gerhard
Schick und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Regelsätze bedarfsgerecht anpassen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass die Regelsatzleistungen gegenwärtig
nicht bedarfsdeckend und in ihrer Höhe nicht dauerhaft Existenz sichernd sind.
Sowohl das System der Regelsatzermittlung als auch der jährliche Anpassungs-
mechanismus müssen grundsätzlich neu gefasst werden.

Des Weiteren erkennt der Deutsche Bundestag an, dass sich die Praxis, die An-
passung der Regelsätze an die Entwicklung der Renten zu koppeln, als realitäts-
fern erwiesen hat. Die jüngste Regelsatz-Anpassung zum Juli 2007 an den Ren-
tenwert hat lediglich eine Steigerung des Regelsatzes um 2 Euro von 345 Euro
auf 347 Euro ergeben. Eine Analyse des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtver-
bandes belegt, dass selbst bei Zugrundelegung der unzureichenden regierungs-
amtlichen Bedarfsermittlung der Regelsatz heute bei 364 Euro liegen müsste,
um die gestiegenen Lebenshaltungskosten in den regelsatzrelevanten Bereichen
auszugleichen. Angesichts drastischer Preissteigerungen für Energie und Le-
bensmittel muss künftig – zumindest in den regelsatzrelevanten Bereichen –
eine Anpassung an den Lebenshaltungskostenindex vorgenommen werden.

Wird außerdem auf die realitätsferne Praxis verzichtet, Abschläge auf die Aus-
gabenpositionen der Referenzgruppe der unteren 20 Prozent der Einkommen
vorzunehmen, so müsste der Regelsatz für Erwachsene nach den Berechnungen
des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) heute bei rund
420 Euro liegen.

Der Deutsche Bundestag hält die Bedarfsermittlung für Kinder und Jugendliche
für unzureichend. Für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres beträgt
der Regelsatz 60 Prozent des Eckregelsatzes von derzeit 347 Euro. Dies ent-
spricht einem Betrag von 208 Euro. Für Jugendliche ab 15 Jahren beträgt der
Regelsatz 80 Prozent des Eckregelsatzes. Dies entspricht einem Betrag von
278 Euro (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – SGB II).

Anstatt die besonderen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen alters- und
bedarfsspezifisch zu erheben, werden die Regelsätze für Kinder pauschal aus
dem Eckregelsatz eines erwachsenen, alleinstehenden Haushaltsvorstandes abge-
leitet. Der Eckregelsatz wird nicht auf der Basis des Verbrauchsverhaltens von ein-
kommensarmen Familien ermittelt, sondern aus dem Verbrauchsverhalten der
einkommensarmen Einpersonenhaushalte. Die so definierte Bezugsgruppe der
Alleinstehenden besteht mehrheitlich aus Rentnern. Sie ist in keiner Weise ge-
eignet, die besonderen entwicklungsbedingten Bedarfe von Kindern abzubilden.

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Zudem sind einmalige Leistungen, die in der alten Sozialhilfe vor dem Jahr
2005 primär für die besonderen Bedarfe von Kindern in Anspruch genommen
wurden, im neuen Sozialgeld pauschal in den Regelsatz integriert worden. Als
lebensfern erweist sich inzwischen auch die Aufhebung von Altersklassen bei
den pauschalen Regelsätzen.

Seit dem 1. Januar 2005 werden nicht mehr die besonderen Bedarfe von Kin-
dern im schulpflichtigen Alter von 7 bis 14 Jahren berücksichtigt. Während es
für kleine Kinder unter 7 Jahren im Arbeitslosengeld II zu einer Verbesserung
gekommen ist, stehen Kinder ab dem siebten Lebensjahr heute schlechter da als
in der alten Sozialhilfe. Die Bedarfe von Schulkindern werden mit denen von
Säuglingen gleichgestellt.

Aufgrund der unzulänglichen Bedarfsfestlegung sind die betroffenen Familien
bei längerem Leistungsbezug vielfach nicht in der Lage, Rücklagen zu bilden.
Dies führt dazu, dass die Mittel für die Anschaffung von Kleidung, den Mehr-
aufwand für eine gesunde Ernährung, die Mitgliedsgebühren für den Sportver-
ein, die Kosten für die Teilnahme am Schulessen oder für die Busfahrkarte
nicht aufgebracht werden können.

