BT-Drucksache 16/6393

Wehrpflicht überwinden - Freiwilligenarmee aufbauen

Vom 19. September 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6393
16. Wahlperiode 19. 09. 2007

Antrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Kai Gehring, Alexander Bonde,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Rainder Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wehrpflicht überwinden – Freiwilligenarmee aufbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Allgemeine Wehrpflicht ist auch in Deutschland sicherheitspolitisch
nicht mehr begründbar. Sie ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten unhaltbar
und wird dem verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatz nicht
mehr gerecht. Die Rest-Wehrpflicht in Deutschland kann und muss überwun-
den werden.

Das Grundgesetz ermöglicht die allgemeine Wehrpflicht, schreibt sie aber
nicht zwingend vor. Der Personalbedarf der Streitkräfte kann durch Frei-
willige oder Wehrpflichtige ergänzt werden. Nach den Vorgaben des Grund-
gesetzes (Artikel 12a Abs. 1) „können [Männer] vom vollendeten achtzehn-
ten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz
oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“. Entscheidet sich der
Gesetzgeber für die Allgemeine Wehrpflicht, dann haben grundsätzlich alle
männlichen Staatsbürger einen Dienst in den Streitkräften zu leisten. Dies
verlangt das Gleichheitsgebot des Artikels 3, Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).

Von einer „allgemeinen“ Wehrpflicht für Männer kann seit vielen Jahren
keine Rede mehr sein. Die Bundeswehr kann jährlich auf die 35 000 Dienst-
posten für den neunmonatigen Grundwehrdienst (ab 2009: 30 000) ca. 40 000
bis 47 000 Wehrpflichtige einberufen. Zur Wiederbesetzung der 25 000
Dienstposten für den bis zu 23 Monate dauernden freiwilligen Wehrdienst
werden ca. 15 000 Wehrpflichtige jährlich benötigt. Da derzeit jährlich
ca. 400 000 junge Männer wehrpflichtig werden, heißt das, dass etwa 340 000
junge Männer, selbst wenn sie wollten und bei bester Gesundheit wären,
keinen Wehrdienst leisten können. Selbst der bislang niedrigste Geburtenjahr-
gang (2005) umfasst noch 350 000 Wehrpflichtige. Auf dieser Grundlage ist
eine Wehrpflicht, deren Kern der Wehrdienst zu sein hat, nicht mehr gerecht
zu organisieren. Wenn 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs aus- oder untaug-

lich gemustert wird und 25 Prozent Zivildienst leistet, wird die Wehrpflicht
zur Farce und der Wehrdienst zur Ausnahme.

Damit sind Wehrpflichtige, die zu einem Dienst in der Bundeswehr oder zu
einem Ersatzdienst herangezogen werden, gegenüber gleichaltrigen Männern
und Frauen deutlich benachteiligt. Wehrpflichtige und ihre Angehörigen sind
von der Verzögerung von Studium oder Ausbildung, der Gefährdung von

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Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, der Nichtgenehmigung von Auslandsauf-
enthalten, geringeren Verdienstmöglichkeiten usw. betroffen. Für Wehr- und
Zivildienstleistende sind zwangsweise die Grundrechte der Berufsfreiheit,
Freizügigkeit, Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit einge-
schränkt. Sie werden zu einer „Naturalsteuer“ verpflichtet, die der überwie-
genden Mehrzahl der Gleichaltrigen erspart bleibt. Während die einen dienen
müssen, können andere verdienen oder sich beruflich nach eigener Wahl wei-
terqualifizieren. Auch im internationalen Wettbewerb sind deutsche Männer
im Vergleich z. B. zu ihren französischen, italienischen, britischen, ungari-
schen oder amerikanischen Konkurrenten, erheblich benachteiligt.

2. Der Deutsche Bundestag sieht in der Vollendung des Ausstiegs aus der Wehr-
pflicht einen wichtigen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit in Deutschland. Die
Beibehaltung der Wehrpflicht und des Eingriffs in die Grundrechte und
Lebensplanung der wehrpflichtigen jungen Männer ist sicherheitspolitisch
nicht mehr zu begründen. Die veränderten sicherheitspolitischen Rahmen-
bedingungen und der damit einhergehende Auftragswechsel haben in den
vergangenen Jahren bei den meisten unserer Bündnispartner zum Abschied
von der Wehrpflicht geführt. Auch die Sicherheit Deutschlands kann ohne
Wehrpflicht gewährleistet werden. Die Voraussetzungen, um in diesem
Bereich mehr Freiheit zu wagen, Bürokratie abzubauen, Gerechtigkeit zu
erhöhen und die Freiwilligkeit zu stärken, sind gegeben. Bundestag und
Bundesregierung sind angesichts der verfassungsrechtlich bedenklichen
Wehrpflichtpraxis in der Pflicht, zügig zu handeln.

