BT-Drucksache 16/5973

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. -16/3069- Nachhaltiger Schutz der Meeresumwelt

Vom 4. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5973
16. Wahlperiode 04. 07. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Dorothee
Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, Heidrun Bluhm,
Roland Claus, Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE.
– Drucksachen 16/3069, 16/4782 –

Nachhaltiger Schutz der Meeresumwelt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. zum nachhaltigen Schutz der Meeresumwelt, veröffentlicht auf
Bundestagsdrucksache 16/4782, belegt die Beobachtungen von Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern sowie Umweltorganisationen: Der Zustand unserer
Meere und Ozeane ist besorgniserregend. 75 Prozent der kommerziell genutzten
Fischarten sind überfischt oder werden maximal ausgebeutet. Die biologische
Vielfalt der Meere nimmt ab. Meereslebensräume werden zerstört, verschlech-
tert und verbaut.

Besonders dramatisch sind die Folgen der Überfischung der Weltmeere. Zwar
haben sich einige wenige Arten nach dem Zusammenbruch der Populationen vor
etwa 25 Jahren infolge von Bewirtschaftungsmaßnahmen inzwischen wieder er-
holt, was insbesondere für einige Schwarmfischbestände, die bodenfern im
freien Wasser (Pelagial) leben, zutrifft. Die Situation für die meisten anderen
Fischpopulationen sowie viele Meeressäuger und Reptilien hat sich jedoch nicht
verbessert, sondern verschlechtert. Vor allem für die Bodenfischbestände ist der
Fischereidruck angewachsen. Das zunehmende Vordringen der Fischerei in die
Tiefsee – insbesondere durch die Grundschleppnetzfischerei, die darüber hinaus
noch die Biotope am Meeresboden zerstört – verschlimmert die Situation. Fer-
ner sind in einem unverantwortlichen Ausmaß Beifänge von Haien, Delfinen,

Walen, Meeresvögeln und Schildkröten nach wie vor grausame Realität.

Zu den Hauptfaktoren für die Schädigung der Meeresumwelt zählt neben der
Überfischung und den damit verbundenen Beifängen der Klimawandel aufgrund
des anthropogenen Treibhauseffektes. Die höhere Meerestemperatur belastet die
Meeresökosysteme, der ansteigende CO2-Gehalt der Atmosphäre führt zur Ver-
sauerung der Meere, was kalkbildende Organismen, wie Korallen und Schalen-
tiere, schwer schädigt und schwerwiegende Wirkungen auf das Nahrungsnetz hat.

Drucksache 16/5973 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Seit Jahrzehnten verursacht die intensive Landwirtschaft und die daraus resul-
tierende Nährstoffbelastung eine Überdüngung (Eutrophierung) der Meere.
Hinzu kommt die Überdüngung über den Luftpfad. Dies führt im Sommer oder
in Zeiten mit starker Sonneneinstrahlung zu Algenblüten im Meer. Sterben die
Algen ab, werden sie unter extremer Sauerstoffzehrung bakteriologisch zersetzt
und es kommt zu einer Sauerstoffarmut in vielen Bereichen. Zudem werden che-
mische und hormonell wirksame Stoffe in die Meeresökosysteme eingetragen.
Die mikrobiologische und chemische Verschmutzung der Flüsse und damit der
Ozeane sowie das Einbringen von Abfällen sind zwar in vielen Industrieländern
reduziert worden. Allerdings nehmen diese Frachten vor allem in den sich rasant
entwickelnden Ländern Asiens zu.

Nach wie vor schädigen Ölverschmutzungen die Meeresumwelt. Sie entstehen
infolge von Unfällen bzw. durch Einleitungen aus dem Seeverkehr und aus
Leckagen der Offshore-Öl- und Gasförderung.

In den letzten Jahren wird auch die Schädigung durch die zunehmende Ver-
lärmung erkannt, von der insbesondere Meeressäuger betroffen sind. Daneben
bedrohen einwandernde exotische Arten die biologische Vielfalt der heimischen
Meeresumwelt, hauptsächlich durch das Einleiten von Schiffs-Ballastwasser.
Auch die Einleitung von Radionukliden schädigt das Meeresökosystem.

Der systematische Schutz der Meeresumwelt ist weltweit bislang kaum als
Querschnittsaufgabe begriffen worden. Schutzmaßnahmen, beispielsweise über
internationale Fischereiabkommen, sind vorrangig darauf ausgerichtet, Nut-
zungsansprüche verschiedener Staaten abzugrenzen. Das Meer wird nicht als
Ökosystem nachhaltig genutzt, sondern als Ressource immer noch rücksichtslos
ausgebeutet. Der schutzwürdige Eigenwert der marinen Ökosysteme und ihrer
Tier und Pflanzenwelt spielt jenseits einiger spektakulärer Tierarten, wie einigen
Meeressäugern, so gut wie keine Rolle.

