BT-Drucksache 16/4517

Haltung der Bundesregierung zum Raketenabwehrsystem der USA und den Raketenabwehrplänen der NATO

Vom 2. März 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4517
16. Wahlperiode 02. 03. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Marieluise Beck
(Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller
(Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock,
Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haltung der Bundesregierung zum Raketenabwehrsystem der USA
und den Raketenabwehrplänen der NATO

Das weitere Heranrücken der NATO und deren Infrastruktur an Russland wird
von russischer Seite als „unfreundliches Signal“ verstanden und heftig kritisiert
(Süddeutsche Zeitung vom 7./10./13. Februar 2007). Neben der Diskussion um
die NATO-Erweiterung um die Ukraine und Georgien ist es vor allem die
geplante Stationierung von Teilen des amerikanischen Raketenabwehrsystems
in Polen und in der Tschechischen Republik, die von Präsident Wladimir Putin
und anderen im Umfeld der Münchner Sicherheitskonferenz heftig kritisiert
wurde. Die amerikanische Radarstation soll in Tschechien, die Silos und Ab-
schussrampen der Abwehrraketen sollen in Polen entstehen und in wenigen
Jahren betriebsbereit sein.

Von Seiten der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen wurden für die
russische Haltung z. T. Verständnis gezeigt und eine stärkere Einbeziehung
Russlands in die Planungen empfohlen. Russland sieht durch das Raketenab-
wehrsystem der USA und die geplante Stationierung in Europa die eigene stra-
tegische Abschreckungsfähigkeit gefährdet und arbeitet an Gegenmaßnahmen
wie z. B. der TOPOL-M-Rakete mit mehreren, individuell steuerbaren Ge-
fechtsköpfen und semi-ballistischen Flugfähigkeiten (FAZ 22. Februar 2007).
Von russischer Seite wird u. a. offen damit gedroht, den vor 20 Jahren unter-
zeichneten INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) über das Produk-
tionsverbot und die Vernichtung aller Raketen mit mittlerer und kürzerer Reich-
weite (500 bis 5 500 Kilometer) zu kündigen und die Produktion von
Mittelstreckenraketen wieder aufzunehmen.

Das Raketenabwehrprogramm der USA basiert auf den „Star-Wars“-Visionen
des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan. Aber auch nach der von
Präsident George W. Bush am 31. August 2006 verabschiedeten neuen „Na-
tional Space Policy“ soll der Weltraum für „mehrschichtige integrierte Rake-
ten-Verteidigungssysteme“ genutzt werden (SPIEGEL ONLINE, 20. Oktober

2006). Kritiker sehen sich in ihren Befürchtungen bestärkt, dass die 2001 er-
folgte amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags über die Begrenzung der
Fähigkeiten zur strategischen Raketenabwehr und der Ausbau der Raketenab-
wehr zu einem neuen Wettrüsten und der Erosion der Rüstungskontroll- und
Abrüstungsbemühungen führen werden. Parallel zur Kündigung des ABM-Ver-
trags und der Entscheidung zum Ausbau der Raketenabwehr wurde 2001 die
offensive „Prompt-Global-Strike“-Idee geboren. Sie soll es den US-Streitkräf-

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ten ermöglichen, präventiv und innerhalb kürzester Zeit jedes Ziel der Erde mit
konventionellen Waffen zerstören zu können. Im Rahmen dieses Projekts wer-
den in einer ersten Stufe bis 2010 die Atomsprengköpfe von 24 TRIDENT-Ra-
keten auf zwölf U-Booten durch konventionelle Sprengköpfe ersetzt. Konven-
tionelle und nukleare Angriffe werden dadurch nicht unterscheidbar. Dadurch
wächst die Gefahr einer nuklearen Gegenreaktion (K.-H. Kamp, Konrad-Ade-
nauer-Stiftung, August 2006), der u. a. mit dem Raketenabwehrschirm begeg-
net werden soll.

Die Stationierung des Raketenabwehrsystems ist in Polen und Tschechien um-
stritten und noch nicht entschieden. Nach Auffassung des polnischen Minister-
präsidenten, birgt die „Einrichtung des Schildes in Polen (…) einige Mängel
und Gefahren“ (SPIEGEL-ONLINE, 15. Februar 2007). Obwohl das Raketen-
abwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet sein soll, bemüht sich die polni-
sche Regierung u. a. um die Bereitstellung von PATRIOT-Abwehrsystemen ge-
gen Mittelstreckenraketen (DIE WELT, 13. September 2006) bzw. um das
amerikanische THAAD-System (Terminal High Altitude Area Defense).Von
tschechischer Seite wurde die Eingliederung des US-Raketensystems in die
NATO zur Sprache gebracht. Die NATO selbst arbeitet an einem Abwehrsys-
tem, das ballistische Flugkörper mit Reichweiten von bis zu 3 000 Kilometern
bekämpfen können soll. Im März 2005 leitete der Nordatlantikrat das
ALTBMD-Programm (Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence) ein
und im Juni 2006 wurde eine Durchführbarkeitsstudie zur Raketenabwehr vor-
gelegt. Dabei scheint man inzwischen bei der Lösung konkreter Fragen wie den
Führungs- und Konsultationsregelungen oder Haftungsfragen für Trümmer-
schäden (NATO-Brief, Herbst 2006) angelangt zu sein.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die offensiv ausgerichtete „Prompt-Glo-
bal-Strike“-Strategie der USA und inwieweit war dieser Strategiewechsel,
der mit der Bush-Doktrin eines militärischen Präventivschlags und dem
Ausbau des Raketenabwehrschirms der USA korrespondiert, Gegenstand
der bilateralen deutsch-amerikanischen bzw. NATO-internen Diskussionen?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die „National Space Policy“ der USA
und die damit einhergehende verstärkte militärische Nutzung des Welt-
raums, auch für Zwecke der Raketenabwehr?

