BT-Drucksache 16/5783

zu der zweiten Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung -16/1360, 16/4211- Siebter Familienbericht Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung

Vom 20. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5783
16. Wahlperiode 20. 06. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Karin Binder, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Katja Kipping, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Dr. Kirsten
Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der zweiten Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksachen 16/1360, 16/4211 –

Siebter Familienbericht
Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine
lebenslaufbezogene Familienpolitik
und
Stellungnahme der Bundesregierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Problemfall: Gegenwärtige Familien- und Kinderpolitik in Deutschland

Die derzeit praktizierte Familien- und Kinderpolitik in Deutschland wird in
vielfältiger Hinsicht den zu lösenden Problemen nicht gerecht.

a) Traditionelles Familienleitbild und Arbeitsteilung der Geschlechter

Ein traditionelles Familienleitbild zementiert die hierarchische Arbeitstei-
lung zwischen Männern und Frauen:

Der Mann als Hauptverdiener und Ernährer der Familie, die Frau als Mut-
ter und Zuverdienerin. Das steigende Qualifikationsniveau von Frauen
und ihre höhere Erwerbsbeteiligung ändern nichts daran, dass dieses
Leitbild ihnen bei einer Entscheidung für Kinder immer auch eine
Entscheidung über den Umfang ihrer Erwerbstätigkeit abfordert. Der
7. Familienbericht beschreibt die strukturellen Zwänge in Richtung einer
traditionellen Arbeitsteilung in der Familie auch als beziehungs- und
familienzerstörerisch. So etabliert sich eine traditionelle Aufteilung der
Familienarbeit in der Familiengründungsphase immer stärker, „so dass
sich Mütter, aber auch Väter, einige Jahre nach der Familiengründung in
einer Lebenssituation wiederfinden, die sie nicht gewollt und für die sie
sich nicht bewusst entschieden haben“ (7. Familienbericht, S. 189).

Drucksache 16/5783 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

b) Kinderarmut

Kinderarmut in Deutschland hat viele Seiten:

Sie manifestiert sich als Mangel an Bildung, Gesundheit, Mobilität, Frei-
zeitgestaltungsmöglichkeiten, Kultur, ja sogar an gesunder Ernährung.
Das tatsächlich verfügbare Einkommen ist und bleibt dafür der entschei-
dende Faktor. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich der An-
stieg der Kinderarmut global dramatisch beschleunigt. Die Armutsquote
von Kindern liegt europaweit, mit Ausnahme der skandinavischen Länder,
über der allgemeinen Armutsquote. Die durch Kinder verursachten Kos-
ten sind beinahe überall höher als die für Kinder staatlich gewährten
Transferleistungen oder Steuerermäßigungen. Dies gilt auch und gerade
für die Bundesrepublik Deutschland. Fast jedes vierte Kind unter 5 Jahren
lebt nach den Kriterien der Europäischen Union in relativer Armut. Etwa
2,5 Millionen Kinder befinden sich im Bezug von Sozialgeld oder ALG II
und leben damit auf einem Einkommensniveau, das sie von einer an-
gemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Das Ar-
mutsrisiko für Kinder ist dann noch höher, wenn sie in Ostdeutschland ge-
boren werden, Eltern mit Migrationshintergrund haben oder bei einem
allein erziehenden Elternteil aufwachsen. Das Kinderhilfswerk der Ver-
einten Nationen UNICEF hat zudem festgestellt, dass die Kinderarmut in
Deutschland seit 1990 im Vergleich zu anderen Industrieländern über-
durchschnittlich stark angestiegen ist. Kinderarmut ist eine der sozialen
Herausforderungen des Jahrzehnts. Aber die sozialstaatlichen Antworten
sind alles andere als ausreichend. Insbesondere Kindergeld, Kinderfrei-
betrag und Kinderzuschlag sind in der gegenwärtigen Form als Leistungs-
system zur Verhinderung von Kinderarmut völlig ungeeignet. Die Be-
darfsgemeinschaft bleibt eine sozialpolitische Fehlkonstruktion, weil sie
dem Anspruch, das Existenzminimum von Kindern eigenständig und un-
abhängig vom Familieneinkommen abzusichern, nicht gerecht wird. Dar-
über hinaus wird ignoriert, dass Kinder eine eigenständige Bevölkerungs-
gruppe mit einem eigenständigen Anspruch auf einen Anteil an den
gesellschaftlichen Ressourcen sind.

c) Keine Zeit für Familie

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde – nicht zuletzt, weil diese
von der Grundannahme der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ge-
prägt ist – von der Familienpolitik viel zu lange vernachlässigt. Der Wan-
del des Normalarbeitsverhältnisses, die räumliche und zeitliche Entgren-
zung von Arbeit, die Flexibilisierungs- und Prekarisierungstendenzen tun
ein Übriges, um Anforderungen an abhängig Beschäftigte zu stellen, die
beinahe nur ohne Familienpflichten leistbar sind. Die individuelle Organi-
sation des Alltags von Familien wird vor dem Hintergrund der steigenden
Anforderungen im Arbeitsleben zunehmend zu einem zeitlichen Balance-
akt. Dies gilt besonders für Einelternfamilien. Gleichzeitig wird in die
Familie die Erwartung gesetzt, Ort des Rückzugs und der Herstellung des
sozialen Zusammenhalts in einer zunehmend flexibilisierten und individu-
alisierten Arbeitswelt zu sein. Diesen Anforderungen kann die Familie
nicht ohne ein neues Nachdenken über Zeit für Familie und Elternschaft
gerecht werden. Die schlechte Arbeitsmarktsituation und die verfehlte Ar-
beitsmarktpolitik der letzten Jahre schränkt allerdings die Handlungsspiel-
räume der Individuen, ihre eigenen Arbeitszeitwünsche umzusetzen, stark
ein. Deshalb muss über Möglichkeiten der gesellschaftlichen Um-
gestaltung des Verhältnisses der Zeitstrukturen der Erwerbsarbeit und des
Familien- und Alltagslebens nachgedacht werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5783