Heute ist nicht mehr die traditionelle Landesverteidigung, sondern die Teil-
nahme an multilateraler Krisenbewältigung im Rahmen von UN, EU und
NATO für die Bundeswehr strukturbestimmend. Damit entfällt auch die
Legitimation für die Wehrpflicht. Es ist Konsens, dass im Rahmen der Aus-
landseinsätze der Bundeswehr ausschließlich Freiwillige, d. h. Berufssol-
daten, Zeitsoldaten und freiwillig längerdienende Soldaten, eingesetzt wer-
den. Für die Aufgaben multilateraler Krisenbewältigung im Dienste
kollektiver Sicherheit bedarf es Streitkräfte, die nicht nur ihr militärisches
Handwerk beherrschen, sondern auch über sogenannte „soft skills“, wie so-
ziale und interkulturelle Fähigkeiten, verfügen. Dies gilt vor allem für die
wahrscheinlicheren und besonders anspruchsvollen Stabilisierungseinsätze.

In den vergangenen Jahren wurde ein Transformationsprozess eingeleitet, der
in Richtung Freiwilligenarmee führt. Der Ausbau des freiwilligen Wehr-
dienstes und die Öffnung der Bundeswehr für den freiwilligen Dienst von
Frauen gehören hier ebenso dazu wie die Reduzierung des Streitkräfteum-
fangs, insbesondere im Bereich der herkömmlichen Wehrdienstplätze. Die
Obergrenze des Streitkräfteumfangs wurde von 340 000 über 280 000 auf
heute 250 000 Soldaten reduziert. 1989 waren noch 44 Prozent (218 000) der
490 000 Bundeswehrsoldaten Wehrpflichtige, die 15 Monate Grundwehr-
dienst leisteten. In der neuen Zielstruktur, von maximal 250 000 militäri-
schen Dienstposten sind nur noch bis zu 30 000 Stellen (12 Prozent) für
Grundwehrdienstleistende mit einer Dienstzeit von 9 Monaten vorgesehen.
Auf Wunsch vom Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung,
wurde die geplante Absenkung bei 35 000 Stellen eingefroren. Bis zu 25 000
Stellen (10 Prozent) sind für Wehrdienstleistende reserviert, die sich freiwil-
lig für einen besser bezahlten und bis zu 23 Monate dauernden Dienst in der
Bundeswehr entscheiden. Der Ausstieg aus der Wehrpflicht ist weitgehend
vollzogen. Die Bundeswehr besteht inzwischen zu 88 Prozent aus Freiwilli-
gen, d. h., sie ist zum überwiegenden Teil bereits eine Freiwilligenarmee.

Die Bundesregierung orientierte sich bei der eingeleiteten Transformation

auch an den Empfehlungen der „Weizsäcker-Kommission“. Diese kam im
Mai 2000 zu dem Ergebnis, dass sowohl eine Freiwilligenarmee mit 220 000

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Soldatinnen und Soldaten als auch eine Armee im Umfang von 240 000 Sol-
datinnen und Soldaten, davon ca. 30 000 Wehrdienstleistende, den sicher-
heitspolitischen Anforderungen gerecht würde. Gegen diese Auswahlwehr-
pflicht gab es in der Kommission verfassungsrechtliche Einwände. Der
Verfassungsrechtler Prof. Ipsen kam zu der Einschätzung, dass der Aus-
wahlwehrdienst nur eine „zeitlich klar begrenzte“ Übergangslösung sein
könne, „die mit einem terminierten Entwicklungsplan verbunden ist, der sei-
nerseits auf eine verfassungsmäßige Lösung ausgerichtet ist. Ein Auswahl-
wehrdienst auf unabsehbare Zeit aber verstößt gegen die Wehrgerechtigkeit.“
Die alte Bundesregierung hatte es sich daher zum Ziel gesetzt, bis zum Ende
der 15. Legislaturperiode eine verfassungsrechtlich tragfähige Entscheidung
in der Wehrpflichtfrage zu treffen. Hierzu ist es auf Grund der vorgezogenen
Neuwahlen nicht gekommen.

