BT-Drucksache 16/6440

Die gesetzliche Rentenversicherung zur solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausbauen

Vom 19. September 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6440
16. Wahlperiode 19. 09. 2007

Antrag
der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Katja Kipping, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert,
Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der
Fraktion DIE LINKE.

Die gesetzliche Rentenversicherung zur solidarischen
Erwerbstätigenversicherung ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Veränderungen der Arbeitswelt erfordern zukunftsweisende Veränderungen
für die gesetzliche Rentenversicherung. Hohe Erwerbslosigkeit, die Ausweitung
prekärer Beschäftigung und der damit einhergehende Rückgang der sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, die Ausweitung prekärer
Selbstständigkeit und sinkende Löhne und Gehälter, reißen Löcher in die Alters-
sicherung der Menschen und senken erheblich die Einnahmebasis der gesetz-
lichen Rentenversicherung. Die Reduzierung der Nettorenten durch die Renten-
reformen unter der rot-grünen Bundesregierung aus SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie die deutliche Absenkung der Rentenansprüche durch
Reduzierung der Beiträge beim Bezug von Arbeitslosengeld II durch die Koali-
tion der CDU, CSU und SPD lassen gerade für die jüngere Generation Alters-
armut zu einer konkreten Bedrohung werden. Die Orientierung auf die private
Vorsorge und deren staatliche Förderung ist ein riskanter und teurer Irrweg zum
Wohle der privaten Versicherungsindustrie und der Wirtschaft und zum Nachteil
der Versicherten.

Zur Wiederherstellung einer zukunftsfähigen Alterssicherung muss zum einen
die gesetzliche Rentenversicherung von einer Arbeitnehmer- zu einer Erwerbs-
tätigenversicherung ausgebaut werden, wie auch von Gewerkschaften, Sozial-
verbänden und dem Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung Bund gefor-
dert. Zum anderen muss die Rentenpolitik wieder das Leistungsziel zum Vor-
rang erheben und die fortlaufenden Kürzungen des Nettorentenniveaus beenden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die gesetzliche Rentenversicherung zu einer solidarischen Erwerbstätigen-

versicherung weiterzuentwickeln, in der alle Erwerbseinkommen rentenver-
sicherungspflichtig sind, und so insbesondere dem Wandel in der Arbeitswelt
und dem wachsenden Schutzbedürfnis der Erwerbstätigen und der Erwerbs-
losen Rechnung zu tragen,

2. die Lebensstandardsicherung als Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenver-
sicherung wieder in den Mittelpunkt der Alterssicherungspolitik zu stellen
und die gesetzliche Begrenzung des Beitragssatzes ersatzlos zu streichen,

Drucksache 16/6440 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. die Dämpfungsfaktoren in der Rente (Riesterfaktor, Nachhaltigkeitsfaktor,
Nachholfaktor) zu streichen,

4. das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (Rente ab 67) vollständig zurückzu-
nehmen,

5. Maßnahmen zu ergreifen, um den solidarischen Ausgleich in der gesetzlichen
Rentenversicherung zu stärken,

6. die Angleichung des Rentenwerts Ost an den aktuellen Rentenwert (West) zu
realisieren.

Berlin, den 18. September 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer solidari-
schen Erwerbstätigenversicherung ist dringend notwendig, um den wachsenden
sozialen Schutzbedürfnissen vieler Erwerbstätiger gerecht zu werden und die
Solidargemeinschaft zu stärken. Ziel der solidarischen Erwerbstätigenversiche-
rung ist es, die ständig steigende Gefahr von Altersarmut einzudämmen und
neue finanzielle Spielräume für die gesetzliche Rentenversicherung zu schaffen.