Der überwiegend auf die wirtschaftlichen Interessen eingeschränkte Umgang
mit den Meeren zerstört nicht nur in großem Umfang die Meeresumwelt und be-
raubt unsere Nachkommen unwiederbringlich eines großen Teils der faszinie-
renden marinen Ökosysteme. Er ist auch ökonomisch unsinnig und kurzsichtig.
Denn die Nutzung der wirtschaftlichen Potenziale der Meere setzt eine gesunde
und vielfältige Meeresumwelt voraus.

Die Dominanz wirtschaftlicher Interessen ist in weiten Teilen auch Leitbild der
EU-Meerespolitik. Um die sektoral aufgesplitterten und wirtschaftsdominierten
Meerespolitiken zusammenzuführen hat die Europäische Kommission im Okto-
ber 2005 einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der einen Ordnungsrahmen für
Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Meeresumwelt schaffen soll
[Meeresstrategie-Richtlinie, KOM(2005) 505]. Die Richtlinie soll die maritime
Umweltsäule der Meerespolitik der Europäischen Union bilden.

Mit dem Richtlinienvorschlag der Kommission wird die Verantwortung für die
Lösung der komplexen Meeresumweltprobleme weitgehend renationalisiert,
also in die Verantwortung der einzelnen Mitgliedsländer gelegt. Einhergehend
damit sind wesentliche Politikfelder ausgeklammert, in denen die EU über die
zentralen Kompetenzen verfügt. Ein Beispiel dafür ist die Gemeinsame Fische-
reipolitik, die der Entwurf der Meeresstrategie-Richtlinie nicht tangiert, obwohl
sie weder ökologisch noch ökonomisch nachhaltig betrieben wird. So ignoriert
beispielsweise der EU-Fischereiministerrat seit Jahren die Empfehlungen des
Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES), die Kabeljau- bzw. Dorsch-
fischerei in der Nord- und Ostsee zu schließen.

Analog zur Fischereipolitik fehlen im Entwurf die Verbindungen zur Landwirt-
schafts- und Seeschifffahrtspolitik der EU, obgleich beide Politikfelder über den
Emissionspfad starke Auswirkungen auf die Umweltqualität der Meere haben.

Außerdem fehlen ein Konzept für die Weiterentwicklung des den Meeresschutz

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5973

betreffenden europäischen Umweltrechts (beispielsweise der Wasserrahmen-
oder der Nitratrichtlinie) sowie Vorgaben für die Verknüpfung der europäischen
Handlungsebenen mit den internationalen Konventionen zum Schutz der Meere.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) äußert in einem Gutachten
zum EU-Meeresschutz die vernichtende Kritik, der grundlegende Ansatz der
EU-Strategie lasse „in eklatantem Widerspruch zum eigenen Anspruch“ einen
integralen, alle Verursacher umfassenden Ansatz vermissen und sei somit nicht
zielführend. Die Europäische Kommission hinterlasse den Eindruck, als wolle
sie sich hier aus der Verantwortung ziehen. Nationale Meeresschutzstrategien
könnten zwar Teil eines Gesamtkonzeptes für eine europäische Meeresschutz-
strategie sein. Die Europäische Kommission sei aber insbesondere in den Sek-
toren Fischerei, Landwirtschaft und Seeschifffahrt selbst gefordert, ein Schutz-
konzept zu entwickeln und klare Zielvorgaben und Maßnahmenprogramme in-
klusive eines ambitionierten und verbindlichen Zeitplans vorzuschlagen, so der
Sachverständigenrat.

Der Kommissionsvorschlag einer Meeresstrategie-Richtlinie wird in seinen
ökosystemaren Defiziten noch vom Grünbuch der Kommission zur künftigen
Meerespolitik der EU übertroffen, welches im Juni letzten Jahres veröffentlicht
wurde. Letzteres hat zwar das erklärte Ziel, konkurrierende Nutzungsanforde-
rungen an die Meere (Seeverkehr, maritime Wirtschaft, Küstengebiete, Touris-
mus, Offshore-Energie, Fischerei oder Meeresumwelt) so aufeinander abzustim-
men, dass die Belange der Wirtschaft und der Umwelt gleichermaßen Berück-
sichtigung finden. Allerdings hat die ökonomische Sichtweise klar das Primat.
Zudem wird die ökologisch unverantwortlich riskante „blaue Gentechnik“ posi-
tiv bewertet. Auch der Abbau von Methanhydrat-Vorräten birgt mehr Risiken,
als er Nutzen verspricht.

Das Europaparlament hat im Zuge der ersten Lesung der Meeresschutzrichtlinie
Konsequenzen aus den Defiziten des Kommissionsvorschlages gezogen. In den
Beratungen wurde der Entwurf erheblich verbessert. So beispielsweise bezüg-
lich der Konkretisierung des Ziels, bis 2021 einen guten Umweltzustand in den
europäischen Meeren zu erreichen. Zudem forderte das Parlament die Einrich-
tung von Europäischen Meeresschutzgebieten und eine stärkere Verknüpfung
der geplanten Richtlinie mit den Vorschriften der Gemeinsamen Fischereipolitik
und der Landwirtschaftspolitik.