Die neue Bundesregierung hat sich zur Wehrpflicht bekannt, aber nichts
unternommen, um das Verfassungsproblem zu lösen. Der Bundesminister der
Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, hat nach seinem Amtsantritt angeordnet,
dass die Zahl der Stellen für Grundwehrdienstleistende nicht wie geplant auf
30 000 abgesenkt, sondern bis 2008 bei 35 000 eingefroren wird. Da der Ge-
samtumfang der Bundeswehr nicht erhöht wird, gehen die 5 000 Stellen zu
Lasten der Zeit- und Berufssoldaten und damit zu Lasten der Effizienz und
Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Auch der von der SPD diskutierte Vor-
schlag einer „freiwilligen Wehrpflicht“ greift vor dem Hintergrund des
Gleichheitsgebots des Grundgesetzes zu kurz. Dies gilt insbesondere für die
Frage, nach welchen Kriterien die Wehrpflichtigen ausgewählt werden sol-
len, um für den Fall, dass zu wenige freiwillig gewonnen werden können, die
Deckungslücke zu schließen. Die Bundesregierung muss nach verfassungs-
konformen Wegen suchen, wie sie die Bedarfsdeckung der Bundeswehr qua-
litativ und quantitativ verbessern kann.

3. Die Grundwehrdienstleistenden werden in erster Linie aus Gründen der
Nachwuchsgewinnung in die Truppe geholt. Der Deutsche Bundestag misst
der Gewinnung qualifizierten Personals für die Aufgabenerfüllung der
Bundeswehr große Bedeutung bei. Das Rekrutierungsargument kann aber
nicht die allgemeine Wehrpflicht begründen. Darauf hat 1995 der damalige
Bundespräsident und Verfassungsrechtler, Prof. Dr. Roman Herzog, hin-
gewiesen. Unter Effizienzgesichtspunkten ist ein Grundwehrdienst von
9 Monaten für die Bundeswehr und die Grundwehrdienstleistenden eher eine
Belastung und eine Vergeudung knapper Ressourcen. Den Grundwehrdienst-
leistenden können nach Abschluss der Grundausbildung nur einfache Arbei-
ten anvertraut werden. Dabei werden die Fähigkeiten der Grundwehrdienst-
leistenden selten hinreichend genutzt und gefördert. Während die Grundaus-
bildung noch als Erlebnis empfunden wird, wird die restliche Dienstzeit oft
als vertane Zeit gesehen. Gleichzeitig bindet die Ausbildung und Betreuung
von 30 000 Grundwehrdienstleistenden ca. 10 000 Soldatinnen und Soldaten.
Hinzu kommt ein Wehrerfassungs-, Musterungs- und Einberufungsapparat,
der in keinem Verhältnis zum Wehrpflichtigenaufkommen und dem Bedarf
der Truppe steht. Wenn man berücksichtigt, dass zu diesem Wehrpflichtappa-
rat auch die Zivildienstverwaltung hinzugerechnet werden muss, dann wird
deutlich, dass die Wehrpflicht auch für die Bundeswehr und den Bund ein in
jeder Hinsicht sehr personalintensives, teures und unwirtschaftliches Verfah-
ren der Nachwuchsgewinnung ist.

Die Wehrpflichtigen werden häufig – aber fälschlicherweise – als Garanten
für die Integration und Verzahnung von Armee und Gesellschaft angesehen.
Mit dieser Aufgabe wären sie maßlos überfordert. Auch eine Freiwilligenar-
mee gewinnt ihren Nachwuchs aus der Gesellschaft. Für die Integration von

Streitkräften in die Gesellschaft ist nicht die Wehrform, sondern vielmehr die
Personalauswahl und die Praxis der Inneren Führung entscheidend. Sie ist es,

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die die vergleichsweise zivile Mentalität der Bundeswehr prägt und durch sie
unterscheidet sich die Militärkultur der Bundeswehr von der vieler ihrer Ver-
bündeten. Ihre Realisierung ist der Gradmesser für die Integration der
Bundeswehr in die Gesellschaft. Gleichzeitig hat die Politik eine Fürsorge-
pflicht, die weit über Fragen der Besoldung und Ausstattung hinausgeht. Dies
betrifft insbesondere die Frage der Entsendung in internationale und lebens-
bedrohliche Einsätze. Die beste Ausstattung und Besoldung nützt nichts,
wenn die Soldatinnen und Soldaten in militärische Abenteuer geschickt wür-
den oder die Bundesregierung auf dem zivilen und polizeilichen Sektor
nichts unternähme, um internationale Einsätze rasch und mit Erfolg zum
Ende zu bringen oder unnötig zu machen. Nicht die Wehrpflicht, sondern ein
verantwortlicher Umgang mit den Soldatinnen und Soldaten ist die beste
Nachwuchswerbung.

