BT-Drucksache 16/5425

Die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union weiter entwickeln

Vom 23. Mai 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5425
16. Wahlperiode 23. 05. 2007

Antrag
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Claudia Roth
(Augsburg) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union weiter
entwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Erweiterung und Vertiefung sind die zwei Seiten der europäischen Medaille.
Die Erweiterung ist eines der erfolgreichsten friedenspolitischen Instrumente
der Europäischen Union. Sie hat wesentlich zur Transformation der Staaten in
Süd-, Mittel- und Osteuropa in stabile Demokratien und funktionierende Markt-
wirtschaften beigetragen. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird ein
Raum des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte vergrößert. Mit
dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien in diesem Jahr wurde die fünfte
Erweiterungsrunde der EU um insgesamt zwölf mittel- und südosteuropäische
Staaten erfolgreich vollendet. Sie war ein wichtiger und notwendiger Schritt zur
Überwindung der historischen Teilung Europas.

Erweiterung ist nicht nur eine Verpflichtung gegenüber der Geschichte, sondern
entspricht den vitalen politischen und ökonomischen Interessen der Euro-
päischen Union.

Denn zum einen hat die Aussicht auf Mitgliedschaft in vielen Ländern gesell-
schaftliche Veränderungen angestoßen, den inneren Demokratisierungsprozess
vorangetrieben und den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit
gestärkt. Die erfolgreiche Entwicklung der EU strahlt auch auf ihre ost- und süd-
osteuropäischen Nachbarn aus und fördert so Frieden und Sicherheit in ganz
Europa. Der Export von Stabilität in die südöstlichen Räume Europas und die
Lösung regionaler Konflikte in Europa stellen ein originäres europäisches
Sicherheitsinteresse dar. Die Überwindung der Teilung Europas und des aggres-
siven Nationalismus nach dem Ende der Blockkonfrontation sind Aufgaben, für
deren Lösung die EU ein entscheidendes Instrument war und ist. Denn Bestand-
teil ihrer Attraktivität ist nicht zuletzt der Erfolg friedlicher zwischenstaatlicher
Kooperation. Die Aufgabe von Teilen nationalstaatlicher Souveränität – Voraus-
setzung für die Mitgliedschaft in der EU – ist ein mühsamer Prozess, gerade für
Länder, die erst mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Souveränität wiederer-
langt haben. Dennoch haben die neuen Mitgliedstaaten diese Bedingung erfüllt,
und weitere sind auf dem Weg, dies zu tun. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde,
dass Interessengegensätze nur miteinander und unter demokratischen und
rechtsstaatlichen Bedingungen behandelt und aufgelöst werden können. Gerade
nach der leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa ist die Bedeutung
dieses stetig wachsenden Bewusstseins kaum zu überschätzen. Die so entstan-

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dene europäische Wertegemeinschaft auszudehnen und zu stärken erfordert des-
halb auch zukünftig die Bereitschaft zur Erweiterung der EU.

Zum anderen haben die ökonomischen Entwicklungen in den neuen Mitglied-
staaten zu mehr Wachstum und Beschäftigung für die gesamte EU geführt. Die
Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung „Erweiterung: Zwei Jahre da-
nach – ein wirtschaftlicher Erfolg“ vom 3. Mai 2006 den enormen Nutzen der
Erweiterung für die EU benannt: Mehr Wachstum und Stabilität, mehr Handel
und Direktinvestitionen, Rechtssicherheit durch einen einheitlichen Rechtsrah-
men im Binnenmarkt und vieles mehr.

Gerade Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU gehört zu den Gewinnern
der Erweiterung: Mit 10,4 Prozent Exportzuwachs erreichte Deutschland allein
im Erweiterungsjahr 2004 einen neuen Rekordwert im Vergleich zu den niedri-
gen Exportsteigerungen in den Jahren zuvor, wie lediglich 2 Prozent im Jahr
2003. Das steigende Einkommensniveau in den neuen Mitgliedstaaten steigert
zugleich die dortige Kaufkraft und damit den Absatz deutscher Produkte. Dies
fördert den Wohlstand in ganz Europa.