d) Diskriminierung von Familien mit Migrationshintergrund

Das Zusammenleben von Menschen mit Migrationshintergrund in fami-
liären Zusammenhängen wird nach geltender Rechtslage durch eine Viel-
zahl von Restriktionen behindert. Der Familiennachzug ist im Regelfall
nur Kernfamilienangehörigen und nur unter besonderen Bedingungen
möglich (Altersbeschränkungen, Vorbehalt der dauerhaften eigenständi-
gen Lebensunterhaltssicherung und ausreichenden Wohnraums usw.). Die
Bundesregierung plant weitere Eingriffe in das Familienleben von Men-
schen mit Migrationshintergrund, etwa durch massive Beschränkungen
des Ehegattennachzugs und verschärfte Überprüfungen von (angeblichen)
„Scheinehen“ und „Scheinvaterschaften“. Geduldeten und Asyl suchen-
den Familien, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, ist ein
menschenwürdiges Familienzusammenleben aufgrund der gesetzlichen
Restriktionen unmöglich: So erhält eine Flüchtlingsfamilie beispielsweise
häufig nur ein Zimmer in einer Massenunterkunft, was den Bedürfnissen
von Eltern und Kindern in keiner Weise gerecht wird.

e) Herausforderungen des demographischen Wandels

Der Wandel der Bevölkerungsstruktur ist ein in allen Industrieländern seit
langem zu verzeichnender Prozess. Die daraus resultierenden politischen
Herausforderungen sind vielfältig, Familienpolitik wird parteiübergrei-
fend zunehmend als „Problemlösungsstrategie“ zur Steigerung der Ge-
burtenraten verstanden. Den Erfolg von Familienpolitik an der Zahl der
Geburten oder der Zahl der „Mehrkindfamilien“ messen zu wollen, ist
überaus fragwürdig und überschätzt zudem die staatlichen Gestaltungs-
möglichkeiten. Der 7. Familienbericht hat gezeigt, dass Familie und Kin-
der unverändert einen hohen Stellenwert besitzen, die Rahmenbedingun-
gen für Familie und Elternschaft den Vorstellungen junger Männer und
Frauen aber nicht mehr gerecht werden. Familienpolitik hat deshalb die
Aufgabe, die Rahmenbedingungen für Eltern und Kinder zu verbessern.
Dies erfordert gesellschaftliche Investitionen in Familienfreundlichkeit
und eine Umsteuerung der derzeitigen staatlichen Familienförderung.
Konzepte, die die Steigerung der Geburtenrate zum Ziel und Erfolgsmaß-
stab von Familienpolitik erklären, sind aus diesen Gründen abzulehnen.

2. Auf dem sozialen Auge blind – Staatliche Förderung von Familien und Kin-
dern heute

a) Kein Beitrag zum Abbau von sozialer Ungleichheit

Die staatliche Förderung von Familien und Kindern in der Bundesrepublik
Deutschland schafft ungerechte Verteilungseffekte. Die meisten Maßnah-
men tragen wenig oder gar nichts zum Abbau von Einkommensunter-
schieden bei. Genau dies wäre aber die Voraussetzung für eine wirksame
Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien und Kindern. Die
Förderpraxis vertieft an vielen Stellen sogar noch die sozialen Unter-
schiede in der Gesellschaft. Grund dafür ist die Verankerung vieler Leis-
tungen, die der Förderung von Kindern und Familien dienen sollen, als
direkte oder indirekte Transfers im Steuerrecht. Dieses Kennzeichen deut-
scher Familienpolitik ist zugleich ihr größtes Problem.

b) Ungleichgewicht auf der Einnahmenseite

Auf der Einnahmenseite führen die niedrige Steuerquote für hohe Ein-
kommen, Kapitaleinkommen und Vermögen und der gleichzeitig stei-
gende Anteil der Verbrauchsteuern an den Staatseinnahmen zu Miss-
verhältnissen. Familien wenden – insbesondere dann, wenn sie Kinder

Drucksache 16/5783 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

haben – einen überproportional hohen Anteil ihres Einkommens für Kon-
sum auf und bezahlen damit als indirekte Steuerzahlerinnen und Steuer-
zahler einen Gutteil familienpolitischer Leistungen selbst. Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer im mittleren Einkommenssegment sind durch
ihre relativ hohe Steuerquote ebenfalls überproportional belastet. Unter-
nehmen, Vermögende und Selbstständige mit hohen Einkommen werden
dagegen von dieser Form der Familienförderung als Nettozahlerinnen und
Nettozahler kaum in die Verantwortung genommen.

