BT-Drucksache 16/6605

Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6605
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, Kerstin
Müller (Köln), Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi
Eid, Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock,
Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die 1999 vereinbarte Anpassung des Vertrags über Konventionelle Streit-
kräfte in Europa (AKSE) muss endlich von Deutschland und den übrigen
Mitgliedstaaten der NATO ratifiziert werden. Gleichzeitig muss die konven-
tionelle Rüstungskontrolle vertieft und erweitert werden. Die Verträge über
die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa sind in Teilberei-
chen von der Realität überholt worden. Einige Regierungen – vor allem im
westlichen Bündnis – haben seit Jahren das Interesse am KSE-Vertrag und an
kooperativer Sicherheit verloren. Im Juli 2007 hat der russische Präsident
Wladimir Putin nach mehrfacher Androhung sein Dekret zur Aussetzung der
Anwendung des KSE-Vertrages erlassen. Sollte das Dekret in 150 Tagen in
Kraft treten, wäre das ein herber Rückschlag für Rüstungskontrolle, Abrüs-
tung und kooperative Sicherheit in Europa. Wo die Rüstungskontrolle welt-
weit in einer tiefen Krise ist, muss jede Schwächung ihrer Systeme vermieden
werden.

2. Die KSE-Verträge sind – neben dem „Wiener Dokument“ und dem „Open-
Skies-Abkommen“ – Meilensteine der multilateralen Rüstungskontrolle und
Abrüstung. Dies ist auch ein Verdienst einer Abrüstungsdiplomatie, die auf
gemeinsame Sicherheit und Vertrauensbildung setzt. Die Krise um den
KSE-Vertrag muss deshalb rasch überwunden werden. Um den Geist und
die Substanz der KSE-Verträge zu bewahren, müssen sie dringend fortent-
wickelt werden. Voraussetzung dafür ist, dass der angepasste KSE-Vertrag
von allen Mitgliedstaaten unverzüglich ratifiziert und möglichst OSZE-weit
umgesetzt wird. Parallel zum Ratifizierungsprozess muss nach weiteren
Schritten gesucht werden, wie kooperative vertragsgestützte Sicherheit im
OSZE-Raum zu gewährleisten ist.

3. Der nach 17-jährigen Verhandlungen am 19. November 1990 zwischen den

22 Regierungschefs der NATO und des Warschauer Paktes unterzeichnete
Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa hat erheblich zur Vertrau-
ensbildung und zur größten konventionellen Abrüstungswelle in Europa bei-
getragen. Für fünf Waffenkategorien (Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahr-
zeuge, Artillerie, Kampfflugzeuge und Angriffshubschrauber) wurden im
Geltungsgebiet vom Atlantik bis zum Ural (ATTU) Obergrenzen und Verifi-
kationsregeln festgelegt, die eine Friedenssicherung auf niedrigerem Rüs-

Drucksache 16/6605 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

tungsniveau ermöglichen sollen. Im KSE-1a-Vertrag wurden 1992 zusätzlich
nationale Obergrenzen für die Personalstärken der Streitkräfte der Mitglieds-
länder vereinbart. Der Vertrag ist seit 1992 in Kraft und wurde von den der-
zeit 30 Vertragsparteien bislang weitestgehend eingehalten. Seit dem Ende
des Kalten Krieges wurden ca. 80 000 konventionelle Waffensysteme redu-
ziert. Die Vertrauensbildung durch gegenseitige Inspektionen trägt zur Stabi-
lität bei.

4. Der KSE-Vertrag ist ein Produkt des Kalten Krieges. Er spiegelt die Macht-
balance vor dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes (Juli 1991) und der
Sowjetunion (Dezember 1991) wider. Spätestens mit der ersten Runde der
NATO-Erweiterung (März 1999) wurde eine Anpassung überfällig. Der
komplexe Istanbuler Anpassungsvertrag vom 19. November 1999 legt allen
Vertragsstaaten restriktivere Begrenzungen, mehr Transparenz- und schär-
fere Verifikationsverpflichtungen auf. Er ersetzt das blockbezogene militä-
rische Gleichgewicht u. a. durch ein maßgeblich von Deutschland entwickel-
tes System flexibler (sub-)regionaler Stabilität mit nationalen und territoria-
len Obergrenzen. Die 25 OSZE-Staaten, die als Nichtmitglieder der NATO
bzw. des Warschauer Paktes dem alten KSE-Vertrag bislang nicht beitreten
konnten, erhalten mit dem AKSE eine Beitrittsperspektive. Außerhalb des
angepassten KSE-Vertrages gingen in Istanbul einzelne Mitgliedstaaten in
der Schlusserklärung der Vertragsstaatenkonferenz und in der Schlusserklä-
rung der Staats- und Regierungschefs der OSZE-Staaten freiwillige zusätz-
liche Verpflichtungen ein. Russland sagte dabei zu, seine regulären Streit-
kräfte aus Georgien und Moldowa abzuziehen.