Da die derzeitigen Regelsätze die Lebenslage einer immer größer werdenden
Zahl armer Kinder und Jugendlicher verschlechtern, müssen dringend korrigie-
rende Maßnahmen für eine armutsfeste und kindergerechte Erhebung der Re-
gelsätze ergriffen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Regelsätze als Referenzgröße für Sozialleistungen nach dem SGB II und
dem SGB XII so auszugestalten, dass sie dem sozialstaatlichen Gebot der
Deckung des Existenzminimums für alle Menschen Rechnung tragen;

2. bei der damit verbundenen Neufestsetzung der Regelsätze auf pauschale Ab-
schläge auf die Ausgabenpositionen künftig weitgehend zu verzichten. Bil-
dungsausgaben sind mit in die Ausgabenermittlung einzubeziehen;

3. den Anpassungsmechanismus für die Regelsätze an die Verbraucherpreis-
entwicklung im regelsatzrelevanten Bereich zu koppeln;

4. die Regelsätze für Kinder und Jugendliche auf eine neue Berechnungsgrund-
lage zu stellen, die den alterspezifischen und besonderen entwicklungsbe-
dingten Bedarf berücksichtigt;

5. für die Ermittlung der neuen Berechnungsgrundlage unverzüglich eine un-
abhängige Kommission mit Vertretern aus der Fachwissenschaft, den Wohl-
fahrtsverbänden, Vertretern der Träger der Sozialhilfe und der Jugendhilfe
einzuberufen. Die Ermittlung und Festlegung der Bedarfe muss nachvoll-
ziehbar und transparent sein;

6. die Regelsätze anhand der Ergebnisse der unabhängigen Expertenkommis-
sion unverzüglich zu überarbeiten. Die Überarbeitung erfolgt durch das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit den
Bundesländern und ist in Form eines Gesetzentwurfs in den Bundestag ein-
zubringen;

7. es den Kostenträgern des SGB II, SGB XII und des Asylbewerberleistungs-
gesetzes zu ermöglichen, Sachleistungen zu gewähren, die der körperlichen,
geistigen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen.
Berechtigte dieser Sachleistungen sollen Kinder und Jugendliche in Fami-
lien sein, die Leistungen nach dem SGB II, SGB XII und dem Asylbewer-
berleistungsgesetz beziehen, und solche, die den Kinderzuschlag nach § 6a
des Bundeskindergeldgesetzes erhalten. Sachleistungen sind z. B.
a) Lernmittel und Schulmaterial in begründeten Fällen, sofern keine Erstat-
tung durch das Bundesland vorgesehen ist,

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b) Mahlzeiten im Rahmen der Ganztagsbetreuung in Kindertagesstätten und
Schulen,

c) die Inanspruchnahme von kommunalen Sportangeboten, Musikschulen
und Bibliotheken,

d) Kosten für die Schülerbeförderung in begründeten Fällen, sofern keine
Erstattung durch das Bundesland vorgesehen ist.

Berlin, den 14. November 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Angesichts stagnierender Löhne und Renten wurde seit Einführung des Arbeits-
losengeldes II im Jahre 2005 erstmals zum 1. Juli 2007 eine Anpassung der Re-
gelsatzes für das Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe um 2 Euro auf 347 Euro
vorgenommen. In Anbetracht realer Preissteigerungen entspricht dies nach Be-
rechnungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes einem Kaufkraft-
verlust von 5 Prozent. Die Kopplung der Regelsatzerhöhungen an die Steigerung
des Rentenwerts führt zu einer systematischen Unterversorgung von Sozialleis-
tungsbeziehenden.

Dies gilt insbesondere für die Regelsätze für Kinder und Jugendliche. Die Kin-
derregelsätze orientieren sich nach einhelliger Auffassung von Experten nicht an
dem besonderen entwicklungsbedingten Bedarf von Kindern, sondern werden
mehr oder weniger willkürlich von einer unzureichenden Bezugsgröße mehrfach
pauschal abgeleitet. Durch mehrfach vorgenommene pauschale Abschläge von
ungeeigneten Bezugsgrößen stellt der Regelsatz für Kinder im Ergebnis eine
realitätsferne Größe dar. So sind beispielsweise für Kinder bis 14 Jahre nur
2,56 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und Getränke im Regelsatz enthalten, ob-
wohl nach Auffassung von Experten eine gesunde, die Entwicklung fördernde
Ernährung mindestens vier Euro am Tag kostet. Selbst der jüngste Familienbe-
richt der Bundesregierung vom 26. April 2006 (Bundestagsdrucksache 16/1360)
geht mit Verweis auf wissenschaftliche Studien davon aus, dass mit den derzei-
tigen Regelsatzleistungen selbst bei äußerster Sparsamkeit nur bis zum 24. Tag
eines Monats eine gesunde Ernährung für Kinder sichergestellt werden kann. Ab-
solut unzureichend für junge Menschen, die im Wachstum befindlich sind, ist ein
Ansatz von 20,54 Euro im Monat für Bekleidung und Schuhe.