Die Bundeswehr schöpft das gesellschaftliche Nachwuchspotential nicht aus.
Frauen haben bislang nicht die Möglichkeit, im Rahmen eines, auf einige
Monate begrenzten Kurzzeitdienstes zu erkunden, ob für sie die Bundeswehr
als längerfristiger Arbeitgeber in Frage kommt. Auch unter den 50 Prozent
derjenigen Wehrpflichtigen, die den gegenwärtigen körperlichen Tauglich-
keitsanforderungen nicht in vollem Umfang entsprechen, sind viele, die mit
ihren Fähigkeiten für die Bundeswehr eine enorme Bereicherung wären. Der
bereits eingeleitete Übergang zur Freiwilligenarmee kann verbessert und be-
schleunigt werden. Hierzu sind die Verbesserung der Nachwuchsgewinnung
und die Einführung eines attraktiven, freiwilligen und flexiblen Kurzdienstes
notwendige Schritte. Hierfür muss die Eintrittsschwelle gesenkt und die
Attraktivität erhöht werden. Auch die Tauglichkeitsanforderungen müssen
verwendungsbezogen ausdifferenziert werden. Die Einführung eines freiwil-
ligen, flexiblen und attraktiven Kurzdienstes von 12 bis 24 Monaten – z. B.
mit einer Probephase von sechs Monaten – kann eine Brückenfunktion für
den Übergang zu einer Freiwilligenarmee übernehmen. Der Kurzdienst muss
Frauen und Männern gleichermaßen offen stehen und nach solider Ausbil-
dung einen Auslandseinsatz ermöglichen. Hierfür muss die Einstiegsbesol-
dung angehoben werden.

In dieser Zeit können sich Kurzdiener und Bundeswehr gegenseitig „er-
proben“. Der Kurzdienst muss die Freiwillig länger Wehrdienstleistenden
(FWDL) sowie schrittweise die Grundwehrdienstleistenden (GWDL) erset-
zen und damit auch die von ihnen geleisteten Aufgaben abdecken. Er würde
den Adressatenkreis auf Frauen und jene jungen Männer ausdehnen, die zwar
von der Wehrpflicht befreit, dennoch aber an einem attraktiven Dienst in den
Streitkräften interessiert sind. Die höhere Attraktivität und Effizienz des
Kurzdienstes ermöglicht eine weitere Reduzierung des Gesamtumfangs der
Streitkräfte. Die „Weizsäcker-Kommission“ bestätigte in ihrem Bericht vom
Mai 2000, dass eine Freiwilligenarmee von 220 000 Zeit- und Berufssoldaten
den sicherheitspolitischen Anforderungen in vollem Umfang entspreche. Der
Kurzdienst gestattet ein schrittweises Umsteuern ohne abrupte Brüche. Er
muss in ein verbessertes Konzept der Nachwuchsgewinnung, Personal-
betreuung, Politischen Bildung und Berufsförderung integriert sein. Die
Attraktivität der Streitkräfte hängt auch davon ab, welche Entwicklungschan-
cen und zivilberuflichen Qualifikationen den jungen Menschen angeboten
werden.

4. Der Zivildienst ist Ersatz für nicht geleisteten Wehrdienst. Er kann die Wehr-
pflicht nicht begründen. Der Deutsche Bundestag erkennt die Leistungen der-
jenigen an, die aus einer Gewissensentscheidung heraus den Dienst an der
Waffe verweigern. Zivildienstleistende erbringen einen wichtigen Beitrag für
den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft. Heute leisten mehr Wehrpflich-

tige Zivildienst, als Wehrdienst. Während die Zahl der Wehrdienstplätze
drastisch reduziert wurde, hält die Bundesregierung an den Zivildienstplätzen

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fest. Dies stellt das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht auf den Kopf und
verleiht ihr den Charakter einer allgemeinen Dienstpflicht für Kriegsdienst-
verweigerer. Diese strukturelle Ungleichbehandlung von Kriegsdienstver-
weigerern muss beendet werden. Um den Charakter des Wehrdienstes als
Regeldienst und des Zivildienstes als Ausnahme zu wahren, dürfen nicht
mehr Wehrpflichtige zum Zivildienst einberufen werden als zum Wehrdienst.