Seit vielen Jahren erleben wir einen grundlegenden Strukturwandel in der Ar-
beitswelt. Während die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-
nisse seit Jahren abnehmen, haben sozialversicherungsfreie Erwerbsformen so-
wie die Zahl von Personen mit unterbrochenen Erwerbsverläufen zugenommen.
So hat sich die Zahl der geringfügig Beschäftigten nach Angaben der Bundes-
agentur für Arbeit seit 1999 von 3,7 Millionen auf über 7 Millionen Personen im
April 2007 fast verdoppelt. Auch der Anteil der Selbstständigen hat in den ver-
gangenen Jahren stetig zugenommen: Nach Angaben des Statistischen Bundes-
amtes gab es 2006 rd. 4,4 Millionen Selbstständige. Zudem hat seit den 1990er
Jahren die Zahl der „Solo-Selbstständigen“, die ausschließlich vom Verkauf
ihrer eigenen Arbeitskraft leben, ebenfalls dramatisch zugenommen. Eine klare
Unterscheidung zwischen abhängig Beschäftigten und sozialversicherungs-
freien Selbstständigen ist daher kaum noch möglich. Eine Universalisierung der
Rentenversicherungspflicht leistet hier Abhilfe.

Außerdem hat sich die soziale Absicherung vieler Selbstständiger massiv ver-
schlechtert: Oftmals unterscheidet sich die Einkommenssituation kaum von der
der abhängig Beschäftigten, bei einem gleichzeitigen deutlichen Rückgang der
Sparfähigkeit von Selbstständigen. Die Folge: Viele Selbstständige verfügen
nicht über ausreichende Kapitalrücklagen für ihre Altersvorsorge. Die staatlich
subventionierte private Altersvorsorge in Form der Riester-Rente bleibt ihnen
ebenfalls verwehrt. Die speziell für die Selbstständigen konzipierte Rürup-
Rente wird weitgehend nicht angenommen. Die in der Vergangenheit von Politik
und Wirtschaftsverbänden vorangetriebene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
sowie die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors im Zuge der unter Rot-
Grün beschlossenen Hartz-Reformen haben zu Armut trotz Erwerbstätigkeit ge-
führt. Die historisch gewachsene Trennung zwischen abhängig Beschäftigten
und sozialversicherungsfreien Selbstständigen hat sich aufgrund der desaströsen
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahre entgültig überlebt.
Gleichzeitig haben tiefgreifende Leistungseinschnitte in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung, wie die Manipulation der Rentenformel durch den Riester- und

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6440

den Nachhaltigkeitsfaktor, Rentennullrunden, höhere und einseitige Zuzahlun-
gen für das Gesundheitswesen, den vollen Pflegeversicherungsbeitrag auf Ren-
ten, die Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosengeld II-
Bezieherinnen und -bezieher, die Reform der Rentenbesteuerung und nicht zu-
letzt die Rente ab 67 dazu geführt, dass im Verbund mit dem grundlegenden
Strukturwandel in der Arbeitswelt, Altersarmut für viele Menschen in naher Zu-
kunft zur bitteren Realität gehören wird. Um eine Rente auf dem Niveau der
Grundsicherung von 640 Euro zu erhalten, sind für Durchschnittsverdienerinnen
und -verdiener aufgrund der Leistungskürzungen nicht wie derzeit 28 Beitrags-
jahre, sondern in 2030 bereits 36 Beitragsjahre notwendig. Damit entstünde bei
allen, die unterdurchschnittlich verdienen, Altersarmut. Im Osten sind die Fol-
gen noch gravierender als im Westen. Für die gleiche Lebensleistung muss es die
gleiche Rente geben, so dass es einen raschen Angleichungsprozess geben muss.
Der Entwicklung zur Altersarmut kann und muss heute begegnet werden.