c) Ungleichgewicht auf der Ausgabenseite

Auf der Ausgabenseite ist das prägende Kennzeichen derzeitiger Politik
für Kinder, Jugendliche und Familien ebenfalls die Zementierung der
Ungleichheit. Viele familienpolitische Leistungen sind im Steuerrecht
verankert. Von Steuervergünstigungen werden aber nicht alle Familien
erreicht und Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen oft über-
proportional entlastet. Dies wird den Anforderungen an eine moderne Fa-
milien-, Kinder- und Jugendpolitik immer weniger gerecht und verursacht
sogar wesentliche strukturelle Probleme. Solange Familienförderung im
Wesentlichen über das Steuerrecht erfolgt, erhalten ausgerechnet diejeni-
gen die höchste Förderung, die ohnehin schon am meisten haben. Zuerst
müssen aber diejenigen bedacht werden, deren Einkommen am geringsten
ist.

d) Öffentliche Infrastruktur in der Krise

In dieselbe Richtung wirkt der beschämend geringe finanzielle Beitrag,
den sich die Bundesrepublik Deutschland für vor- und außerschulische
Bildung, Betreuung und Erziehung in öffentlicher Verantwortung leistet.
Familien mit niedrigen oder mittleren Einkommen sind auch weniger in
der Lage, die Defizite in der öffentlichen Infrastruktur durch private Auf-
wendungen zu kompensieren. Die viel beschworenen Armuts-Bildungs-
Spiralen nehmen hier ihren Anfang. Die nach wie vor unzureichende Aus-
stattung mit vorschulischen Kindertagesbetreuungsangeboten muss nach-
haltig verbessert werden. Der sich abzeichnende Zusammenbruch der au-
ßerschulischen Kinder- und Jugendarbeit durch andauernde Kürzungen
bei Bund, Ländern und Kommunen muss gestoppt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich eine Neuorientierung der Familienpolitik einzuleiten, die folgen-
den Leitlinien gerecht wird:

1. Grundlinien sozialer Familienpolitik

Familie ist dort, wo Menschen füreinander soziale Verantwortung überneh-
men, unabhängig von Trauschein oder sexueller Orientierung! Familien
brauchen gesellschaftliche Solidarität, welche familiäre Solidarität fördert
und ermöglicht.

Gesellschaftliche Solidarität für Familien bedeutet die Übernahme öffent-
licher Verantwortung. Hierfür ist der gezielte Ausbau sozialstaatlicher Leis-
tungen notwendig, anstatt diese zu reduzieren und Solidarität und Verantwor-
tung in private Zusammenhänge zu verdrängen. Dies ist Bestandteil einer
emanzipatorischen und sozialen Familienpolitik, welche allen Gesellschafts-
mitgliedern, aber gerade den bisher unterprivilegierten und unterversorgten
Mitgliedern ermöglicht, ein gutes Leben zu führen und sich optimal zu ent-
wickeln.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5783

In diesem Zusammenhang darf Familienpolitik nicht den Fehler begehen, be-
stimmte Lebensformen als gesellschaftliche Normalität vorauszusetzen. Es
ist nicht Aufgabe von Familienpolitik, die Erfüllung von Normalitätsannah-
men zu belohnen oder deren „Missachtung“ zu betrafen. Alle Gemeinschaf-
ten, in denen Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, sind gleich-
zustellen. Dies ist ein Gebot sozialer Gerechtigkeit. Klar ist: Förderung
brauchen alle Menschen, die Verantwortung für Kinder oder Pflegebedürftige
übernehmen.

Die Anerkennung der Vielfalt der Lebensweisen geht einher mit dem An-
spruch auf gleiche Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen
und Männer. Familienpolitik darf nicht ausblenden, dass die Geschlechter-
verhältnisse nach wie vor hierarchisch verfasst sind. So ist auch die ungleiche
Verteilung von unbezahlter (Familien-)Arbeit und Erwerbsarbeit zu Lasten
der Frauen eine wesentliche Basis der bestehenden Geschlechterverhältnisse.
Es ist daher kein Widerspruch, trotz eines Neutralitätsanspruchs gegenüber
verschiedenen Formen sozialen Zusammenlebens politisch aktiv auf die Be-
seitigung von geschlechterstereotypen Festlegungen und Rollenzuweisungen
hinzuwirken. Dazu gehören der Abbau von Benachteiligungen (Diskriminie-
rungen) aufgrund des Geschlechtes, die gleiche Teilhabe (Partizipation) von
Frauen und eine von tradierten Rollenmustern freie, selbst bestimmte Le-
bensgestaltung (echte Wahlfreiheit). Familienpolitik muss aktiv mit gestal-
tender Gleichstellungspolitik verknüpft werden, ohne dass deshalb Gleich-
stellungspolitik auf Familienpolitik zu reduzieren wäre. Elternschaft muss für
Mütter und Väter lebbar werden. Dies bedeutet einen Abbau der Hindernisse
für die Erwerbstätigkeit von Frauen und Müttern sowie eine Abkehr von der
selbstverständlichen Annahme, dass Familie und Kinder Frauensache sind.