Deutschland hat – aus Sorge vor dem Zustrom von Billiglohnarbeiterinnen und
-arbeitern – die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Bürgerinnen und Bürger der
acht mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten pauschal beschränkt. Die
Erfahrung der letzten Jahre zeigt jedoch deutlich: Die Probleme des deutschen
Arbeitsmarktes wurden dadurch weder behoben noch gemildert, Schwarzarbeit
und Scheinselbständigkeit werden vielmehr befördert und verursachen immense
Ausfälle bei Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Verbindliche Mindest-
arbeitsbedingungen und Mindestlohnregelungen wären ein wirksamerer Schutz
des deutschen wie des europäischen Sozialmodells, als die ohnehin spätestens
2011 auslaufende Abschottung des Arbeitsmarktes. Nationale Maßnahmen zur
Abschottung sind innenpolitische Reflexe, die als Reaktionen auf eigene
Integrationsversäumnisse entstehen.

Im Rahmen der globalen Veränderungen finden auch Arbeitsmarktbewegungen
statt. Diese können auf Ebene der Europäischen Union besser gestaltet werden
als von den einzelnen Nationalstaaten. Deshalb ist die Weiterentwicklung der
Europäischen Union zur gestaltenden Akteurin im Globalisierungsprozess, die
für ein europäisches Gesellschaftsmodell steht, das auf sozialer, ökologischer
und wirtschaftlicher Solidarität sowie Verantwortung basiert, zur Wahrung un-
serer Interessen unbedingt notwendig.

Es ist ein grundlegendes Interesse der Europäischen Union, die Zukunft und die
internationale Ordnung des 21. Jahrhunderts aktiv mitzugestalten. Das ist aber
nur bei einer grundsätzlichen Bereitschaft zur Öffnung nach Außen möglich:
Die Erweiterungen der Europäischen Union spielen dabei für die politischen,
insbesondere die sicherheitspolitischen, und wirtschaftlichen Interessen der
Europäischen Union eine zentrale Rolle. Die Instrumente zu deren weiteren Re-
alisierung müssen dementsprechend den historischen Erfahrungen angepasst
und weiter differenziert werden.

In der gegenwärtigen Phase der Neuorientierung der EU, in der Debatte um die
angenommene Notwendigkeit der Gleichzeitigkeit von Vertiefung und Erweite-
rung, der so genannten Aufnahmefähigkeit der EU, darf die EU europäischen
Ländern die Tür nicht verschließen und somit die Zugehörigkeit zu einer Euro-
päischen Union verwehren.

Der Deutsche Bundestag ist besorgt über die Umdeutung, die der Begriff der
Aufnahmefähigkeit in den letzten Monaten erfahren hat. Der Deutsche Bundes-
tag wendet sich gegen eine Umdeutung in Richtung einer „Das-Boot-ist-voll“-
Mentalität, die den Erweiterungsprozess nicht als originäres Interesse der Euro-
päischen Union und ihrer einzelnen Mitgliedstaaten darstellt, sondern als karita-
tives Mittel in prosperierenden Zeiten.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5425

Darüber hinaus ist die „Erweiterungsmüdigkeit“ unter den Mitgliedern der EU
ungleich verteilt. Ungefähr die Hälfte der Altmitglieder steht weiteren Erweite-
rungen kritischer gegenüber als die Mehrheit der neuen Mitgliedstaaten. Diesem
differenzierten Meinungsbild, mit einer eindeutigen Mehrheit für die Integration
weiterer europäischer Staaten, muss die EU-Erweiterungsstrategie Rechnung
tragen.

