BT-Drucksache 16/7040

Regelsätze erhöhen - Dynamisierung anpassen - Kosten für Schulbedarfe abdecken

Vom 8. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7040
16. Wahlperiode 08. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank
Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Regelsätze erhöhen – Dynamisierung anpassen – Kosten für Schulbedarfe
abdecken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Über 7 Millionen Erwachsene und Kinder im Leistungsbezug der Grundsiche-
rungssysteme nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) (Hartz IV) und
dem SGB XII (Sozialhilfe sowie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin-
derung) sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht, weil die derzeitige
Höhe der Regelsätze (SGB XII) bzw. Regelleistungen (SGB II) zu niedrig ist, um
die notwendigen Bedarfe der Berechtigten zu decken.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales hat in einer Pressemitteilung seines
Bundesministeriums vom 10. August 2007 mitgeteilt, dass er eine Prüfung der
Regelsätze vornehmen wird. Der Bundesminister hat die Thematik auf die Frage
der jährlichen Anpassung der Regelsätze reduziert, die Prüfung unter den Vor-
behalt einer Kostenneutralität für den Bund gestellt und mit der Einführung ei-
nes Mindestlohns verknüpft. Der Deutsche Bundestag betont die umfassende
Notwendigkeit einer Überprüfung des Regelsatzsystems und stellt klar, dass
Leistungen, die das grundlegende Verfassungsprinzip der Menschenwürde
(Artikel 1 i. V. m. Artikel 20 des Grundgesetzes (GG): Sozialstaatsgebot) kon-
kretisieren, nicht unter finanzielle oder sonstige Vorbehalte gestellt werden dür-
fen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. kurzfristig den Eckregelsatz für das SGB XII und analog für das SGB II auf
435 Euro anzuheben. Das für Grundsicherungssysteme grundlegende Be-
darfsdeckungsprinzip ist explizit anzuerkennen und in vollem Umfang um-
zusetzen. Die Vermeidung von (Einkommens-)Armut ist zu gewährleisten
und die Leistungshöhe sukzessive diesem Ziel anzunähern;

2. die jährliche Anpassung der Regelsätze nicht länger an dem aktuellen Ren-

tenwert auszurichten, sondern an der Entwicklung der Lebenshaltungskos-
ten;

3. eine Regelung in das Gesetz aufzunehmen, die sicherstellt, dass für die Be-
schaffung von besonderen Lernmitteln (mit Ausnahme von Schulbüchern)
für Schülerinnen und Schüler bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres je-
weils zu Beginn eines Schulhalbjahres Leistungen in Höhe von 20 Prozent

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der für die Schülerin oder den Schüler maßgebenden Regelleistung zu
erbringen sind;

4. in das SGB XII eine analoge Regelung wie in Nummer 3 einzuführen.

Berlin, den 7. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Das zentrale Ziel der Grundsicherung ist die Deckung des soziokulturellen
Existenzminimums. Nach den grundlegenden Prinzipien gehört dazu das Be-
darfsdeckungsprinzip, nach dem die vollständige Deckung der Bedarfe von
Berechtigten zu gewährleisten ist. Außerdem muss das soziokulturelle Exis-
tenzminimum Ausgrenzung verhindern und gesellschaftliche Teilhabe ermög-
lichen. Zusätzlich muss sich die Grundsicherung zukünftig stärker an dem
expliziten Ziel der Vermeidung von (Einkommens-)Armut messen lassen. Die
bisherigen Leistungen der Grundsicherung – Grundsicherung für Arbeit-
suchende nach dem SGB II, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem SGB XII – erfüllen bislang diese Standards
nicht. Notwendig ist daher eine explizite Anerkennung des Bedarfsdeckungs-
prinzips und die explizite Ausrichtung der Grundsicherungssysteme auf das
Ziel der Armutsbekämpfung. Nach dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbe-
richt der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 15/5015) liegt die Armuts-
risikogrenze bei 938 Euro (berechnet nach der Einkommens- und Verbrauchs-
stichprobe (EVS) 2003). Nach der Endauswertung der EVS ergibt sich für das
Jahr 2003 eine Armutsrisikogrenze von 1 000 Euro (Statistisches Bundesamt
(2006): Wirtschaft und Statistik 11/2006, S. 1178 ff.). Von diesem Niveau sind
die aktuellen Leistungssätze in Deutschland weit entfernt – auch wenn man die
Erstattung der Kosten der Unterkunft und Heizung mit betrachtet. Internatio-
nale Vergleiche des Leistungsniveaus verschiedener Grundsicherungssysteme
zeigen allerdings, dass beispielsweise Länder in Skandinavien die Armutsrisi-
kogrenze als Standard der Leistungshöhe für fast alle Haushaltskonstellationen
erreichen (vgl. z. B. Matti Heikkilä (Hrsg.): Social Assistance in Europe. Hel-
sinki: Stakes 2001).