Kinder dürfen im Rahmen von Familienpolitik keine nachgeordnete Rolle
spielen. Dagegen bedarf es einer Politik, die Kinder und Jugendliche als
eigenständige Bevölkerungsgruppe mit einem spezifischen Anspruch auf
einen Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen behandelt. Kinder haben
Rechte, und diese Rechte sollten Verfassungsrang erhalten. Kinder stehen un-
ter dem besonderen Schutz des Staates. Das Übereinkommen über die Rechte
des Kindes vom 20. November 1989 (UN-Kinderrechtskonvention) ist der
Leitfaden für die Umsetzung dieses Anspruchs in staatliches Handeln und
muss uneingeschränkt insbesondere auch für ausländische Kinder und
Flüchtlingskinder gelten. Kinder haben ein besonderes Recht auf gewaltfreie
Erziehung, Bildung und Betreuung, auf das erreichbare Höchstmaß an Ge-
sundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von
Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Allen Kindern ist ein
Aufwachsen frei von Armut und Ausgrenzung zu ermöglichen. Konzepten,
die das Streben nach sozialer Gerechtigkeit durch eine „Generationengerech-
tigkeit“ ergänzen oder gar ersetzen wollen, ist aber eine Absage zu erteilen,
weil sie zentrale ökonomische Zusammenhänge ignorieren, weil sie den Kin-
dern von heute nichts nutzen und weil sie keine Antwort auf die sozialpoliti-
schen Herausforderungen der Gegenwart geben.

2. Grundlinien öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien

Familien und Kinder haben Anspruch auf gesellschaftliche Solidarität. Diese
beinhaltet die Übernahme öffentlicher Verantwortung. Öffentliche Verant-
wortung zu übernehmen verlangt vor allem die Bereitstellung von finanziel-
len Transferleistungen und den Auf- bzw. Ausbau einer qualitativ hochwerti-
gen, auf die Bedürfnisse von Eltern und Kindern abgestimmten, ganztägigen
und elternbeitragsfreien Kindertagesbetreuung.

Drucksache 16/5783 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

a) Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen verbessern

Kinder und Jugendliche haben Rechte! – Diese Erkenntnis hat sich bereits
im vergangenen Jahrhundert gesellschaftlich und politisch durchgesetzt.
Nun ist es erforderlich, individuelle soziale Rechte von Kindern und
Jugendlichen umfassend gesetzlich zu verankern. Sie sind unabhängig
von ihrer Zugehörigkeit zu einer Solidargemeinschaft Familie selbststän-
dig als Akteure in politischen, ökonomischen und sozialen Entscheidungs-
prozessen zu behandeln. Insbesondere ist der an vielen Stellen auch schon
gesetzlich verankerte individuelle Anspruch auf öffentlich verantwortete
Förderung umfassend zu realisieren.

● Zugang zu Bildung und Betreuung

Durch bundespolitische Aktivitäten sind die Länder und Kommunen
in die Lage zu versetzen, eine flächendeckende, umfassende und
gebührenfreie ganztägige Betreuung für alle Kinder und Jugendlichen
von 0 bis 14 Jahre anzubieten. Der Rechtsanspruch auf eine ganztägige
Betreuung für jedes Kind und jeden Jugendlichen ist auch auf alle unter
dreijährigen Kinder auszuweiten und bis 2010 in einen uneinge-
schränkten Ganztagsanspruch umzuwandeln. Zudem ist die rechtliche
Grundlage für ein flächen- und bedarfsgerechtes ganztägiges Schulan-
gebot zu schaffen. Der Ausbau und die Verbesserung von Gemein-
schafts- und Ganztagsschulen ist auch für die Verbesserung der Lern-
und Bildungschancen von Migrantinnen und Migranten geeignet, da
das bisherige Schulsystem sozial selektierend wirkt.

● Schutz vor Armut für jedes Kind

Dem parteiübergreifenden Entsetzen über die in Deutschland zuneh-
mende Kinderarmut müssen endlich Taten folgen. Deshalb muss eine
Kindergrundsicherung als soziales Recht des Kindes in Form eines
individualisierten Anspruchs auf eine existenz- und teilhabesichernde
Grundsicherung unabhängig vom sozialen Status der Eltern ausgestal-
tet sein. Die Ausgestaltung der Höhe dieser Grundsicherung darf sich
nicht pauschal an einem geringeren Prozentsatz des Bedarfs von
Erwachsenen orientieren, sondern muss das Leben von Kindern und
ihre Bedürfnisse in den Blick nehmen.

b) Elternschaft lebbar machen

Der 7. Familienbericht nennt die Phase von Familiengründung und Start
in die Berufstätigkeit zu Recht die „Rushhour of life“. Elternschaft zu
leben und gleichzeitig berufliche Integration, soziales oder politisches
Engagement zu verwirklichen ist gerade für junge Eltern schwierig. Die
Mütter, führt der 7. Familienbericht weiter aus, fangen durch ihre Flexi-
bilität und Zeit die schlechten Bedingungen für Familien auf – auf Kosten
eigener Erwerbsintegration, sozialer Beziehungen und sogar Schlaf
(7. Familienbericht, S. 391). Dieser traurige Befund muss zu einem neuen
Leitbild der gelebten Elternschaft führen. Zentral hierfür ist die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf, sozial abgesicherte Zeiten für Männer und
Frauen, in denen diese sich ausschließlich den Kindern widmen können
und sozial abgesicherte kürzere Arbeitszeiten für alle Eltern.