Die Europäische Union ist ein offenes und funktionelles Projekt, das auf der Idee
des friedlichen „Europa ohne Grenzen“ basiert. Der Deutsche Bundestag be-
grüßt, dass die Europäische Kommission in ihrem Strategiepapier zur Erweite-
rung vom 9. November 2006 abgelehnt hat, Europa geografisch festzulegen und
damit endgültige Grenzen der Europäischen Union zu definieren: „Der Begriff
„europäisch“ setzt sich aus geografischen, historischen und kulturellen Elemen-
ten zusammen, die alle zur europäischen Identität beitragen. Die gemeinsame
Erfahrung von Ideen, Werten und historischen Wechselwirkungen lässt sich
nicht zu einer einfachen, zeitlosen Formel verdichten, sondern unterliegt der
Neuauslegung durch jede nachfolgende Generation.“

Diese Offenheit muss auch beibehalten werden, um sich die Möglichkeit und
Notwendigkeit des eigenen Fortschritts zu erhalten. Die Grenze der Euro-
päischen Union kann nur an der Grenze ihrer Möglichkeiten liegen, das auf ge-
meinsamen Werten beruhende Erfolgsprojekt als politisches und ökonomisches
Gemeinwesen zu erhalten und weiterzuentwickeln. Nur daran müssen sich zu-
künftige Erweiterungen messen lassen.

Die EU-Erweiterungspolitik reformieren

Der Deutsche Bundestag befürwortet die von der Europäischen Kommission auf
„Konsolidierung, Konditionalität und Kommunikation“ gestützte Erweiterungs-
strategie als Grundlage für einen erneuerten Konsens über die EU-Erweiterung.
Der Deutsche Bundestag hält fest, dass aus den Komplikationen und Erkenntnis-
sen der letzten Erweiterungsrunden der EU gelernt werden muss und die Instru-
mente der EU den bisherigen Erfahrungen folgendermaßen angepasst und diffe-
renziert werden müssen:

1. Statt Beitrittstermine im Vorfeld festzulegen, muss ausschließlich die Erfül-
lung der Kopenhagener Kriterien sowie die vollständige Übernahme und An-
wendung des gesamten rechtlichen Besitzstandes der EU den Beitrittszeit-
punkt bestimmen.

2. Für die Integration weiterer europäischer Länder in die Europäische Union ist
ein differenzierterer und schrittweiser Prozess erforderlich. Der Deutsche
Bundestag schlägt eine sukzessive Integration in Bereichen vor, in denen eine
Übernahme der europäischen Standards bereits erfolgt ist. Das bedeutet für
die Beitrittskandidaten, dass die Möglichkeit besteht, sowohl Teilsouveräni-
täten zu erhalten als auch Teilpflichten und Teilrechte zu übernehmen, um
Entweder-oder-Fragen zu vermeiden. Darunter fällt unter anderem ein ver-
stärkter Zugang zum EU-Binnenmarkt durch Abschluss bilateraler Abkom-
men und Schaffung von Freihandelszonen, einzelne Sektorabkommen, bei-
spielsweise in Bereichen wie Energie, Umwelt, Inneres und Justiz, sowie eine
Beteiligung an Gemeinschaftsprogrammen und -agenturen.

3. Der Erfolg der europäischen Integration und somit der Europäischen Union
liegt in der Fähigkeit ihrer Mitglieder miteinander zu kooperieren. Die Fähig-
keit, effektiv und friedlich mit ihren Nachbarn zusammenzuarbeiten und re-
gionale Kooperationen und Interessengemeinschaften zu entwickeln, ist in-
sofern Voraussetzung für jedwede Annäherung an die EU. Die EU-Politik
muss ein deutliches Zeichen setzen, dass kooperative Ansätze auf Dauer
profitabler sind als eine nach ebenso kurzfristigen wie ungewissen Vorteilen
strebende Wettbewerbspolitik, die potentielle Synergien verschenkt. Der
Deutsche Bundestag tritt dafür ein, dass für regionale Räume jeweils ein kon-
zertierter Ansatz verfolgt wird. Die Europäische Union braucht für den Bei-

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trittsprozess ein neues Instrumentarium, das sich von der bisherigen Beitritts-
politik durch eine stärkere regionale Komponente bei gleichzeitiger Flexibi-
lität bei der individuellen Eingliederung in bestehende EU-Strukturen aus-
zeichnet.