5. Acht Jahre nach dem KSE-Gipfel ist der angepasste KSE-Vertrag von 26 der
30 KSE-Staaten immer noch nicht ratifiziert. Die neuen NATO-Mitgliedstaa-
ten Estland, Lettland, Litauen und Slowenien sind ihm bisher nicht beigetre-
ten. Der Deutsche Bundestag begrüßt und würdigt angesichts dessen die Tat-
sache, dass Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine den ange-
passten KSE-Vertrag 2004 ratifiziert haben. Dieser Vertrauensvorschuss war
angesichts der Kündigung des ABM-Abkommens (ABM – Begrenzung von
ballistischen Raketenabwehrsystemen) durch die US-Administration (De-
zember 2001), dem unilateralen Vorgehen gegen den Irak (2002/2003) und
der erneuten NATO-Erweiterung um sieben Mitglieder (April 2004) nicht
selbstverständlich.

Die geplante Stationierung von Raketenabwehreinrichtungen in Polen und
Tschechien wird von Russland abgelehnt, die Diskussion um einen NATO-
Beitritt Kroatiens, Mazedoniens, Georgiens und der Ukraine und die Errich-
tung von US-amerikanischen Stützpunkten in Rumänien und Bulgarien
stoßen in Russland auf wenig Verständnis. Die russische Drohung mit der
Aufkündigung des Vertrages über nukleare Mittelstreckenraketen (INF), de-
monstrative Bomben- und Raketentests und militärische Machtdemonstratio-
nen – sei es über Großbritannien oder unter dem Nordpol – sind keine ver-
trauensbildenden Maßnahmen. Die Ratifizierung und Weiterentwicklung des
angepassten KSE-Vertrages und die Verhinderung eines Wettrüstens ist je-
doch nicht zuletzt auch im elementaren Interesse Russlands. Die gegenwärti-
gen 26 Mitgliedstaaten der NATO führen heute in ihren Beständen 20 Prozent
weniger Personal und vom Vertrag begrenztes Gerät als die 16 NATO-Staaten
es 1990 zugesprochen bekommen haben.

6. Im Jahr 2000 haben sich die NATO-Außenminister vor dem Hintergrund des
Tschetschenienkrieges in Florenz darauf festgelegt, das AKSE-Abkommen
erst zu ratifizieren, wenn der Abzug Russlands aus Georgien und Moldowa
umgesetzt sei. Mit diesem Argument verzögern sie bis heute zugleich den

Beitritt neuer Mitglieder zum KSE-Regime. Russland hat durch das am
31. März 2006 geschlossene georgisch-russische Abkommen über den Ab-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6605

zug der russischen Streitkräfte aus Georgien (bis Ende 2008) deutlich ge-
macht, dass es zu den Istanbuler Verpflichtungen steht. Deutschland und die
NATO-Partner haben signalisiert, dass sie bereit sind, an einer konstruktiven
Lösung für das von 500 russischen Soldaten bewachte Munitionsdepot in
Moldowa mitzuwirken.

7. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass sich die Bundesregierung für ein
rasches Inkrafttreten des AKSE-Vertrages einsetzt und auch Russland, die
USA und andere Partner signalisieren, nach einer kooperativen Lösung
suchen zu wollen. Der Bundestag ist bereit, diesen Prozess durch eine rasche
Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages zu unterstützen.

8. Ein Rüstungskontrollabkommen, das die nationalen und territorialen Ober-
grenzen bereits vor seinem Inkrafttreten deutlich unterschreitet, ist abrüs-
tungspolitisch ausbaufähig, zumal der Trend in Europa noch anhält und auch
die russischen Streitkräfte noch Rationalisierungspotential haben. Die Ober-
grenzen in den fünf Hauptkategorien und im Personalbereich können ohne
Sicherheitsverlust weiter abgesenkt werden. Die zu erfassenden Waffenkate-
gorien sollten ausgeweitet und neue Beschaffungstrends – z. B. im Bereich
der unbemannten Fluggeräte – rüstungskontrollpolitisch frühzeitig erkannt
und berücksichtigt werden. Über Satellit detektierbare Identifikationschips
könnten die Verifizierung des Verbleibs einzelner Waffensysteme deutlich
verbessern.

Sicherheitsbedenken und Bedrohungsängste lassen sich nicht allein durch
arithmetische Vergleiche von Waffenkapazitäten beseitigen. Entscheidend
ist, dass die Sicherheitsbedenken ernst genommen und abgebaut werden. Der
NATO-Russland-Rat und die OSZE können hierfür weiter aufgewertet wer-
den.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● den angepassten KSE-Vertrag unverzüglich zu ratifizieren und in der NATO
und bei den übrigen KSE-Staaten für eine rasche Ratifizierung zu werben,

● weiter dafür einzutreten, dass der KSE-Vertrag von allen Partnern uneinge-
schränkt angewendet wird,

● Russland, Georgien, Moldowa und die anderen Staaten dabei nach Kräften zu
unterstützen, dass die in Istanbul eingegangenen freiwilligen Verpflichtungen
zeitnah erfüllt werden können,

● darauf hinzuwirken, dass jene OSZE-Staaten, die noch nicht Mitglied des
KSE-Vertrages sind, aber – wie z. B. die baltischen Staaten oder Slowe-
nien – einem in Kraft getretenen AKSE-Vertrag vergleichsweise einfach
beitreten können, ihren Beitritt vorbereiten und sich bereits jetzt auf frei-
williger Grundlage dem Vertrag anschließen,

● an einer Weiterentwicklung des angepassten KSE-Vertrages konstruktiv und
mit dem Ziel mitzuwirken, das Rüstungsniveau in Europa weiter zu senken
und die vertragsgestützte multilaterale Rüstungskontrolle zu stärken.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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