● Soziale Absicherung von Betreuungstätigkeit

Die zeitweise Unterbrechung oder Reduzierung der Erwerbstätigkeit
zugunsten der Kinderbetreuung wird beiden Elternteilen ermöglicht.
Die soziale Absicherung dieser Zeiten ist durch ein sozial ausgestal-
tetes Elterngeld zu gewährleisten. Das Elterngeld ist eine individua-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/5783

lisierte Lohnersatzleistung, die Elternteile innerhalb eines bestimmten
Zeitraums nach Geburt ihres Kindes beziehen können, wenn sie ihre
Erwerbstätigkeit für die Betreuungstätigkeit unterbrechen oder redu-
zieren. Das Elterngeld dient der Anerkennung und finanziellen Absi-
cherung geleisteter Elterntätigkeiten. Elterntätigkeit ist fortan ein eige-
ner sozialrechtlicher Status, der in sich Elemente der Erwerbstätigkeit
und des Bezuges von Lohnersatzleistungen nach dem Muster des
ALG I vereint. Für erwerbslose Eltern oder Eltern in Ausbildung, die
von einer Lohnersatzleistung nicht profitieren würden, wird eine Min-
destleistung gezahlt. Elterntätige Eltern erhalten Ansprüche auf Leis-
tungen zur Fort- und Weiterbildung und andere arbeitsmarktpolitische
Integrationsleistungen. Die Leistungen des Dritten Buches Sozialge-
setzbuch (SGB III) für Berufsrückkehrerinnen und -rückkehrer werden
verbessert.

● Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken

Alle Eltern sollen die Möglichkeit erhalten, Zeit mit ihren Kindern
zu verbringen und berufliche Chancen, Bildungsmöglichkeiten und
soziales Engagement zu leben. Unterbrechung oder Reduzierung einer
Erwerbstätigkeit aus familiären Gründen benötigt soziale Absicherung
und gesellschaftliche Akzeptanz und darf nicht mehr – wie jetzt noch
häufig der Fall – Nachteile bei beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten
nach sich ziehen oder zu finanzieller Abhängigkeit führen. Die Rück-
kehr auf einen gleichwertigen Arbeitsplatz nach Erziehungszeiten ist
zu gewährleisten. Die Unternehmen müssen auf die Einführung einer
familienfreundlichen Arbeitswelt gedrängt werden. Das bedeutet auch,
Familienzeiten nicht länger als Frauensache zu begreifen, sondern
Engagement von Männern einzufordern und selbstverständlich auch zu
ermöglichen. Hierfür ist das Engagement aller gesellschaftlichen Grup-
pen und der Tarifparteien erforderlich, über die Neuorientierung der
Verteilung von Erwerbsarbeits- und Familienzeiten (auch zwischen
den Geschlechtern) zu sprechen. Zusätzliche gesetzgeberische Initia-
tiven sind allerdings unverzichtbar! Über den Auf- und Ausbau fami-
lienbezogener Zeitrechte können Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer bei der Realisierung ihrer Arbeitszeitwünsche unterstützt werden.
Gleichzeitig wird so eine Stärkung der Arbeitnehmerinnen- und Ar-
beitnehmerrechte erreicht.

c) Ausbau und Modernisierung des Wohlfahrtsstaates

Hochentwickelte Volkswirtschaften sind mit dem Problem einer wachsen-
den Produktivität konfrontiert, die immer mehr Arbeitskräfte freisetzt.
Unter den bundesdeutschen Bedingungen einer ungebremsten privaten
Aneignung gesellschaftlich geschaffener Werte und eines radikalen An-
griffs auf den Sozialstaat hat sich diese Entwicklung vor allem in Massen-
arbeitslosigkeit, einer sich verschärfenden Prekarisierung der Arbeits- und
Lebensverhältnisse sowie einer wachsender Einkommens- und Reich-
tumsspreizung niedergeschlagen. Diese Folgen sind genauso wenig
selbstverständlich wie die daraus resultierende Deformierung und Delegi-
timierung des Sozialstaats. Neue Arbeitsplätze können unter anderem
dann neu geschaffen werden, wenn in den Bereichen Bildung, Betreuung
und Erziehung der öffentliche Sektor gestärkt wird. Die Realisierung so-
zialer Kinder-, Jugend- und Familienpolitik ist gerade auf die Nutzung der
durch Produktivitätszuwächse frei werdenden Ressourcen angewiesen.
Ein Ja zu einer expansiven Politik für Kinder, Jugendliche und Familien
ist mit einer Grundsatzentscheidung für die Umlenkung und Umverteilung

Drucksache 16/5783 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

des gesellschaftlich produzierten Reichtums in einen Ausbau des Wohl-
fahrtsstaates verbunden.