Eine bleibende Herausforderung im Zusammenhang mit der fünften Erweite-
rung der Europäischen Union besteht darin, eine umfassende Lösung für die
Zypernfrage und die Wiedervereinigung der Insel zu erlangen. Der Deutsche
Bundestag begrüßt die jüngsten Schritte zur Annäherung der griechisch-zyprio-
tischen und der türkisch-zypriotischen Gemeinschaften, um die Suche nach
einer umfassenden Lösung unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen wie-
der aufzunehmen. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Intensivierung der
Bemühungen.

Am 3. Oktober 2005 hat die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit
Kroatien und der Türkei aufgenommen. Voraussetzung für den Beginn der Ver-
handlungen waren bedeutende innenpolitische Veränderungen in beiden Staa-
ten: im Falle Kroatiens die volle Kooperation mit dem Internationalen Kriegs-
verbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien sowie Reformen in Schlüssel-
bereichen wie Justizreform, Reform der öffentlichen Verwaltung, Korrup-
tionsbekämpfung und Wirtschaftsreformen; im Falle der Türkei beispielsweise
die spürbare Verbesserung der Menschenrechtslage, unter anderem Gewährung
von Meinungs- und Religionsfreiheit, die Beschränkung der politischen Macht
des Militärs und die Einhaltung und Umsetzung des Abkommens von Ankara
vom September 2005. In beiden Staaten sind beeindruckende Reformprozesse
in Gang gekommen, die ohne die Perspektive der EU-Beitrittsverhandlungen
kaum möglich gewesen wären. Jedoch kam es in jüngster Zeit erneut zu be-
dauerlichen Rückschlägen. Der Deutsche Bundestag setzt dennoch darauf, dass
beide Staaten im Laufe des Beitrittsprozesses den nun beschrittenen Reformweg
konsequent vorantreiben.

Der Deutsche Bundestag würdigt die bestehenden Hilfeleistungen der EU im
Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP) für die west-
lichen Balkanländer Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien,
für die Dauer der Gültigkeit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats, ein-
schließlich des Kosovo. Der Europäische Rat in Thessaloniki vom Juni 2003 hat
erklärt, dass mit Abschluss des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens
(SAA) den Ländern offiziell der Beitrittskandidatenstatus verliehen wird. Ob-
wohl die Möglichkeit der Aushandlung eines Stabilisierungs- und Assoziie-
rungsabkommens derzeit für das Kosovo nicht möglich ist, hat sich die EU-
Kommission 2005 in ihrer Mitteilung über „Eine europäische Zukunft des
Kosovo“ bereit erklärt, „kreative Wege zu finden, um sicherzustellen, dass das
Kosovo von allen Instrumenten der EU in vollem Umfang profitiert und zu ge-
gebener Zeit angemessene vertragliche Beziehungen zur EU aufnehmen kann“.
Im März 2006 hat die EU in Salzburg erneut bekräftigt, dass die Zukunft der
westlichen Balkanländer in der Europäischen Union liegt und die Länder aufge-
rufen, mehr Eigenverantwortung für die regionale Kooperation zu übernehmen.
Dies bedeutet allerdings für Serbien und Bosnien-Herzegowina, die Vorausset-
zungen für ein SAA erst noch erfüllen zu müssen. Dazu gehört unter anderem
die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Gerichtshof zu
Jugoslawien in Den Haag und im Fall Bosnien-Herzegowina eine umfassende
Verfassungsreform, die demokratische und transparente Strukturen garantiert.

Die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien ist in ihrer Annäherung an
die EU bereits am weitesten fortgeschritten. Im Dezember 2005 hat der Euro-
päische Rat Mazedonien zum EU-Beitrittskandidaten erklärt. Die Beitrittsver-
handlungen wurden bisher noch nicht aufgenommen. Die mazedonische Regie-
rung steht immer noch vor großen Aufgaben, wie beispielsweise der Durchfüh-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5425

rung der Reform des Polizei- und des Justizwesens und der Korruptionsbekämp-
fung.