Dem Eckregelsatz nach dem SGB XII kommt in diesem Zusammenhang eine
Schlüsselrolle zu. Dieser Regelsatz ist u. a. Referenzwert für die Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende (SGB II) und bestimmt als soziokulturelles Existenz-
minimum auch den Steuerfreibetrag im Einkommensteuerrecht. Die Ausgestal-
tung und Höhe des Regelsatzes betrifft somit den Großteil der Betroffenen in
Deutschland. Das Regelsatzsystem bildet einen Eckpfeiler des bundesdeutschen
Sozialstaates.

Die Bestimmung des Eckregelsatzes erfolgt nach dem so genannten Statistik-
modell. Das Verbrauchsverhalten einer ausgewählten Referenzgruppe dient als
Orientierung für die Berechnung des Regelsatzes nach der Regelsatzverord-
nung. Zahlreiche Probleme verbinden sich mit diesem Verfahren in der Praxis
(vgl. Irene Becker (2006): Bedarfsgerechtigkeit und soziokulturelles Existenz-
minimum. Düsseldorf; Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Für ein menschen-
würdiges Existenzminimum“, Bundestagsdrucksache 16/2743). Wesentlich ist

aber, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband dargelegt hat, dass bei sachge-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7040

rechter Anwendung der Regelsatzverordnung der offiziell errechnete Eckregel-
satz um etwa 20 Prozent zu niedrig angesetzt ist (Der Paritätische Wohlfahrts-
verband (2006): „Zum Leben zu wenig …“, Neue Regelsatzberechnung 2006.
Berlin). Ausgehend von dieser Expertise fordert der Verband einen Eckregelsatz
von 415 Euro für das Jahr 2006. Seitdem hat es insbesondere im Bereich der
Haushaltsenergie und der Lebensmittel erneut deutliche Preissteigerungen gege-
ben. Um die Armutsfestigkeit des Grundsicherungssystems schneller zu errei-
chen, ist in einem ersten Schritt eine Anhebung auf 435 Euro angemessen.

Durch eine Erhöhung der sogenannten Eckregelsätze erhöhen sich automatisch
auch die von dem Eckregelsatz abgeleiteten Leistungen für Kinder. Damit wird
auch ein wesentlicher Beitrag gegen die hohe und für ein reiches Land wie
Deutschland inakzeptable Kinderarmut geleistet. Mittelfristig ist eine eigenstän-
dige Bedarfsermittlung für Kinder und Jugendliche vorzusehen. Der auch vom
Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (Deutscher Verein) kri-
tisierte Umstand, dass in der Grundsicherung freihändig und ohne konkrete
Bedarfsermittlung über das angemessene Niveau für Kinder und Jugendliche
befunden wurde, ist zu korrigieren.