Eine durch einen starken und demokratisch organisierten öffentlichen
Sektor getragene Politik für Kinder, Jugendliche und Familien schafft
ihrerseits wiederum die Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit des
Landes, indem sie am Gemeinwohl orientiert ist, die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt stärkt und schließlich
einen Beitrag zur politischen Stabilität des Gemeinwesens leistet. Politik
für Kinder, Jugendliche und Familien verwirklicht auf diese Weise prak-
tisch den Anspruch, der privaten Aneignung gesellschaftlich geschaffener
Werte wirksam Grenzen zu setzen. Sie hält daran fest, dass Erwerbsarbeit
im Regelfall die Basis von verfügbarem Einkommen ist. Aber sie muss
darüber hinaus ihren Beitrag dazu leisten, dass alle Erwerbsfähigen die
Chance zu ökonomischer Selbstständigkeit durch Erwerbsarbeit erhalten.
Um Elternschaft auch in Zukunft lebbar zu machen und sozialen Aus-
schluss von Geburt an wirksam zu verhindern, muss

● die intelligente Organisation einer konsequenten Arbeitszeitverkür-
zung,

● der kinder- und familienfreundlichen Ausbau der Rechte von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern,

● verlässlich einspringende Sozialversicherungsleistungen und be-
darfsabhängige Sozialtransfers sowie

● die Bereitstellung einer beitragsfreien sozialen Infrastruktur, auf deren
Nutzung individuelle Rechtsansprüche bestehen,

so verknüpft werden, dass Erwerbsarbeit nicht mehr zu jeder Zeit Voraus-
setzung für ein Einkommen ist, das mehr als das Überleben sichert. So-
ziale Absicherung muss unabhängig von individuellen Erwerbsverläufen
garantiert sein.

3. Maßnahmeprogramm für Kinder und Familien

a) Elternbeitragsfreie Kindertagesbetreuung als Rechtsanspruch

Es ist für eine familienfreundliche Gesellschaftskultur unumgänglich,
eine hochwertige, flächendeckende, umfassende und elternbeitragsfreie
ganztägige Betreuung für alle Kinder und Jugendlichen von 0 bis 14 Jah-
ren anzubieten bzw. aufzubauen. Der Zugang zu frühkindlicher Erziehung
und Bildung ist für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen uner-
lässlich. Da in Deutschland der Bildungserfolg eng mit der sozio-
kulturellen Herkunft verknüpft ist, muss bereits bei der frühkindlichen
Erziehung die Teilhabe aller Kinder ermöglicht werden. Daher ist ein
Betreuungsplatz ab der Geburt als individueller Rechtsanspruch des Kin-
des auszugestalten, der unabhängig vom Erwerbsstatus oder Aufenthalts-
status der Eltern besteht. Die gebührenfreie vorschulische Kinderbetreu-
ung und -erziehung ist ein besonders wichtiges Element im Rahmen einer
gesamtgesellschaftlichen Integrationspolitik. Die Bereitstellung kosten-
freier, qualitativ hochwertiger und ganztägiger Kinderbetreuung ist auch
eine wesentliche Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie für beide Elternteile.

Als ein erster Schritt in Richtung einer umfassenden Kinderbetreuungsin-
frastruktur ist die Beitragsfreistellung der bestehenden Betreuungsplätze
anzusehen. Länder und Kommunen können die entstehenden Kosten
zunächst nicht allein tragen, auch wenn erhebliche positive wirtschaftliche
Effekte längerfristig erwartet werden können, deshalb muss ein Bundes-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/5783

zuschuss die entsprechenden Mittel bereitstellen. Hierfür sind voraus-
sichtlich im Jahr 2007 2,5 Mrd. Euro notwendig. Bis 2010 soll ein Rechts-
anspruch für jedes Kind auf einen ganztägigen Betreuungsplatz realisiert
werden.

b) Kinderarmut in die Geschichtsbücher verbannen – Die Kindergrundsiche-
rung

Eine bedarfsorientierte und individuelle Kindergrundsicherung wird als
eigenständiges soziales Sicherungssystem für Kinder schrittweise durch
einen Ausbau und eine Neuausrichtung der existierenden Instrumente
Kindergeld und Kinderzuschlag eingeführt. Im ersten Schritt werden die
Instrumente Kindergeld und Kinderzuschlag zu einer einkommensabhän-
gigen Absicherung des Existenzminimums für Kinder ausgestaltet. Das
Kindergeld wird für alle Kinder auf 250 Euro angehoben. Der Kinder-
zuschlag nach § 6a des Bundeskindergeldgesetzes wird zukünftig bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres gezahlt und ergänzt das Kindergeld für
Kinder von Eltern mit geringen bzw. keinen Einkommen. Er steht zukünf-
tig auch Kindern von Empfängerinnen und Empfängern von Arbeitslosen-
geld II oder Sozialhilfe zur Verfügung.

c) Keine Diskriminierung von Familien mit Migrationshintergrund

Familienpolitische Leistungen müssen allen in Deutschland lebenden
Kindern und Familien unabhängig vom Aufenthaltsstatus gewährt werden
(insbesondere Elterngeld, Kindergeld und Unterhaltsvorschuss). Das Fa-
milienzusammenleben von Migrantinnen und Migranten darf nicht durch
ausländerrechtliche Beschränkungen be- oder gar verhindert werden, wie
es derzeit infolge der strengen Familiennachzugs- oder auch Auswei-
sungsregelungen der Fall ist. Menschen mit Migrationshintergrund, die
heiraten oder eine Lebenspartnerschaft eingehen möchten, dürfen nicht ei-
nem Pauschalverdacht des Missbrauchs ausgesetzt werden. Vor allem
Frauen mit einem prekären Aufenthaltsstatus bzw. in einer Zwangslage
sind durch eine entsprechende Stärkung ihrer Rechtspositionen und ein
vielfältiges Ensemble von Beratungs- und Betreuungsangeboten zu schüt-
zen.