Der Deutsche Bundestag bedauert die Reduzierung des deutschen Beitrags zum
Stabilitätspakt für Südosteuropa bzw. seine Nachfolgeeinrichtung, wie sie im
Haushaltsplan der Bundesregierung vorgesehen ist. Die Reduzierung der Mittel
ist ein falsches politisches Signal und wirkt kontraproduktiv für die Erfolgs-
aussichten der langjährigen Bemühungen um Stabilisierung in der gesamten
Region.

Die EU-Nachbarschaftspolitik weiterentwickeln

Eine effektive Umwelt-, Energie-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik muss
auch auf enge Kooperation über die EU-Grenzen hinaus setzen. Die Europäische
Union hat mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) Interessensräume
und Einflusssphären strategisch definiert, die sie nicht nur von Brüssel, sondern
auch von den europäischen Hauptstädten aus mit ihren Programmen ausstattet.
Ziel des 16 Länder umfassenden Konzepts zur Stabilisierung und Modernisie-
rung der östlichen und südlichen Nachbarschaft ist die Verringerung der Armut,
die Schaffung eines Raums gemeinsamen Wohlstands und gemeinsamer Werte,
eine stärkere wirtschaftliche Integration sowie verstärkte politische und kultu-
relle Beziehungen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik soll allen Nachbarn
der EU, die keine unmittelbare Beitrittsperspektive haben, die Möglichkeit ein-
räumen, im Rahmen von gemeinsam vereinbarten Aktionsplänen an unter-
schiedlichen Aktivitäten und Programmen der EU teilzunehmen.

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass eine Umstrukturierung des
bisherigen Rahmens des ganzheitlichen Ansatzes der ENP geboten ist. Eine not-
wendige Weiterentwicklung ist die Differenzierung zwischen der Nachbar-
schaftspolitik für die europäischen Staaten, die eine grundsätzliche Beitrittsper-
spektive haben, und einer Nachbarschaftspolitik für die südlichen und östlichen
Mittelmeeranrainer. Für beide Räume müssen die Instrumente stärker auf die je-
weiligen unterschiedlichen Bedürfnisse, Interessen und Ziele zugespitzt werden.
Denn die europäischen Staaten wie Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Geor-
gien, Moldova und die Ukraine haben eine Perspektive für die Europäische
Union, da sie gemäß Artikel 49 EUV über das Recht auf Antragstellung zur Mit-
gliedschaft verfügen. Auch wenn realistische Beitritte langfristige Projekte dar-
stellen, muss heute die Motivation auf lange Sicht gestärkt werden, die die Län-
der in den schwierigen Transformationen ihrer politischen und wirtschaftlichen
Strukturen brauchen. Die starke Anziehungskraft der EU weist als langfristige
Perspektive die Reformen in die richtige Richtung.

Hinsichtlich der südlichen Dimension der ENP besteht bereits ein regionaler
Ansatz mit der Euro-Mediterranen-Partnerschaft und dem Barcelona Prozess,
der unter anderem auch das Ziel einer gemeinsamen Freihandelszone beinhaltet.
Jedoch haben bisher leider nur wenige Regierungen in den Ländern des Mittel-
meerraums ein eindeutiges Interesse an demokratischen Reformen gezeigt. Dar-
auf muss die EU-Nachbarschaftspolitik reagieren. Die Aktionspläne müssen
stärker darauf eingestellt werden, Fortschritte bei der Garantie der Menschen-
rechte, der Stärkung des Rechtsstaats und der Demokratisierung der Gesell-
schaft zur Voraussetzung für weitere Unterstützung zu machen. Wirtschaftliche
Dynamik erzeugt keinen Automatismus für politische Reformen. Gleichzeitig
ist eine Überprüfung der inhaltlichen Prioritätensetzungen des Mitteleinsatzes
über die Kooperation gegen illegale Migration hinaus notwendig. Der Deutsche
Bundestag setzt darauf, dass der bisher enttäuschend verlaufende Barcelona Pro-
zess mit neuem Leben gefüllt wird.

