BT-Drucksache 16/4854

US-Raketenabwehr und Europa - Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern

Vom 28. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4854
16. Wahlperiode 28. 03. 2007

Antrag
der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck, (Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

US-Raketenabwehr und Europa –
Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Staaten Europas waren über Jahrzehnte Stationierungsort und potentiel-
les Ziel weitreichender – z. T. mit Massenvernichtungswaffen bestückter –
Raketen. Vor 20 Jahren vereinbarten die USA und die UdSSR im INF-Vertrag
(Intermediate Range Nuclear Forces) eine doppelte Nulllösung: Sie vernich-
teten weltweit ihre landgestützten Raketen sowohl mit kürzerer und mittlerer
Reichweite (500 bis 5 500 km) einschließlich der Abschussvorrichtungen
und Infrastruktur. Der Ausstieg aus der Logik des Wettrüstens und der Ver-
zicht auf eine ganze Familie von Waffen waren der Auftakt zu weiteren ab-
rüstungspolitischen Vereinbarungen, wie dem Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) oder dem Vertrag zur Reduzierung stra-
tegischer Waffen (START). Eine Politik der Vertrauensbildung, gemeinsa-
men Sicherheit und Abrüstung hat entscheidend dazu beigetragen, dass der
Kalte Krieg und die Spaltung Europas überwunden werden konnten.

2. Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung zu fördern muss weiterhin vorrangi-
ges Ziel und Interesse deutscher und europäischer Außenpolitik sein. Fünfzig
Jahre nach den Römischen Verträgen müssen die Staaten Europas in den
Kernfragen europäischer Sicherheit ein gemeinsames Verständnis über die
zentralen Bedrohungen und die geeigneten Maßnahmen zur Friedenssiche-
rung entwickeln. Die Bundeskanzlerin stellt zu Recht fest: „Alleingänge sind
noch niemandem gut bekommen.“

3. Die Absicht, Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems auf Grund
bilateraler Vereinbarungen in Polen und Tschechien zu stationieren, ist auf
vielfachen Widerspruch gestoßen. Rußland hat u. a. damit gedroht, den INF-
Vertrag zu kündigen. Eine vorschnelle Stationierung droht Europa zu spalten
und das Verhältnis zu den USA und Russland schwer zu belasten. Es besteht

die Gefahr, dass das fragile Rüstungskontroll- und Abrüstungsgefüge weiter
geschädigt statt gestärkt wird. Die Folgen für Deutschland, die europäische
und globale Sicherheit wären fundamental.

4. Der Bundestag ist tief besorgt, dass die multilateralen Vertragswerke zur
Rüstungskontrolle und Abrüstung infolge des Raketenstreits einer weiteren
ernsten Erosionsgefahr ausgesetzt sind. Die Genfer Abrüstungskonferenz ist

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seit Jahren blockiert. Elementare Abrüstungsvereinbarungen, wie der umfas-
sende Atomteststopp-Vertrag oder das Anti-Personenminenverbot werden
von führenden Staaten nicht unterstützt. Das Scheitern der dritten Überprü-
fungskonferenz zum KSE-Vertrag (2006) gefährdet ein Kernstück der euro-
päischen Sicherheitsarchitektur. Das Scheitern der Überprüfungskonferenz
zum Atomwaffensperrvertrag 2005 zeigt eine Tendenz, den Grundgedanken
dieses Vertrages – Verzicht auf Atomwaffen durch Nichtkernwaffenstaaten
gegen Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten – immer weniger akzeptieren
zu wollen. Alle fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates – zuletzt
Großbritannien – sind dabei, ihr Atomwaffenarsenal zu modernisieren. Es ist
schwer, Drittstaaten zur Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages und zur
Abkehr von eigenen Nuklearplänen zu bewegen, wenn die Selbstverpflich-
tung der offiziellen Atomwaffenstaaten ins Gegenteil verkehrt und gegenüber
Staaten – wie Indien – ein doppelter Maßstab angelegt wird.

5. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Ankündigung des Außenministers, die
Auseinandersetzungen um die US-Raketenabwehr zum Ausgangspunkt für
neues Vertrauen und einen neuen Geist von Verständigung zu nutzen. Der
Außenminister hat gegenüber dem Bundestag und der Öffentlichkeit erklärt:

● Europas Sicherheit ist unteilbar. Wir wollen sie immer stärker in unsere
eigenen Hände nehmen, ohne dabei das historisch gewachsene transatlan-
tische Verteidigungsbündnis zu schwächen.

● Die Wahrung legitimer Sicherheitsinteressen darf nicht dazu führen, neues
Misstrauen oder neue Unsicherheiten hervorzurufen. Ein Raketenabwehr-
system darf weder Ursache noch Vorwand für eine neue Rüstungsrunde
sein.