Kinder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit dürfen unter keinen Umstän-
den in Abschiebungshaft genommen oder gar zwangsweise von ihren
Eltern getrennt werden, Familien und Lebensgemeinschaften dürfen nicht
durch Abschiebungen auseinandergerissen werden, wie es derzeit noch
der Fall ist. Massenunterkünfte für Flüchtlinge und Asyl Suchende sind
aufzulösen, da sie die Grundrechte auf Menschenwürde und freie Entfal-
tung der Persönlichkeit verletzen und insbesondere Familien mit Kindern
in keiner Weise gerecht werden.

d) Kinderschutz als Aufgabe des vorbeugenden und dienstleistenden Sozial-
staats stärken

Ein verbesserter Schutz von Kindern vor Misshandlung und Vernachlässi-
gung ist durch ein Paket aus unterstützenden Angeboten und vernetzten
Hilfen zu erreichen, die die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von
Kindern nachhaltig verbessern. Ausgangspunkt dafür ist die Stärkung und
Vernetzung der Orte, an denen sich Kinder aufhalten, von der Familie über
die Kindertagesstätte bis zur Schule und zum Jugendhaus.

● Die vorgenommenen Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe müs-
sen durch eine Gemeinschaftsanstrengung von Bund, Ländern und
Kommunen rückgängig gemacht werden. Die Kinder- und Jugendhilfe
muss durch einen öffentlichen und fachlichen Diskurs gestärkt und

Drucksache 16/5783 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

weiterentwickelt werden. Standards für die Ausstattung und Qualität
der Angebote müssen entwickelt und umgesetzt werden.

● Die Schulsozialarbeit muss insbesondere im Rahmen des Ganztags-
schulausbaus gestärkt und als flächendeckendes Angebot verankert
werden.

● Für die frühkindlichen Vorsorgeuntersuchungen besteht massiver Wei-
terentwicklungsbedarf. Untersuchungsinhalte, Standards und Inter-
valle müssen zielgerichtet erweitert und auch in Bezug auf Kindesver-
nachlässigung und -misshandlung angepasst werden. Dies kann nur in
Zusammenarbeit mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss erfolgen.

● Initiativen von Krankenkassen, über Bonusprogramme Anreize für die
Eltern zu schaffen, mit ihren Kindern an den Vorsorgeuntersuchungen
teilzunehmen, werden ausdrücklich unterstützt.

● Die Zuständigkeit für die Herstellung der Rechtsgrundlage zur Durch-
führung eines Einladungswesens liegt bei den Bundesländern. Die
Bundesregierung wird aufgefordert, die Bundesländer und Kranken-
kassen bei der Einrichtung eines Einladungswesens zu unterstützten,
um eine lückenlose Vorsorge sicherzustellen. Nicht absolvierte Vor-
sorgeuntersuchungen von Kindern müssen durch die Krankenkassen
verbindlich an die Jugendämter gemeldet werden, die Besuche machen
können.

● Die Akteure des Kinderschutzes, neben den Eltern vor allem die
Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, des Bildungs- und des Ge-
sundheitssystems, müssen stärker als bisher ihr Handeln vernetzen.
Flächendeckende Beratungsbesuche durch Sozialarbeiterinnen und -ar-
beiter bei Familien mit neu geborenen Kindern, wie sie in einigen Kom-
munen bereits mit Erfolg durchgeführt werden, sind anzustreben. El-
ternbriefe sollten ebenso als flächendeckendes Angebot verankert
werden. Kindertagesstätten und Ganztagsschulen müssen regelmäßig
durch Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie Sozialarbeiterinnen und
-arbeiter besucht werden.

● Niedrigschwellige Angebote im sozialen Nahraum, die verschiedene
Aspekte sozialer Hilfen und Vernetzung verbinden, sind zu schaffen.
Ein Investitionsprogramm in lokale Netzwerke und Orte sollte Infor-
mation und Beratung bieten und die Stärkung bestehender Hilfestruk-
turen sowie die Entwicklung neuer sozialer Angebote für Kinder,
Eltern und Familien anregen. Eine Bündelung und flächendeckende
Vernetzung von freiwilligen Beratungs-, Betreuungs- und Aufklä-
rungsangeboten für Familien nach skandinavischem Vorbild ist anzu-
streben. In diesem Zusammenhang sollten aber nicht nur die Familien
Objekt von Beratung und Betreuung sein, sondern alle Orte, an denen
Kinder sich regelmäßig aufhalten.

● Eine Verankerung des Rechts auf Gesundheit im Bürgerlichen Gesetz-
buch – BGB – (inkl. Vorsorgeuntersuchungen) integriert den Bereich
der gesundheitlichen Prävention in die Jugendhilfe, was im Einzelfall
im Sinne des Schutzauftrags auch die Anordnung von Vorsorgeunter-
suchungen einschließen kann.

e) Elterngeldkonto

Die soziale Absicherung während der Elternzeit ist ein wesentliches
Anliegen von Familienpolitik. Das Bundeselterngeldgesetz wird zu einem
flexibel nutzbaren Elterngeldkonto weiterentwickelt. Das Elterngeld ist
eine Lohnersatzleistung, welche 67 Prozent des Einkommensausfalls

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/5783

gegenüber dem vorherigen Nettoeinkommen ausgleicht bis zu einer Höhe
von 1 800 Euro netto, wenn Eltern ihre Erwerbstätigkeit wegen der Kin-
derbetreuung unterbrechen oder reduzieren. Der Mindestbetrag des El-
terngeldes beträgt für alle 450 Euro und wird nicht auf andere Transfer-
leistungen angerechnet.