All diese Änderungen sind vom Umweltministerrat am 18. Dezember 2006 zu-
rückgenommen worden. Darüber hinaus wurde die Substanz der Richtlinie wei-
ter verwässert. So wurde aus dem Ziel, einen guten Umweltzustand zu erreichen,
das Ziel, lediglich anzustreben, diesen guten Umweltzustand zu erreichen („aim
to achieve“ statt „achieve“). Maßnahmen zum Schutz der marinen Umwelt sol-
len nunmehr ausdrücklich nur unter dem Vorbehalt ergriffen werden, dass diese
„angemessen und praktikabel“ seien und nicht zu „überproportionalen Kosten“
führten.

Selbst wichtige existierende Zielsetzungen im maritimen Umweltschutz, die auf
regionalen und internationalen Konventionen sowie auf allgemein akzeptierten
Prinzipien einer guten Regierungspraxis basieren, wie z. B. dem Vorsorgeprin-
zip, wurden vom Rat gestrichen oder ignoriert.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

innerhalb der Europäischen Union, insbesondere in der Kommission und im Rat
im Zusammenhang mit der weiteren Beratung der EU-Meeresstrategierichtlinie
darauf zu drängen, dass

1. klare Kriterien und Definitionen für einen guten Umweltzustand für die euro-
päischen Meere entwickelt und in die Richtlinie aufgenommen werden,

Drucksache 16/5973 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. mehr detaillierte Standards in die Richtlinie selbst Eingang finden und ent-
sprechend weniger über den Regelnden Ausschuss (Regulatory Committee)
im Rahmen des Komitologieverfahrens im Nachhinein festgesetzt werden,

3. in der Richtlinie Verbindungen zu den regionalen Meeres-Konventionen
(z. B. HELCOM, OSPAR) und den mit ihnen verbundenen Umsetzungs-
prozessen hergestellt werden,

4. in der Richtlinie ausdrücklich auf das Vorsorgeprinzip, den ökosystemaren
Ansatz und das Verursacherprinzip verwiesen wird,

5. in den geographischen Geltungsbereich der Richtlinie auch marine Binnen-
gewässer einbezogen werden,

6. die Mitgliedstaaten in der Richtlinie aufgefordert werden, möglichst schon
vor dem Jahr 2018 die Maßnahmepläne für das Erreichen eines guten Um-
weltzustandes fertigzustellen, damit das Ziel, spätestens 2021 diesen Zustand
in den europäischen Gewässern zu erreichen, erfüllt werden kann,

7. in der Richtlinie explizit die Rolle der Gemeinsamen Fischereipolitik, der
Landwirtschaftspolitik und der Seefahrt bei der Realisierung eines guten Um-
weltzustandes festgeschrieben wird,

8. die Einrichtung von großflächigen Europäischen Meeresschutzgebieten ver-
pflichtend in die Richtlinie aufgenommen wird, in denen die Müllentsorgung
und extraktive Nutzungsformen, wie die Fischerei, die Förderung von Öl und
Gas sowie die Entnahme von Sand und Kies, ausgeschlossen sind.

Die Bundesregierung soll im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik sowie
über ihre Mitarbeit in den Gremien, die die EU in den internationalen Fischerei-
abkommen vertreten, darauf drängen, dass

1. zerstörerische und beifangintensive Fischereimethoden wie zum Beispiel die
Grundschleppnetzfischerei abgeschafft oder ersetzt werden,

2. weitere Maßnahmen ergriffen werden, um die Beifänge von Nichtzielfisch-
arten sowie von Meeressäugern, Seevögeln und Schildkröten zu minimieren,

3. die EU-Initiative zum Verbot von Rückwürfen (Discards) einhergehend mit
einem Anlandegebot weiter betrieben wird,

4. der EU-Fischereiministerrat den Empfehlungen des Internationalen Rates für
Meeresforschung (ICES) betreffs der Fangmengen von Fischpopulationen in
EU-Gewässern künftig nicht mehr ignoriert, sondern folgt,

5. die illegale, undokumentierte und unregulierte (IUU) Fischerei wirksamer als
bisher bekämpft wird, unter anderem dadurch, dass die Fischereiaufsicht
wirksam gestärkt wird,

6. Überkapazitäten der EU-Fischereiflotte dringend abgebaut werden,

7. die Zucht von Aquakulturen nur dann akzeptiert wird, wenn sie ökologisch
nachhaltig betrieben wird,

8. der Einsatz von Gentechnik bei Aquakulturen verboten wird,

9. eine Initiative ergriffen wird, um großflächige Meeresschutzgebiete auf der
Hohen See außerhalb nationaler Gerichtsbarkeiten einzurichten, in denen die
Müllentsorgung und extraktive Nutzungsformen, wie die Fischerei, die För-
derung von Öl und Gas sowie die Entnahme von Sand und Kies, ausgeschlos-
sen sind.

Berlin, den 19. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.