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Für eine kohärente und differenzierte Politik gegenüber unseren östlichen
Nachbarn

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass die regionalen Kooperations-
strukturen in der Schwarzmeerregion gefördert werden müssen. In Anbetracht
der wachsenden strategischen Bedeutung und dem bisherigen Fehlen einer
kohärenten EU-Strategie muss der Blick stärker auf die Schwarzmeerregion
gerichtet werden. Dieser Raum erlangt im breiteren Sinne seine geopolitische
Bedeutung nicht nur aus der Verbindung von EU-Mitgliedern, potentiellen EU-
Beitrittskandidaten, ENP-Ländern, Russland und im weiteren Sinne Zentral-
asien. Gerade für die Energiepolitik und -sicherheit der EU hat die Schwarz-
meerregion eine tragende Bedeutung, denn sie verbindet damit Energieerzeuger,
Transitländer, durch die wichtige Öl- und Gaspipelines gehen, sowie Empfän-
gerländer und Endverbraucher.

Im Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sind der Fortschritt der
EU-Nachbarschaftspolitik, die Entwicklung einer EU-Zentralasienstrategie so-
wie die Ausarbeitung einer strategischen Partnerschaft zwischen der EU und
Russland vorgesehen. Diese drei bisher voneinander unabhängig verfolgten
Strategien sowie die Erweiterungspolitik der EU müssen aufeinander abge-
stimmt werden. Die Schwarzmeerregion muss als verbindendes Element zum
Motor eines Gesamtkonzepts entwickelt werden. Die auf den ersten Blick hete-
rogenen Räume vereinen auf den zweiten Blick gemeinsame wie auch unter-
schiedliche wirtschaftspolitische, energiepolitische sowie sicherheitspolitische
Interessen. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Nutzung der Potentiale einer
Schwarzmeerkooperation und einer EU-Politik, die darauf ausgerichtet ist, die
Länder auf ihrem Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt die Initiative der EU-Ratspräsidentschaft zur
EU-Zentralasienstrategie zur Förderung von Sicherheit und Stabilität in der Re-
gion. Ein partnerschaftlicher Ansatz zur Zusammenarbeit mit der Region und
ein dem zugrunde liegendes kohärentes Konzept sollten dabei sowohl die
Chancen und Probleme der Region Zentralasien ansprechen als auch länderspe-
zifische Ansätze beinhalten. Regionale Kooperation muss auch hier von Seiten
der EU gefördert werden, denn die zentralen Herausforderungen in Bereichen
wie Wasserverteilung, Drogenbekämpfung, Umweltschutz, Gesundheitswesen
und Transport lassen sich nur regional und nicht nationalstaatlich lösen.

Die wesentlichsten Entwicklungshemmnisse für die Wirtschaft und für auslän-
dische Investitionen in Zentralasien sind die politische Instabilität, die man-
gelnde Rechtsstaatlichkeit und die insgesamt besorgniserregende Menschen-
rechtslage. Diesen Themen muss daher eine zentrale Rolle im Rahmen der EU-
Zentralasienstrategie eingeräumt werden. Dabei sollte die EU für die Bereiche
der Rechtsstaatsförderung und der Menschenrechtspolitik konkrete Ziele, Krite-
rien und klare Zeiträume festlegen und ihre Menschenrechtspolitik auf die Be-
sonderheit jedes der Länder zuschneiden. Eine transparente Programmplanung
mit klarer Mittelzuweisung sollte elementarer Bestandteil der neuen Zentral-
asienstrategie sein. In diesem Zusammenhang ist die jüngste Lockerung der
Sanktionen gegenüber Usbekistan ein Fehler. Usbekistan hat bis zum heutigen
Tage keine der von der EU erhobenen Forderungen voll erfüllt (u. a. freier Zu-
gang des IKRK zu den Gefängnissen, unabhängige Untersuchungen der Vorfälle
von Andischan etc.).