Jede Mutter und jeder Vater haben für die Betreuung ihres Kindes einen
individuellen Rechtsanspruch auf 12 Monate Bezug von Elterngeld, der
nicht übertragbar ist. Alleinerziehende können die doppelte Bezugsdauer
des Elterngeldes in Anspruch nehmen. Das Elterngeld dient der indivi-
duellen Unterhaltssicherung des elterntätigen Elternteils. Einkommens-
verluste durch betreuungsbedingte Arbeitszeitreduzierung werden anteilig
ausgeglichen. Ein gleichzeitiger Teilzeitelterngeldbezug wird beiden
Elternteilen ermöglicht, in diesem Fall gilt pro Monat Teilzeitelterngeld-
bezug nur ein halber Monat des Elterngeldanspruchs pro Elternteil als
verbraucht. Das heißt die gleichzeitige Arbeitszeitreduzierung wird Eltern
für 24 Monate ermöglicht.

Der Elternzeitanspruch wird in Form eines Elternzeitkontos gewährt, das
Elterngeld kann in Zeitabschnitten von mindestens zwei Monaten bis zum
vollendeten 7. Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen werden.
Das Elterngeld wird im Rahmen einer paritätisch finanzierten Elternver-
sicherung auf Bürgerinnen- und Bürgerversicherungsbasis finanziert und
von der Familienkasse verwaltet.

f) Zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten Erwerbstätiger stärken

Erwerbstätige Eltern und Pflegende benötigen mehr Zeitautonomie. Der
beste Weg, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und familiärem Leben
für Männer und Frauen zu erreichen, sind kürzere Arbeitszeiten. Gleich-
zeitig müssen verstärkt familienbezogene Zeitrechte in das Arbeits- und
Sozialrecht integriert werden, die flexibel gestaltbar und mit einem
Arbeitsplatzrückkehrrecht ausgestattet sind und deren Inanspruchnahme
mit entsprechender materieller und sozialer Absicherung versehen ist. Das
Recht auf Teilzeitarbeit muss uneingeschränkt und ohne die Einschrän-
kung des Vorbehalts „betrieblicher Gründe“ gelten.

g) Familienförderung auf sichere finanzielle Füße stellen – Die Solidarische
Familienkasse (SFK)

Die öffentliche Förderung von Leistungen für Kinder, Jugendliche und
Familien ist auf eine neue finanzielle und organisatorische Basis zu stel-
len. Deshalb ist mittelfristig der Einstieg in eine Solidarische Familien-
kasse einzuleiten. Die SFK soll als Antwort auf die zentralen Anforderun-
gen an eine nachhaltige und moderne Finanzierung von Politik für Kinder,
Jugendliche und Familien konzipiert werden: Transparenz, Aufgaben-
orientierung, Solidarität, Ausbaufähigkeit und Akzeptanz in der Bevöl-
kerung.

h) Einkommensteuerrecht auf den Prüfstand

Steuerliche Tatbestände, die insbesondere Ehepaare und Eltern mit hohen
Einkommen entlasten, sind zu streichen und durch folgende Maßnahmen
zu ersetzen:

● Das Kindergeld ist sofort auf 250 Euro anzuheben. Eltern mit geringen
Einkommen ist durch eine Zulage das Kindergeld so weit zu erhöhen,
dass es das Existenzminimum von Kindern bereits aktuell abdeckt.
Mittelfristig ist eine bedarfsorientierte und individuelle Grundsiche-
rung für Kinder einzuführen.

Drucksache 16/5783 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● Das Ehegatten- und Realsplitting ist in eine Freibetragsregelung zur
steuerlichen Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen umzuwan-
deln. Ist das Einkommen der Unterhaltsempfänger niedriger als das
steuerfreie Existenzminimum, kann die jeweilige Differenz vom Ein-
kommen der Unterhaltsleistenden abgezogen werden. Um steuerliche
Mehrbelastungen von Ehepaaren mit geringen Einkommen zu vermei-
den, sind geeignete Übergangsregelungen anzuwenden.

● Die derzeitige Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten ignoriert
die Lebens- und Berufswirklichkeit zahlreicher Familien und belastet
Steuerpflichtige mit geringen Einkommen überproportional. Deshalb
soll sich für die Kosten der Kinderbetreuung die Steuer bis zu einem
Höchstbetrag von 2 100 Euro für alle Eltern um die Hälfte ermäßigen.
Dadurch wird allen Familien – unabhängig von der Höhe ihres Ein-
kommens – die Hälfte ihrer Kinderbetreuungskosten erstattet. Mit dem
Bestehen einer beitragsfreien und umfassenden Betreuungsinfrastruk-
tur wird diese Regelung überflüssig.

i) Zusammenfassung der Familiengesetzgebung

Zivilrechtliche und sozialrechtliche Regelungen für Familien (mit Aus-
nahme der Kinder- und Jugendhilfe) werden künftig in einem Familien-
gesetzbuch neu zusammengefasst. Bei dieser Gelegenheit werden Ehe und
eingetragene Lebenspartnerschaft endlich rechtlich umfassend gleich-
gestellt.

Berlin, den 19. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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