BT-Drucksache 16/6033

Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung

Vom 6. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6033
16. Wahlperiode 06. 07. 2007

Antrag
der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina
Bunge, Diana Golze, Katja Kipping, Monika Knoche, Katrin Kunert, Elke Reinke,
Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Wiedereinführung der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte
mit geringem Einkommen im Wege der Härtefallregelung

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf einzubringen, der Folgendes beinhaltet:

1. Die durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) im Jahr 2004 gestriche-
nen Zuzahlungsbefreiungen von Versicherten im Gesundheitswesen werden
wieder eingeführt. Es ist der Sache nach der Rechtszustand der §§ 61 und 62
des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) i. d. F. v. 31. Dezember 2003
wiederherzustellen, da sich die Neuregelung nicht bewährt hat. Damit sollen
Versicherte mit einem Einkommen bis zu 40 Prozent der Bezugsgröße zu-
künftig wieder von sämtlichen Zuzahlungen befreit werden.

2. Im Rahmen dieser Härtefallregelung unterbleiben Prüfungen des Einkom-
mens bei Beziehern von ALG II, Sozialhilfe, Sozialgeld, Grundsicherung im
Alter, Ausbildungsförderung nach BAföG oder SGB III und der Kriegs-
opferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz. Gleiches gilt für Versi-
cherte, deren Kosten der Unterbringung in einem Heim oder einer ähnlichen
Einrichtung von einem Träger der Sozialhilfe oder der Kriegsopferfürsorge
getragen werden.

3. Oberhalb dieser Einkommensgrenze sind die vor und nach 2004 geltenden
Belastungsgrenzen in Höhe von 2 Prozent bzw. 1 Prozent (Chronikerrege-
lung) des Einkommens beizubehalten.

Berlin, den 4. Juli 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
Begründung

Es gibt unterschiedliche Auffassungen über die regulierende Wirkung von Zu-
zahlungen. Diese Positionen liegen in einem breiten Spektrum von „sinnvolles
Steuerungselement“ bis hin zu der Meinung, dass eine sinnvolle Steuerungs-

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wirkung nicht auf der Nachfrageseite ansetzen kann, sondern auf der Anbieter-
seite. Zuzahlungen wären demgemäß kein Steuerungsinstrument, mit dem Res-
sourcen sinnvoller eingesetzt würden, sondern sie seien gesundheitspolitisch
wie auch sozialpolitisch schädlich. Die Antragsteller vertreten zwar letztere
Auffassung und lehnen Zuzahlungen generell ab, möchten aber mit diesem An-
trag einen möglichst breiten parlamentarischen Konsens zur Vermeidung von
Härtefällen herstellen.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin von
Oktober 2005 auf der Grundlage der Daten des sozio-ökonomischen Panels
zeigt abhängig vom Einkommen sehr große Unterschiede in der Lebenserwar-
tung auf: „Geht man von der mittleren Lebenserwartung ab 18 Jahren aus, dann
beträgt bei Männern der Abstand zwischen der niedrigsten und höchsten Ein-
kommensgruppe etwa 14 Jahre. Bei den Frauen beläuft sich der Unterschied
immerhin noch auf 8 Jahre“ 1.

Nicht nur die Mortalität, sondern auch die Morbidität wird von der Einkom-
menssituation maßgeblich beeinflusst. Leider scheint sich der Zusammenhang
nicht abzuschwächen: „Das soziale Gefälle bei der Erkrankungshäufigkeit und
den Sterberaten nimmt eher zu als ab.“ schlussfolgert die im Juli 2006 erschie-
nene „Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ 2, die im Auftrag des Bundes-
ministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung erfolgte. Die Gesundheit
hängt natürlich von vielen Lebensumständen ab und ist nicht singulär auf die
Versorgung im Krankheitsfall zurückzuführen. Jedoch ist die Gesundheitsver-
sorgung ein wesentlicher Faktor; daher ist es Aufgabe der Gesundheitspolitik,
Zugang zu medizinischen Leistungen insbesondere den benachteiligten Men-
schen mit geringem Einkommen zu ermöglichen.

Ein Vergleich der Untersuchungen im Rahmen des Bertelsmann-Gesundheits-
monitors von März/April 2003 und März/April 2006 zeigt, dass bei einem Ein-
kommen von unter 500 Euro sich die Zahl der Arztkontakte um über 30 Prozent,
bei einem Einkommen von 500 bis 999 Euro um knapp 20 Prozent reduziert hat.
In der Gruppe mit einem Einkommen von 2 000 bis 2 499 Euro blieb diese Zahl
etwa gleich, während diejenigen mit mehr als 5 000 Euro monatlichem Einkom-
men fast 40 Prozent häufiger zum Arzt gingen. Hier liegt eine offenkundige
Fehlsteuerung vor.