Eine zentrale Erkenntnis der PISA-Studie ist, dass heute immer noch der so-
ziale Status der Eltern weitgehend den Bildungserfolg ihrer Kinder bestimmt.
Erziehungs-, Betreuungs- und Ausbildungskosten werden im Regelsatz jedoch
nicht ausreichend abgebildet. Dies gilt insbesondere für solche Ausgaben, die
für eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsangeboten erforderlich sind. Für
Bildung, wie z. B. die Teilnahme an Kursen oder an einem Schüleraustausch,
sind im Regelsatz gar keine Ausgabenpositionen vorgesehen. Durch pauschale
Abschläge und prozentuale Ableitungen sind im Regelsatz für Bücher, Schreib-
waren, Software, Ausleihgebühren, Schulmaterialien und Tagesausflüge und
für den Besuch von Sport- und Kulturveranstaltungen bzw. Einrichtungen nur
22,88 Euro pro Monat vorgesehen. Diese Anteile entsprechen nicht den realen
Lebensverhältnissen und nicht dem besonderen entwicklungsbedingten Bedarf
von Kindern.
Unumstritten ist ebenfalls, dass Kinderarmut in den letzten Jahren trotz des Wirt-
schaftswachstums gestiegen ist. Armut macht krank – auch psychisch. Auf die-

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sen Satz lassen sich Studien über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
reduzieren. So leiden Kinder aus sozial schwachen Schichten häufig an Über-
gewicht, motorischen Problemen und psychischen Auffälligkeiten (vgl. z. B. die
aktuelle „Kiggs-Studie“ des Robert-Koch-Instituts). Um Kinderarmut wirksam
zu bekämpfen, muss die Politik auf mehreren Wirkungsebenen ansetzen. So ist
zum der Ausbau von Ganztagsschulen eine bedarfsgerechte und qualitativ hoch-
wertige Kinderbetreuung vom frühen Alter an unverzichtbar. Eine ausreichende
materielle Bedarfsabsicherung ist jedoch eine zwingend notwendige Bedingung
für die Inanspruchnahme von weiteren staatlichen Förderleistungen. Das Fehlen
der materiellen Grundausstattung behindert die Wirkung von weiteren familien-,
bildungs- und beschäftigungspolitischen Reformansätzen. Vor dem Hintergrund
steigender Armutsgefährdungen von Familien mit Kindern ist nicht nachvoll-
ziehbar, dass in der so genannten Wissensgesellschaft und in Zeiten des demo-
grafischen Wandels die Teilhabe- und Bildungschancen von Kindern und Ju-
gendlichen durch eine nicht den entwicklungsbedingten Bedarf deckende
Sozialleistung eingeschränkt werden.

Eine grundlegende Überprüfung der Regelsätze durch das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales hat nicht stattgefunden. Der Bundesminister für Arbeit
und Soziales, Franz Müntefering, kündigte zwar am 10. August 2007 ange-
sichts drastisch gestiegener Lebensmittelpreise eine Überprüfung der Regel-
sätze im Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe sowie des jährlichen Anpas-
sungsmechanismus an. In dem kürzlich bekannt gewordenen internen „Bericht
zum Anpassungsmechanismus der Regelsätze bei Sozialhilfe und Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wird
deutlich, dass die Bundesregierung nicht beabsichtigt, das Regelsatzsystem neu zu
ordnen und eine Existenz sichernde Grundsicherung auf den Weg zu bringen.

Zwar führt das Bundesministerium selbst aus, dass eine Anpassung an den
Preisindex auf der Basis des regelsatzrelevanten Verbrauchs zu einer Erhöhung
des Regelsatzes auf 359 Euro führen müsse. Das Bundesministerium zieht
jedoch keine Konsequenzen aus diesem Rechenergebnis. Im Gegenteil: Nach
Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dürften die Regel-
sätze für Erwachsene und Kinder nicht an die Preisentwicklung angepasst wer-
den, weil dies zu einer Besserstellung gegenüber Lohnempfängern und Rentern
führen würde. Dieser Vergleich beruht auf einem systematischen Fehler. Denn
das Rentensystem beruht auf dem Versicherungsprinzip. Dagegen haben das
Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe für erwerbsunfähige und alte Menschen
die Funktion, die Existenz der Menschen zu sichern, denen Einkommen aus
Rente und Erwerbseinkünften nicht ausreichend oder gar nicht zur Verfügung
stehen. Eine Erhöhung der Regelsätze käme deshalb auch der stetig wachsen-
den Zahl von Niedrigeinkommensbeziehenden und Rentnern mit nicht Existenz
sichernden Rente zugute.

Schließlich ist die Methode zur Ermittlung des regelsatzrelevanten Bedarfs we-
niger denn je geeignet. Zur Ermittlung des Regelsatzes werden die Ausgaben
der unteren 20 Prozent der Einkommen in Einpersonenhaushalten herangezo-
gen. Diese Einkommensgruppe ist laut einer Studie der Armutsforscherin Irene
Becker aus dem Jahre 2006 in den letzten Jahren in besonderer Weise unter den
Druck sinkender Reallöhne geraten und von Armut, Überschuldung und Ver-
mögensabbau betroffen. Die Ausgaben dieser Haushalte stellen – anders als in
früheren Jahren – die unterste Grenze der Verbrauchsausgaben dar. Da das un-
tere Fünftel seit Jahren von der Einkommens- und Wachstumsdynamik abge-
koppelt ist, ist es nicht mehr sachgemäß, auf deren Ausgaben nochmals pau-
schale Abschläge vorzunehmen und bestimmte Ausgabenpositionen gar nicht
zu berücksichtigen. So müssen beispielsweise künftig die Kosten für Bildung
bei der Bedarfsfeststellung Berücksichtigung finden.

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