Gerade die Gruppen mit niedrigen Löhnen und unstetigen Erwerbsverläufen
haben mit erheblichen Versicherungslücken zu kämpfen. Hinzu kommen beson-
ders geringe Rentenansprüche aufgrund von Kindererziehung, Pflege oder Er-
werbslosigkeit. Verschärft wird diese Situation durch die von der Bundesregie-
rung durchgeführte Teilprivatisierung der Altersvorsorge. Trotz Fördermaßnah-
men des Staates können sich insbesondere Menschen mit geringem Einkommen
häufig nicht an der zusätzlichen privaten Altersvorsorge beteiligen. Im Ergebnis
nimmt die ungleiche Einkommensverteilung im Alter weiter zu. Gerade bei un-
sicheren Arbeitsverhältnissen und niedrigen Löhnen sind private Altersvorsor-
gemodelle denkbar ungeeignet, einen verlässlichen Schutz vor Altersarmut zu
bieten. So stellt der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD zum Altenbericht fest: „Die Berechnungen prognostizieren selbst unter der
Annahme ununterbrochener Erwerbsverläufe und unter voller Ausnutzung der
Fördermöglichkeiten ein sinkendes Niveau des Nettoeinkommens im Alter, so
dass aufgrund einer zunehmenden Einkommensungleichheit ein steigendes Ar-
mutsrisiko im Alter befürchtet werden muss.“ (Bundestagsdrucksache 16/6366).
Auch der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert
Rische, kommt anlässlich des Pressekontaktseminars der Deutschen Rentenver-
sicherung Bund am 11. Juli 2007 zu einem ähnlichen Fazit wie die Regierungs-
koalition: „Zudem stellen die mit unstetigen Erwerbsverläufen verbundenen be-
ruflichen und finanziellen Unsicherheiten eine denkbar schlechte Voraussetzung
für ausreichende private Vorsorgebemühungen dar. Insgesamt erscheinen die
Anpassungsmöglichkeiten der zweiten und dritten Säule an den Wandel in der
Arbeitswelt doch eher begrenzt.“ Damit wird offensichtlich, dass die von der
Bundesregierung verfolgte Strategie des Umbaus der Alterssicherung grund-
sätzlich zum Scheitern verurteilt ist. Weitere Leistungskürzungen in der gesetz-
lichen Rentenversicherung sowie der Ausbau durch die kapitalgedeckte Alters-
vorsorge werden die sozialen Unterschiede im Alter weiter vergrößern und sind
deshalb kategorisch abzulehnen. Die Begünstigung der privaten Versicherungs-
wirtschaft, die Entlastung der Wirtschaft von Beiträgen für die gesetzliche Ren-
tenversicherung und die alleinige zusätzliche Belastung der Versicherten muss
beendet werden.

Das Solidaritätsprinzip und der Generationenvertrag sind die tragenden Grund-
pfeiler der gesetzlichen Rentenversicherung. Zudem sorgt die gesetzliche Ren-
tenversicherung als Pflichtversicherung immer auch für solidarische Ausgleichs-
elemente. Analoge Prinzipien finden sich nicht bei der privaten oder der betrieb-
lichen Säule der Alterssicherung. Durch die paritätische Finanzierung der Ren-
tenversicherung und die Lebensstandard sichernden Leistungen hat sich die
gesetzliche Rentenversicherung ein Vertrauen bei der Bevölkerung aufgebaut.
Erst die jüngsten Rentenreformen haben mit einer Abkehr von traditionellen

Sicherungsversprechen zu einer massiven Verunsicherung der Bevölkerung
geführt. Angesichts drastischer Kürzungen, etwa bei den Rentenansprüchen für

Drucksache 16/6440 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II, verliert diese Aufgabe zu-
nehmend an Bedeutung. Mit der Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die ge-
setzliche Rentenversicherung wird die Solidargemeinschaft wieder gestärkt und
so auch für zukünftige Generationen langfristig gesichert. Gleichzeitig werden
durch die solidarische Erwerbstätigenversicherung die finanzielle Situation der
gesetzlichen Rentenversicherung spürbar verbessert sowie weitere Spielräume
für notwendige Leistungserhöhungen und für einen finanzierbaren Beitragssatz
geschaffen. Zwar stehen den Mehreinnahmen kurz und mittelfristig auch Mehr-
ausgaben gegenüber. Langfristige Einsparungen ergeben sich aber aufgrund der
besseren Absicherung aller Erwerbstätigen – vor allem bei der Grundsicherung
im Alter. Die gesetzliche Rentenversicherung wird so robuster gegenüber dem
Strukturwandel in der Arbeitswelt und für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bezahlbar bleiben.

Es ist an der Zeit, die Privatisierungs- und Individualisierungstendenzen in der
Altersvorsorge zu stoppen, die vergangenen Leistungskürzungen in der gesetz-
lichen Rentenversicherung zurückzunehmen sowie zukünftige auszuschließen
und die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge zu beenden. Die Alter-
native zu dieser gescheiterten Politik ist der Aufbau einer solidarischen, lebens-
standardsichernden, dynamischen gesetzlichen Rentenversicherung, welche
allen Erwerbstätigen eine sichere und zukunftsfähige Rente bietet.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.