Neben einer Ausrichtung auf die EU pflegen alle fünf zentralasiatischen Staaten
enge bilaterale Handelsbeziehungen zu Russland. Zudem wächst die Bedeutung
anderer Partner wie China, die USA, Japan und Iran. In der Region nimmt die
Erkenntnis der Bedeutung von regionaler Kooperation zu; von besonderem Ge-
wicht sind hier die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft und die Shanghai
Cooperation Organization (SCO), in der neben den zentralasiatischen Staaten
auch Russland und China vertreten sind. Die EU darf bei diesen Prozessen nicht

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/5425

abseits stehen, sondern muss neue Wege ausloten, um sich aktiv in die Koope-
rationen einzubringen. Im Interesse der EU müssen neue Instrumente zur Zu-
sammenarbeit entwickelt werden, die über die bisherigen Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen (PKA) hinausgehen. Dabei ist zu prüfen, inwieweit die
Länder Zentralasiens in die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union inte-
griert werden sollten, um damit unter anderem die östliche Dimension der euro-
päischen Nachbarschaft zu verkörpern.

Die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der Euro-
päischen Union hat besondere strategische Bedeutung. Russland spielt als größ-
ter Nachbar und Energielieferant für die EU eine herausragende Rolle. Deshalb
kommt es aus EU-Sicht darauf an, im 2007 auszuhandelnden Folgeabkommen
zum 1997 in Kraft getretenen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
(PKA) die Entwicklung zu der von ihr angestrebten „strategischen Partner-
schaft“ konkret zu definieren und auszugestalten. Damit muss die 2003 erstellte
Wegekarte für die vier Gemeinsamen Räume (Europäischer Wirtschaftsraum;
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Raum der äußeren Sicherheit;
Raum der Forschung und Bildung einschl. kultureller Aspekte) umfassend er-
gänzt werden. Voraussetzung für eine strategische Partnerschaft sind gemein-
same politische Ziele und ein kompatibles Wertesystem.

Russland hat in den letzten Jahren einen starken wirtschaftlichen Aufschwung
erlebt, international neues Selbstbewusstsein erlangt, jedoch besorgniserregende
Entwicklungen seiner demokratischen Verfasstheit und Rechtsstaatlichkeit auf-
gewiesen. Die EU steht vor der Herausforderung gegenüber Russland eine ko-
härente Politik zu formulieren, die die unterschiedlichen Wahrnehmungen und
Interessen ihrer Mitgliedstaaten vereint und geradlinig ihre gemeinsamen euro-
päischen Interessen mit vollem Gewicht vertritt. Russland spielt insbesondere in
der Lösung verschiedener internationaler Konflikte in der Nachbarschaft der EU
eine essentielle Rolle. Dies gilt unter anderem für die Frage nach dem Status des
Kosovo und für die so genannten frozen conflicts in einigen GUS-Staaten, die
Bestandteil der EU-Nachbarschaftspolitik sind.

Der Deutsche Bundestag drängt in diesem Zusammenhang auf eine Strategie
gegenüber Russland, die nicht durch eine Politik der Einflusszonen bestimmt ist
und eine politische wie auch wirtschaftliche Konkurrenz in der Region der
europäischen Nachbarschaft darstellt, sondern eine effektive und integrative Zu-
sammenarbeit zur Lösung von Konflikten und gemeinsamen Problemen fördert
sowie die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschen-
rechte unterstützt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass der Integrationsprozess weiterer europäischer
Länder in die EU fortgesetzt wird und dabei ein differenzierter und abgestuf-
ter Prozess verfolgt wird, der eine schrittweise Integration in Bereiche er-
laubt, in denen eine Übernahme der europäischen Standards bereits erfolgt
ist, sowie darauf zu achten, dass Beitrittsverhandlungen enger an die Fort-
schritte der Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen geknüpft
sowie transparenter, z. B. durch Veröffentlichung von Folgeabschätzungen,
geführt werden;