Zu Nummer 2

Die Anpassung der Eckregelsätze erfolgt durch die aktuelle Auswertung der
EVS. Diese Stichprobe wird alle fünf Jahre erhoben. In der Zwischenzeit erfolgt
die Anpassung der Regelsätze durch eine Orientierung an dem aktuellen Ren-
tenwert. Der prozentuale Anstieg des Rentenwerts wird auf den Eckregelsatz
übertragen. Im Jahr 2007 erfolgte durch dieses Verfahren eine Anhebung um
0,5 Prozent, was zu einem Anstieg des Eckregelsatzes auf 347 Euro führte. Die
Ausrichtung der Anpassung der Grundsicherung an der Entwicklung des aktuel-
len Rentenwerts ist sachfremd und abzulehnen. Das Ziel der Grundsicherung ist
die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums; die Bestim-
mung der Regelsätze hat sich dazu an dem ausschließlichen Kriterium der Be-
darfsdeckung zu messen. Dieses Kriterium spielt aber bei der Ermittlung des ak-
tuellen Rentenwerts keine Rolle. Die Fortschreibung des aktuellen Rentenwerts
erfolgt vielmehr über die Rentenformel. In die Fortschreibung des aktuellen
Rentenwerts sind durch jüngere rentenpolitische Reformen zahlreiche Faktoren
eingegangen, die den Anstieg der Renten dämpfen sollen. Damit ist der aktuelle
Rentenwert als Orientierungsmarke für die jährliche Anpassung der Existenz-
sicherung ungeeignet. Eine im September 2007 vorgelegte Expertise des Paritä-
tischen Wohlfahrtsverbandes bestätigt diese Sicht und beziffert den realen Kauf-
kraftverlust zwischen 2003 und September 2007 auf etwa 16 Euro und damit fast
5 Prozent des aktuellen Regelsatzes von 347 Euro (Der Paritätische Wohlfahrts-
verband (2007): Expertise. Regelsatz und Preisentwicklung: Vorschlag für eine
sachgerechte Anpassung des Regelsatzes an die Preisentwicklung durch einen
regelsatzspezifischen Preisindex. Berlin). Um sicherzustellen, dass kein realer
Kaufkraftverlust bei den Leistungen der Existenzsicherung eintritt, ist daher auf
die Preisentwicklung regelsatzrelevanter Güter und Dienstleistungen abzustel-
len. Zur konkreten Ausgestaltung und Berechnung hat der Paritätische Wohl-
fahrtsverband einen realitätsnahen Vorschlag unterbreitet.

Zu den Nummern 3 und 4

Die Regelleistungen (§ 20 SGB II) und die Regelsätze (§ 28 SGB XII) umfassen
dem Anspruch nach pauschal den gesamten Bedarf für den notwendigen Le-
bensunterhalt mit den definierten Ausnahmen. Im Rahmen der Abteilung 09
(Freizeit, Unterhaltung und Kultur) der Regelsatzverordnung werden die Ausga-
ben für Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Schreibwaren und Zeichenmaterialien
ohne Abschläge berücksichtigt.

Drucksache 16/7040 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Nach mehr als zwei Jahren seit Inkrafttreten des SGB II und des SGB XII zeigt
sich jedoch, dass der notwendige Schulbedarf regelmäßig eine Größenordnung
erreicht, die es angesichts der Gesamtkalkulation der Bedarfspositionen der
Regelleistungen/Regelsätze ausschließt, dass die Schulmittel allein aus der
Regelleistung/dem Regelsatz bestritten werden können.

Die derzeitigen Möglichkeiten, auf unabweisbaren Bedarf für Schulmaterial
durch den Verweis auf Ansparleistungen bzw. eine darlehensweise Hilfegewäh-
rung oder eine im Einzelfall mögliche Erhöhung des Regelsatzes zu reagieren,
sind nicht ausreichend. Damit zeigt sich im Ergebnis, dass erstens die Regelsatz-
höhe unzureichend ist und zweitens die Bedarfsableitung für Kinder durch einen
prozentualen Anteil am Eckregelsatz an den tatsächlichen Bedarfen der Kinder
vorbeigeht.

Es ist daher durch eine Ergänzung des § 23 SGB II und des § 31 SGB XII eine
für beide Leistungssysteme einheitliche Lösung anzustreben.

Mit den Forderungen in den Nummern 3 und 4 wird eine Gesetzesinitiative des
Bundeslandes Rheinland Pfalz (Bundesratsdrucksache 676/07 vom 28. Septem-
ber 2007) aufgegriffen.

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