BT-Drucksache 16/6933

Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhindern

Vom 7. November 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6933
16. Wahlperiode 07. 11. 2007

Antrag
der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Katja Kipping, Katrin Kunert,
Kersten Naumann, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich,
und der Fraktion DIE LINKE.

Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhindern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit Ablauf des Jahres droht durch das Auslaufen der sog. 58er-Regelung nach
§ 65 Abs. 4 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) älteren Langzeit-
erwerbslosen eine Zwangsverrentung mit Abschlägen bis zu 18 Prozent.

Die Zwangsverrentung widerspricht dem grundsätzlichen Ziel, die Erwerbs-
quote der Älteren zu verbessern. Sie zwingt die Betroffenen, Abschläge bei ih-
ren häufig ohnehin niedrigen Renten für den Rest ihres Lebens in Kauf zu neh-
men und nimmt ihnen die Möglichkeit, ihre Chancen auf Wiedereingliederung
in den Arbeitsmarkt durch Inanspruchnahme von Vermittlungs- und Arbeitsför-
derleistungen der Bundesagentur für Arbeit zu verbessern.

Weitere Einschnitte bei den sozialen Rechten älterer Erwerbsloser sind nicht zu
akzeptieren und verlangen kurzfristiges Handeln der Bundesregierung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

kurzfristig das Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)
so zu ändern, dass ältere Erwerbslose weder faktisch noch rechtlich gezwungen
sind, Frührenten mit Abschlägen in Anspruch zu nehmen.

Berlin, den 6. November 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Begründung

1. Nach dem Auslaufen der sog. 58er-Regelung im SGB II Ende 2007 können
und sollen ältere ALG-II-Bezieherinnen und -Bezieher gezwungen werden
einen Rentenantrag zu stellen, sobald sie einen Anspruch auf Leistungen aus
der gesetzlichen Rentenversicherung haben. Dies ergibt sich aus dem Nach-
rangigkeitsprinzip im SGB II (§§ 2, 5 und 9 SGB II) und wurde auch explizit

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von der Bundesregierung bestätigt (so z. B. im April 2007: Bundestagsdruck-
sache 16/5086, S. 4 f.). Die in jüngeren Äußerungen der Bundesregierung
vollzogene Änderung im Sprachgebrauch, wonach es eine Zwangsver-
rentung nicht gäbe (Bundestagsdrucksache 16/5902), ändert nichts an der
substantiellen Rechtslage und zeigt lediglich, dass die Bundesregierung die
sozialpolitische Brisanz erst jüngst erkannt hat.

2. Ungeachtet der partiell positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die
Arbeitsmarktsituation von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wei-
terhin dramatisch. Die Quote der sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnisse lag im Juni 2006 bei den 60- bis 64-Jährigen bei nur 16 Pro-
zent (Bundestagsdrucksache 16/5463). Der Rentenzugang aus Arbeitslosig-
keit von 60- bis 64-Jährigen betrug im Jahr 2005 im Westen 21,8 Prozent bei
den Männern und 22,6 Prozent bei den Frauen. Im Osten Deutschlands lag
die Quote sogar bei 50,4 Prozent bei den Männern sowie 41,9 Prozent bei den
Frauen. Einem erheblichen Teil der älteren Erwerbslosen droht nunmehr die
Zwangsverrentung und damit Abschläge bis zu 18 Prozent.

3. Die Zwangsverrentung mit Abschlägen bedroht nicht nur die betroffenen
Personen mit massiven Abschlägen, sie konterkariert auch die Rhetorik und
Politik der Bundesregierung, nach der die Beschäftigung von älteren Er-
werbslosen gefördert werden soll. Durch die Zwangsverrentung werden die
betroffenen Personen aus dem Arbeitsmarkt ausgesteuert, sie gelten nicht
mehr als arbeitslos und ihnen werden keine Instrumente der aktiven Arbeits-
marktpolitik angeboten. Pointiert formuliert ist die Zwangsverrentung nichts
anderes als eine erzwungene ,moderne‘ Form der Frühverrentung, wobei
allerdings die Kosten über die Rentenabschläge komplett den betroffenen
Personen aufgebürdet werden. Sie dient auch der Schönfärberei der Arbeits-
losenstatistik.

4. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) analysiert in dem
Kurzbericht 14/2007 die Rentenansprüche von ALG-II-Bezieherinnen und
- Bezieher. Das Institut diskutiert hier auch die Veränderungen der Arbeits-
markt- und Rentenpolitik und stellt fest, dass das Sozialrecht die Folgen von
Arbeitslosigkeit zukünftig weniger ausgleicht als früher und betont, dass das
Auslaufen der 58er-Regelung – wenn das verfolgte Ziel der besseren Reinteg-
ration in den Arbeitsmarkt nicht ausreichend erreicht wird – die Gefahr birgt
„das Problem der Altersarmut zusätzlich (zu) verschärfen“. Das IAB rät daher
zu überprüfen „ob nicht auch für die Zeit nach 2007 die Regelung sinnvoll ist,
dass Bezieherinnen und Bezieher von ALG II nur eine Altersrente ohne Ab-
schläge beantragen müssen.“ (jeweils S. 7)

5. Es bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, inwieweit es zuläs-
sig ist, Zwangsverrentung von der Dauer der vorherigen Beitragsleistung ab-
hängig zu machen. Diese Unterscheidung erscheint nicht als sachgerechte Dif-
ferenzierung und insofern wäre von einem Verstoß gegen den Artikel 3 GG
(Gleichheit) auszugehen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/6187). Besonders
problematisch ist, dass Frauen und Schwerbehinderte besonders betroffen
sind. Regelungen, die zum Schutz bestimmter Gruppen eingeführt wurden,
werden nunmehr zu Benachteiligungen (vgl. auch IAB-Kurzbericht 14/2007).
Schließlich ist auch nicht einsichtig, warum langjährig Versicherte in eine
Altersrente mit Abschlägen gezwungen werden, während Versicherte, die die
notwendige Vorversicherungszeit nicht erfüllen, nicht betroffen sind.

6. Durch die Zwangsverrentung droht ein neuer Verschiebebahnhof. Kosten für
die Erwerbslosigkeit älterer Menschen werden zunächst über die Rentenab-
schläge privatisiert. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
setzt erst mit Erreichen des regulären Renteneintrittsalters ein. Sofern und so-

weit die Rentenhöhe unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums sinkt,
müssen daher die Kommunen in Form von Sozialhilfe einspringen. Eine

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6933

Überwälzung der Kosten der (Langzeit-)Erwerbslosigkeit auf die Kommu-
nen ist nicht sachgerecht und muss vermieden werden. Da in der Sozialhilfe
der Rückgriff auf Kinder und Eltern stärker möglich ist als bei der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, kann schließlich auch auf
Familienangehörige zurückgegriffen werden. Ein wesentliches Ziel der Re-
form der Grundsicherung im Alter – Vermeidung von verschämter Armut –
wird damit konterkariert.

7. Die Bundesregierung darf den wachsenden gesellschaftlichen Widerstand
gegen die Zwangsverrentung nicht ignorieren, wenn sie nicht sehenden
Auges den sozialen Frieden riskieren möchte. Die Gewerkschaft Ver.di
appelliert an die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Soziales die
Zwangsverrentung zu stoppen, ähnliche Forderungen stammen unter ande-
rem vom Sozialverband Deutschland. Die IG Metall plant, juristische
Schritte gegen die Zwangsverrentung zu unternehmen.

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