Die allgemeine Wehrpflicht kann weder mit dem Argument, der Zivildienst
sei für unser Sozialsystem unerlässlich noch mit dem Argument, der Zivil-
dienst ermögliche soziales Lernen, aufrechterhalten werden. Dies spricht
eher für die Notwendigkeit der Reform unseres Sozialsystems sowie für den
Ausbau von Freiwilligendiensten und bürgerschaftlichem Engagement als
gegen die Aussetzung der Wehrpflicht. Auch die Befürchtung, die Ausset-
zung der Wehrpflicht führe zu einem Zusammenbruch unseres Sozial-
systems, lässt sich nicht als Argument für die Beibehaltung der Wehrpflicht
heranziehen. Angesichts abnehmender Akzeptanz der Wehrpflicht – gerade
bei denjenigen, die von ihr betroffen sind – haben sich die Träger des Zivil-
dienstes längst auf die Suche nach Alternativen gemacht. Vorschläge zur
Konversion des Zivildienstes liegen vor und müssen umgesetzt werden. Die
Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft – Perspektiven für Freiwilli-
gendienste und Zivildienst in Deutschland“ hat in ihrem Bericht vom Januar
2004 Wege aufgezeigt, wie im Falle eines Auslaufens der Wehrpflicht die
bisherigen Aufgaben der Zivildienstleistenden durch andere Dienstleistun-
gen ersetzt werden könnten.

5. Die Wehrpflicht gilt in Deutschland nur für Männer. Die Frage, ob es nach
der Öffnung der Bundeswehr für Frauen zulässig ist, die Wehrpflicht auf
Männer zu beschränken, ist politisch und verfassungsrechtlich umstritten.
Für viele junge Menschen ist es aber nicht nachvollziehbar, dass die einen
dürfen, die anderen müssen. Überlegungen, die Wehrpflicht auf Frauen aus-
zuweiten oder eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen und Männer einzu-
führen, sind kein Beitrag zur Lösung. Ein sozialer Zwangsdienst würde bei
den jungen Menschen weder auf Akzeptanz stoßen, noch die Probleme im
sozialen Bereich lösen. Abgesehen von den verfassungsrechtlichen Hürden
potenziert ein Zwangsdienst für alle die Probleme, mit denen wir bereits beim
„Jobkiller“ Zivildienst zu tun haben. Dazu gehört, dass bei 3,7 Millionen
Arbeitslosen ein arbeitsmarktneutraler Einsatz von jährlich mehr als 800 000
jungen Menschen nicht zu gewährleisten ist. Der bürokratische und finan-
zielle Aufwand zur Einberufung, Durchführung und Überwachung wäre
enorm. Der Deutsche Bundestag lehnt die Einführung einer allgemeinen
Dienstpflicht ab. Ein grundsätzlich wünschenswerter, gesellschaftlicher
Lerndienst ist nur auf freiwilliger Grundlage zu gewährleisten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ein Konzept und einen zeitlichen Fahrplan zur Aussetzung der Wehrpflicht
vorzulegen,

2. einen freiwilligen und zeitlich flexiblen militärischen Kurzdienst einzufüh-
ren, der jungen Frauen und Männern verschiedene Möglichkeiten bietet, die
Bundeswehr von innen kennen zu lernen und damit den Austausch zwischen
Bundeswehr und Gesellschaft zu fördern,

3. die Attraktivität für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr u. a. auch
dadurch zu verbessern, dass

● die Bundeswehr zurückhaltend und verantwortungsbewusst eingesetzt
und bestmöglich ausgestattet wird,
● die Besoldung in Ost- und West schnellstmöglich angeglichen wird,

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● die zivilberuflichen Qualifikations- und Weiterbildungsmöglichkeiten
verbessert werden,

● im Rahmen einer Neuordnung der Soldatenbesoldung die Einstiegsbesol-
dung angehoben wird,

● die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter verbessert wird,

4. den gesellschaftlichen Pluralismus in den Streitkräften zu gewährleisten und
durch Personalauswahl und Personalqualifizierung dafür zu sorgen, dass für
die Bundeswehr Personal aus allen Schichten der Gesellschaft gewonnen
werden kann,

5. Maßnahmen zu ergreifen, die Ausbildung und Bildung in der Bundeswehr im
Interesse einer Stärkung der Inneren Führung zu verbessern,

6. einhergehend mit der umgehenden Aussetzung der Wehrpflicht die Konver-
sion des Zivildienstes einzuleiten,

7. die Benachteiligung von Wehrdienstverweigerern bei der Einberufungspra-
xis unverzüglich zu beenden,

8. die Voraussetzungen und Anreize für bürgerschaftliches Engagement in un-
serer Gesellschaft zu verbessern und die Freiwilligendienste auszubauen.

Berlin, den 19. September 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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