BT-Drucksache 16/5518

Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Vom 29. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5518
16. Wahlperiode 29. 05. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln),
Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland, Monika Lazar, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto

Am 18. Juni 1997 hatte das Bundessozialgericht (Az.: 5 RJ 66/95 = BSGE
80.250) entschieden, dass eine in einem Betrieb innerhalb des Ghettos Lodz aus
eigenem Willen aufgenommene Tätigkeit die Voraussetzung einer sog. freien
Beschäftigung erfüllen kann und damit Beschäftigungszeiten in einem Ghetto
grundsätzlich bei der Rente berücksichtigt werden können. Bis dahin wurde
davon ausgegangen, dass Arbeit in Ghettos, die von der deutschen Besatzung
oder auf ihre Veranlassung eingerichtet wurden, als erzwungene Arbeit auf
Grundlage eines Gewaltverhältnisses geleistet wurde und Rentenzahlungen
deshalb nicht in Betracht kommen.

Diese Entscheidung hat den Bundesgesetzgeber 2002 veranlasst, eine entspre-
chende gesetzliche Regelung zu erlassen. Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto – ZRBG – (Bundestagsdruck-
sache 14/8583) wurde zugunsten von Verfolgten im Bereich der gesetzlichen
Rentenversicherung Neuland betreten. Im Bundestag haben sich alle Fraktionen
für das Gesetz ausgesprochen und betont, dass damit eine weitere Lücke im Ent-
schädigungsrecht geschlossen würde.

Nach Bekanntmachung des ZRBG wurden bisher ca. 70 000 Anträge gestellt,
die aber zu einem sehr großen Teil entgegen der Intention des Bundesgesetz-
gebers abgelehnt wurden. Von den zuständigen Landesversicherungsanstalten
und Sozialgerichten wurden und werden im Wesentlichen folgende Ableh-
nungsgründe angeführt:

– kein Aufenthalt in einem Ghetto, welches in einem Gebiet errichtet wurde,
das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war,

– kein erzwungener Aufenthalt in einem Ghetto,

– keine Arbeitsaufnahme aus eigenem Willensentschluss, sondern erzwungene
Tätigkeit,

– keine Tätigkeit gegen Entgelt,

– kein rentenversicherungspflichtiges Mindestalter zum Zeitpunkt der Tätig-

keit.

Mit seinem Urteil vom 14. Dezember 2006 (Az.: B 4 R 29/06 R) hat das Bun-
dessozialgericht zu grundlegenden Fragen des ZRBG und der Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto erneut Stellung genommen.

Dies alles macht deutlich, dass das Ghettorentengesetz nicht zu den beabsich-
tigten Ergebnissen geführt hat. Die Organisationen, die Verfolgte der national-

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sozialistischen Gewaltherrschaft vertreten sowie die israelische Regierung
haben dies wiederholt beklagt. Nach einem Bericht des „SPIEGEL“ vom Feb-
ruar 2007 hat Bundeskanzlerin Merkel vor diesem Hintergrund dem israelischen
Regierungschef Olmert eine rasche und unbürokratische Neuentscheidung über
die Ansprüche der Ghettoarbeiterinnen und -arbeiter zugesagt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. a) Trifft es zu, dass die Bundesregierung derzeit einen Gesetzesentwurf zur
Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von ZRBG vorbereitet?

b) Wenn ja, welche konkreten Änderungen plant die Bundesregierung?

2. a) Plant die Bundesregierung eine Änderung des ZRBG dergestalt, dass alle
ehemaligen Ghetto-Opfer nach dem ZRBG anspruchsberechtigt werden,
unabhängig davon, wo sie zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung heute leben?

b) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, wonach derzeit ein Anspruch mangels anders lautender Rege-
lung auf Anspruchsteller beschränkt ist, die in der Bundesrepublik
Deutschland oder im sog. Vertragsausland leben?

c) Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass eine solche Begren-
zung der möglichen Antragsteller im Gesetzgebungsverfahren zum ZRBG
von niemandem im Bundestag und Bundesrat gewollt war und dass ganz
im Gegenteil der Bundestag davon ausging, dass alle ehemaligen Ghetto-
Opfer anspruchsberechtigt sein sollten?

3. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass unter Gebieten, die vom Deutschen Reich besetzt waren,
alle Territorien zu verstehen sind, in denen die deutsche Besatzungsmacht
ausgeübt wurde, die Verfolgungsmaschinerie des NS-Staates funktionierte
und der NS-Staat den Verfolgungszugriff hatte, unabhängig davon, von
wem dieses Gebiet im Rechtssinne besetzt oder welcher Staatsmacht es
völkerrechtlich zugeordnet war?

b) Wenn ja, was will die Bundesregierung unternehmen, um in Zukunft Ab-
lehnungen von Ansprüchen nach dem ZRBG wegen angeblich fehlender
Gebietszugehörigkeit der fraglichen Ghettos zu vermeiden?

4. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass ein Zwangsaufenthalt in einem Ghetto im Sinne von § 1
Abs. 1 ZRBG nur vorlag, wenn dies eine besonders intensive Beeinträch-
tigung der Freiheit bedeutete, wenn also die Aufenthaltsbeschränkung von
der NS-Gewalt unter Androhung schwerster Strafen bis hin zur Todes-
strafe erzwungen wurde?

b) Wenn ja, stimmt die Bundesregierung mit der Auffassung überein, dass
ein solcher erforderlicher Zwang zur Aufenthaltsbeschränkung in allen
Ghettos vorlag, die in Gebieten errichtet wurden, die vom Deutschen
Reich besetzt oder diesem eingegliedert wurden?

5. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass bei der Frage, ob eine Arbeitsaufnahme aus eigenem Wil-
lensentschluss erfolgte, die Abgrenzung so zu ziehen ist, dass Zwangs-
arbeit erst vorlag, wenn die Aufnahme und Ausführung der Arbeit mit
absoluter Gewalt (vis absoluta) oder der Drohung mit ihr, also unter
unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben erzwungen wurde?

b) Teilt die Bundesregierung weiter die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass der Zwang, in einem Ghetto gelebt haben zu müssen, keine

Rückschlüsse auf die Frage zulässt, ob die Arbeitsaufnahme im Ghetto aus
eigenem Willensentschluss erfolgte?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5518

c) Wenn ja, was will die Bundesregierung unternehmen, um in Zukunft
Ablehnungen von Ansprüchen nach dem ZRBG wegen angeblich vorlie-
gender Zwangsarbeit im Ghetto zu vermeiden?

6. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozialge-
richts, wonach das ZRBG kein bestimmtes – versicherungsrechtliches –
Mindestalter voraussetzt und dass auch Kinder, die im Ghetto für ihr
bloßes Überleben arbeiteten, anspruchsberechtigt sind?

b) Wenn ja, was will die Bundesregierung unternehmen, um in Zukunft
Ablehnungen von Ansprüchen nach dem ZRBG wegen angeblich feh-
lendem Mindestalter zu vermeiden?

c) Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre Überzeugung, dass
nur Menschen, die während ihrer Beschäftigungszeit im Ghetto im ren-
tenversicherungspflichtigen Alter waren, nach dem ZRBG anspruchs-
berechtigt sein sollen?

7. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die jährlichen finanziellen Aus-
wirkungen, wenn sowohl für die bereits fälschlich abgelehnten Anträge als
auch in Zukunft die Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts im Sinne
der Punkte 2 bis 6 durchgesetzt wird und etwaig dazu notwendige Gesetzes-
änderungen vorgenommen werden?

8. a) Trifft es weiter zu, dass im Rahmen der ZRBG-Novellierung erwogen
wird, die Zuständigkeit für den Vollzug des ZRBG von den zuständigen
Rentenversicherungsträgern auf einen speziellen und neu einzurichten-
den Fonds zu übertragen?

b) Wenn ja, wer soll diesen Fonds verwalten und wie soll sichergestellt wer-
den, dass es nicht zu weiteren Verzögerungen bei der Auszahlung zu
Lasten der Antragsteller kommt?

9. a) Beabsichtigt die Bundesregierung, Antragsteller für Leistungen nach
dem ZRBG von Leistungen auszuschließen, wenn diese vor oder nach
Antragstellung Leistungen aus der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung,
Zukunft“ (EVZ) beantragt haben, bzw. sollen bereits erhaltene Leistun-
gen aus dem EVZ auf die Leistungen nach dem ZRBG (oder einem
neuen Fonds) angerechnet werden?

b) Wenn ja, ist es zutreffend, dass mit einer solchen Anrechnung von Leis-
tungen aus der EVZ die meisten betroffenen Personen keinen Anspruch
mehr auf Leistungen nach dem ZRBG (oder einem neuen Fonds) hätten?

c) Wenn ja, worin sieht die Bundesregierung den Zusammenhang zwischen
Leistungen nach dem EVZ und dem ZRBG, wenn bisher daran festgehal-
ten wurde, dass erzwungene Arbeit einen Anspruch nach dem ZRBG
ausschließt?

d) Wenn ja, trifft es zu, dass das Bundesfinanzministerium eine Deckelung
des Fonds in Höhe von 10 Mio. Euro erwägt, während die Jewish Claims
Conference von einem Bedarf in Höhe von 80 bis 100 Mio. Euro ausgeht
und wie steht die Bundesregierung dazu?

10. a) Mit welchen Ländern hat die Bundesregierung bilaterale Sozialversiche-
rungsabkommen, die bereits entsprechende Leistungen für diesen Scha-
denstatbestand (Arbeiten in einem Ghetto) vorsehen?

b) Wie sehen gegebenenfalls die jeweiligen Vereinbarungen konkret aus?

c) Welche tatsächlichen zusätzlichen Leistungen erhalten die Betroffenen
für ihre Beschäftigung im Ghetto?
d) In welchen Fällen will die Bundesregierung diese Leistungen anrechnen
und in welchen nicht?

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11. Wann haben Gespräche mit der Jewish Claims Conference und der Regie-
rung des Staates Israel über eine Neuregelung des ZRBG stattgefunden und
zu welchen Ergebnissen oder Zwischenergebnissen haben sie geführt?

12. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass es eine fortbestehende Ungleichbehandlung der Ghetto-
Opfer untereinander und gegenüber anderen Verfolgten der national-
sozialistischen Gewaltherrschaft gibt?

b) Wenn ja, worin konkret sieht die Bundesregierung diese Ungleich-
behandlung?

c) Wenn ja, erachtet die Bundesregierung diese Ungleichbehandlung als
verfassungsrechtlich bedenklich?

d) Wenn ja, was will die Bundesregierung unternehmen, um eine verfas-
sungsgemäße Rechtslage herzustellen?

13. a) Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung des Bundessozial-
gerichts, dass die Finanzierung der Entschädigung von NS-Verfolgungs-
schäden durch das ZRBG aus Mitteln nur der beitragsbelasteten Ver-
sicherten und der Arbeitgeber verfassungsrechtlich bedenklich ist?

b) Wenn ja, was will die Bundesregierung unternehmen, um eine ver-
fassungsgemäße Rechtslage herzustellen?

Berlin, den 29. Mai 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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