2. darauf zu achten, dass bei der Heranführung von EU-Beitrittskandidaten die
Fähigkeit, effektiv und friedlich mit den Nachbarn zusammenzuarbeiten und
regionale Kooperationen und Interessengemeinschaften zu entwickeln, einen
wichtigen Baustein für die weitere Integration in die EU darstellt;

3. keine Beitrittsdaten im Vorfeld festzulegen, sondern Beitritte zur Euro-
päischen Union auf der Grundlage der Übernahme und Anwendung des
acquis communautaire erfolgen zu lassen;

Drucksache 16/5425 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
4. gegenüber der türkischen Regierung auf ein Festhalten am bisherigen Re-
formkurs zu drängen, die kroatische Regierung bei ihren Reformvorhaben
zu unterstützen und zur stärkeren Zusammenarbeit mit dem Haager Ge-
richtstribunal zu animieren, die mazedonische Regierung auf ihrem Weg
zum Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen zu unterstützen und die Staaten
des westlichen Balkans im Rahmen des Stabilitäts- und Assoziierungspro-
zesses an den Abschluss der SAAs heranzuführen und damit ihre EU-Per-
spektive zu unterstreichen;

5. sich für eine Differenzierung zwischen der Nachbarschaftspolitik für die
europäischen Staaten, die eine grundsätzliche EU-Beitrittsperspektive ha-
ben, und einer Nachbarschaftspolitik für die südlichen und östlichen Mittel-
meeranrainer einzusetzen;

6. sich dafür einzusetzen, dass die EU-Erweiterungsstrategie, die östliche
Dimension der EU-Nachbarschaftspolitik, die Weiterentwicklung der Be-
ziehungen zu Russland und die EU-Zentralasienstrategie kohärent aufeinan-
der abgestimmt werden und die regionalen Kooperationsstrukturen in der
Schwarzmeerregion einzusetzen;

7. neue Instrumente zur Heranführung der Länder Zentralasiens zu ent-
wickeln, die über die bisherigen Partnerschafts- und Kooperationsabkom-
men hinausgehen und die Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
mit konkreten Programmen verankern, sowie zu prüfen, inwieweit die Län-
der Zentralasiens in Abhängigkeit von den Entwicklungen bei Menschen-
rechten und Rechtsstaatlichkeit in die EU-Nachbarschaftspolitik integriert
werden können;

8. in ihrer Strategie gegenüber Russland auf einen kohärenten und euro-
päischen Ansatz zu achten, um internationalen Herausforderungen in Ko-
operation zu begegnen sowie bei den Verhandlungen über das neue Partner-
schafts- und Kooperationsabkommen demokratische Standards, Rechts-
staatlichkeit und Rechtssicherheit und die Garantie der Menschenrechte zu
einem wichtigen Bestandteil zu machen;

9. eine umfassende und langfristige Kommunikationsstrategie vorzulegen, mit
der die Bürgerinnen und Bürger über die EU im Allgemeinen und ihre Er-
weiterung im Besonderen informiert werden, den „Plan D“ der Euro-
päischen Kommission zur Verstärkung des öffentlichen Dialogs über die EU
tatkräftig zu unterstützen und weiterzuführen mit dem Ziel, sich mit den
Ängsten und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem euro-
päischen Integrationsprozess auseinanderzusetzen, um diesen mit einer an-
gemessenen und geeigneten Politik entgegnen zu können, und die Unter-
stützung der Öffentlichkeit für EU-Erweiterungen zu gewährleisten, um
damit die demokratische Legitimität zu sichern;

10. regionale und lokale Gebietskörperschaften sowie zivilgesellschaftliche
Einrichtungen darin zu unterstützen, über die Vorteile zu informieren, die
die Erweiterungspolitik für die Bürgerinnen und Bürger der erweiterten EU
mit sich gebracht haben und bringen werden, sowie einen stärkeren euro-
päischen Austausch und mehr direkte persönliche Kontakte in Bereichen
wie Bildung, Forschung und Kultur zu fördern.

Berlin, den 23. Mai 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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