● Dauerhafter Friede basiert nicht mehr auf militärischer Abschreckung,
sondern auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Überwindung
politischer, kultureller und religiöser Trennlinien.

● Vertrauen bildet sich durch ehrliche Gespräche und durch Zeit, die man
sich füreinander nimmt. Viele Fragen technischer, aber vor allem auch po-
litisch-strategischer Art sind noch unbeantwortet.

● Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine neue Abrüstungspolitik.
Kein noch so ausgereiftes militärisches Abwehrsystem kann hundertpro-
zentigen Schutz gewähren. Oberste Priorität bleibt deshalb Abrüstung,
nicht Aufrüstung.

● Das erfordert auch … klare Signale der Kernwaffenstaaten, dass sie es
ernst meinen mit ihren Abrüstungsverpflichtungen aus dem Nichtweiter-
verbreitungsvertrag – und nicht durch unbedachtes Handeln die Abrüs-
tungsarchitektur erodieren lassen.

Die Bundesregierung muss alles tun, um eine neue Rüstungsspirale und den
Rückfall in die Reflexe des Kalten Krieges zu verhindern. Es ist ein Irrglaube,
dass immer mehr Waffen automatisch zu mehr Sicherheit führen. Stattdessen
brauchen wir noch mehr Anstrengungen, um Vertrauen zu schaffen und Miss-
trauen abzubauen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich in der NATO und EU sowie gegenüber den USA, Polen und Tschechien
dafür einzusetzen, dass die Pläne für eine Stationierung des US-Raketenab-
wehrschirms in Europa bis zu einer einvernehmlichen Lösung aller Beteilig-
ten – einschließlich Russlands – auf Eis gelegt und nicht weiterverfolgt wer-
den;

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2. innerhalb der EU in der Frage des amerikanischen Raketenabwehrsystems
und dessen Auswirkung auf Frieden und Stabilität in und für Europa unver-
züglich eine gemeinsame Haltung zu entwickeln und dabei darauf zu drän-
gen, dass interessierte Staaten von europäischer Seite weiterhin mit präventi-
ver Diplomatie zum Verzicht auf die Entwicklung von Massenvernichtungs-
waffen und Raketentechnologie bewegt werden;

3. den Deutschen Bundestag an der Willensbildung und Entscheidung über die
Stationierung der US-Raketenabwehr in Europa zu beteiligen und ihm alle
diesbezüglichen Informationen, z. B. über die Risiken für Deutschland, zur
Verfügung zu stellen;

4. den angekündigten neuen Schwung für eine neue Abrüstungspolitik in die Tat
umzusetzen. Abrüstungspolitik muss erneut zu einem Ordnungsprinzip in
den internationalen Beziehungen werden. Multilaterale verifizierbare und
möglichst universelle Verträge setzen den richtigen Rahmen zur Lösung von
Konflikten mit globaler Dimension;

5. in der EU, NATO und in bilateralen Gesprächen mit Russland, den USA und
anderen strategischen Partnern darauf zu drängen,

● dass das sorgsam austarierte Gefüge an abrüstungs- und rüstungskontroll-
politischen Vereinbarungen erhalten bleibt und das vertragsgestützte inter-
nationale Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregime gestärkt wird;

● dass das Anpassungsübereinkommen zum KSE-Vertrag schnellstmöglich
in Kraft gesetzt wird;

● dass die verifizierbare Abrüstung der nuklearen Kurzstreckenraketen von
Russland und den USA vorangetrieben wird, alle Atomwaffen in ihre Her-
kunftsländer zurückgezogen werden und die nukleare Teilhabe von Nicht-
kernwaffenstaaten beendet wird;

● dass regionale Abrüstungsinitiativen, vor allem in Konfliktregionen, ins-
besondere im Nahen und Mittleren Osten, vorangebracht werden und da-
bei zu berücksichtigen, dass universellen Regelungen und der Gewährung
von Sicherheitsgarantien eine große Bedeutung zukommt;

● dass eine weitere Militarisierung des Weltraums verhindert wird;

● dass die Vorbereitungskonferenzen zur Überprüfungskonferenz des Atom-
waffensperrvertrages genutzt werden, um die Abrüstung und Nichtweiter-
verbreitung von Atomwaffen mit dem Ziel der raschen vollständigen Be-
seitigung substanziell voranzubringen;

6. dass sie einer Aufhebung der Nuklearsanktionen in der Nuclear Suppliers
Group mindestens so lange nicht zustimmt, bis Indien alle Atomanlagen irre-
versiblen IAEO-Safeguards unterstellt, dem umfassenden Teststoppvertrag
beigetreten ist, ein überprüfbares Produktionsmoratorium für Spaltmaterial
für Waffenzwecke erklärt und auch Verpflichtungen zur Beschränkung und
letztendlich zur Abrüstung seines Kernwaffenprogramms akzeptiert hat.

Berlin, den 27. März 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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