Zuzahlungen als Steuerungselement benachteiligen Kranke und hier wiederum
ärmere Menschen stärker als wohlhabende. Mit dem GKV-Modernisierungsge-
setz (GMG) wurden im Jahr 2004 im Bereich der gesetzlichen Krankenver-
sicherung neue Zuzahlungsregelungen eingeführt. Seitdem müssen alle Versi-
cherten im Regelfall 2 Prozent ihres Einkommens, falls chronische Krankheiten
vorliegen 1 Prozent ihres Einkommens zuzahlen, unabhängig davon, wie hoch
das Einkommen des Betroffenen ist.

Diese Regelung hat sozialpolitisch fatale Folgen nach sich gezogen und hat
negativen Einfluss auf die Versorgung der Betroffenen. Auch die vorher vollstän-
dig von Zuzahlungen befreite Gruppe der Personen mit sehr geringem Einkom-
men ist seitdem verpflichtet, für benötigte Medikamente, Hilfsmittel, Heilmittel,
stationäre Aufenthalte, Fahrtkosten und Zahnersatz Eigenanteile zu übernehmen.
Das GMG schuf sogar noch eine neue Zuzahlungsart: Durch die Praxisgebühr
sind ab 2004 auch für die Inanspruchnahme eines Arztes, Zahnarztes und der
Notfallversorgung jeweils 10 Euro pro Quartal zu zahlen.

Dies führte nicht nur zu einer weiteren Verarmung von Teilen der Bevölkerung,
sondern in vielen Fällen durch Nichtinanspruchnahme zu einer schlechteren

1 Siehe http://www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/diskussionspapiere/docs/papers/dp527.pdf

2 Siehe http://www.geryshu.com/index.php?option=com_docman&task=doc_view&gid=17&Itemid=47,

S. 84.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6033

Versorgung dieser Personengruppe. Selbst niedrige Zuzahlungen entfalten bei
einem geringen Einkommen oft prohibitive Wirkungen im Zugang zu medizini-
schen Leistungen.

Bei der Einführung der Härtefallregelung, die durch erweiterte Zuzahlungsre-
gelungen im Gesundheitsreformgesetz (GRG) 1989 notwendig geworden war,
sprach der damalige Bundesminister Dr. Norbert Blüm in diesem Zusammen-
hang von „sozialer Rücksicht“. Der damalige Gesundheitsexperte der SPD-
Opposition, Rudolf Dreßler, hatte eine ablehnende Haltung gegenüber dieser
Regelung. Er vertrat die Ansicht, dass es erst gar keine Zuzahlungen geben
dürfe, durch die Härtefälle geschaffen werden. Er nannte die heute noch modi-
fiziert gültige Überforderungsklausel „eine 2-prozentige Strafsteuer für die
Kranken“. Der vorliegende Antrag bleibt, um seine Chancen im Parlament zu
verbessern, hinter den begrüßenswerten Forderungen der Fraktion der SPD in
der Debatte vor 19 Jahren zurück und greift lediglich den damaligen Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf.

Das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) unter
der Führung der Bundesministerin Ulla Schmidt war 2002 noch der Ansicht 3,
dass Sozialhilfeempfänger nicht in der Lage seien, Eigenanteile aus dem Regel-
satz aufzubringen, und verteidigte richtigerweise die Härtefallregelung. Im Jahr
2003 4 wollte das BMGS zunächst die Härtefallregelung unter der Maßgabe ab-
schaffen, dass die Zuzahlungshöhe deutlich verringert und dadurch eine Härte-
fallregelung überflüssig würde. Nach den Konsensgesprächen mit der CDU/
CSU wurden jedoch die Zuzahlungen mit dem GMG zum Jahr 2004 deutlich
erhöht und gleichzeitig die Härtefallregelung abgeschafft.

Da es bei alleiniger Anwendung dieser Befreiungsgrenze soziale Härten für
diejenigen Geringverdiener mit einem Einkommen knapp über der Befreiungs-
grenze und diejenigen mit hohen Zuzahlungen gäbe, ist die derzeit gültige
Überforderungsklausel, die Zuzahlungsobergrenzen von 2 Prozent des Einkom-
mens oder 1 Prozent bei chronisch Kranken vorsieht, beizubehalten. Wenn Zu-
zahlungen überhaupt als Steuerungsinstrument im Gesundheitswesen wirken
sollen, allerdings ohne Personen mit geringen finanziellen Mitteln stärker zu
belasten als andere, müssen sie im Verhältnis zum Einkommen und damit der
Leistungsfähigkeit der Versicherten gestaffelt sein. Ansonsten führen sie zu
einer Benachteiligung der ohnehin stärker ausgegrenzten unteren wie auch der
mittleren Einkommensgruppen.

Um zumindest die am meisten benachteiligten Personen zu entlasten, sind sol-
che bis zu einer Einkommensgrenze von 40 Prozent der Bezugsgröße (derzeit
980 Euro pro Monat), wie bereits vor 2004, von allen Zuzahlungen zu befreien.

3 Siehe PM des BMGS vom 19. Juni 2002.

4 Siehe FAZ, 1. April 2003, Nr. 77, S. 12.

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