Welche Initiativen ergreift die Bundesregierung, um die weitere Militarisie-
rung und Bewaffnung des Weltraums zu verhindern?

3. Inwieweit trifft es zu, dass der Sowjetunion im Zuge des Prozesses zur Deut-
schen Einheit und jenseits des 2+4-Vertrags formell oder informell Zusagen
gemacht wurden, dass es im ehemaligen Gebiet der Warschauer Vertrags-
staaten keine Stationierung von US- oder anderen NATO-Truppen geben
wird?

Inwieweit wäre nach Auffassung der Bundesregierung eine dauerhafte Sta-
tionierung von US- oder anderen NATO-Truppen und -Einrichtungen in
Ostdeutschland bzw. einem osteuropäischen NATO-Staat völkerrechtlich
zulässig?

Worauf basiert diese Einschätzung, und wird diese auch von russischer Seite
geteilt?

4. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung vom Gesamtkonzept, dem Stand
und den nächsten Planstufen zum Ausbau des Raketenabwehrsystems der
USA?
Wie und in welchem Rahmen wird die Bundesregierung über die aktuellen
Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4517

5. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die bisher angefallenen
und die künftigen Kosten für das Raketenabwehrsystem?

6. Welche europäischen Staaten sollen nach Kenntnis der Bundesregierung
aktiv in das Raketenabwehrprogramm einbezogen werden, und um welche
Art der Beteiligung handelt es sich dabei?

Zu welchem Zeitpunkt und auf welchem Wege hat die Bundesregierung
erstmals von den konkreten Stationierungsplänen in den jeweiligen Län-
dern erfahren?

7. Welche Raketenangriffe sollen nach Kenntnis der Bundesregierung von
Polen aus abgewehrt werden, und gehört dazu auch die Abwehr von
Angriffen auf Deutschland?

Welchen Wirkungsradius sollen die in Polen und Tschechien geplanten
Raketenbasen und Radarstationen besitzen?

Ist damit auch die Abwehr russischer Raketen denkbar?

8. Welche Staaten verfügen nach Kenntnis der Bundesregierung gegenwärtig
bzw. mittel- und langfristig über Raketensysteme mit der notwendigen
Reichweite, um mittels der geplanten Raketenabwehreinrichtungen in
Polen und Tschechien bekämpft werden zu können, und um welche Rake-
ten handelt es sich dabei?

Welche dieser Systeme nutzen eine ballistisch statische Flugbahn, und
welche sind technisch so ausgelegt, dass sie ihre Flugbahn verändern
können?

9. Welchen Sinn macht aus Sicht der Bundesregierung eine im Zusammen-
hang mit dem US-Raketenschirm geforderte Stationierung des PATRIOT-
oder THAAD-Abwehrsystems in Polen?

Welche Raketen aus welchen Ländern könnte Polen damit abwehren?

10. Welche finanziellen, militärischen oder sonstigen Gegenleistungen sollen
Polen und die Tschechische Republik nach Kenntnis der Bundesregierung
für die Bereitstellung als Stationierungsland erhalten?

11. War die Stationierung des Raketenabwehrsystems in der Vergangenheit
Gegenstand von politischen Gesprächen zwischen der Bundesregierung
und der Regierung der USA, Polens bzw. Tschechiens?

Was war der Inhalt dieser Gespräche, und inwieweit wurde dabei auch über
die Risiken und Gefahren dieser Stationierung gesprochen?

12. Inwieweit und in welchen Punkten teilt die Bundesregierung die von Präsi-
dent Wladimir Putin und anderen geäußerten Bedenken gegenüber dem
Raketenabwehrsystem und dem „Heranrücken“ der NATO und der USA
an Russland?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Pläne der US-Regierung, in Polen
und Tschechien Einrichtungen zur Raketenabwehr zu installieren?

14. a) Ist von US-Seite jemals der Wunsch nach einer deutschen Beteiligung
bzw. an einer Stationierung von Komponenten des Raketenabwehrsys-
tems in Deutschland geäußert worden?

Wenn ja, wann und wie?

Wie war die Reaktion der Bundesregierung?

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b) Hat sich die Bundesregierung um eine Beteiligung am Raketenabwehr-
system bemüht?

Wenn ja, um welche Art der Beteiligung ging es dabei?

Strebt die Bundesregierung eine deutsche Beteiligung an, wenn ja,
welche?

15. Inwieweit war oder ist das amerikanische Raketenabwehrsystem Gegen-
stand von Diskussionen und Planungen in Gremien der NATO oder der EU?

Welche Position wird von Seiten der NATO bzw. der EU zu den Plänen
vertreten, und wie hat sich die Bundesregierung dabei jeweils positioniert?

16. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das Raketenabwehrsystem
der USA ein NATO-Projekt werden soll, und wie bewertet die Bundes-
regierung die Forderung, dass auch Russland sich daran beteiligen können
soll?

17. Hält die Bundesregierung eine gemeinsame Position Europas in dieser
Frage für notwendig, und wird die Bundesregierung das Thema Raketen-
abwehr im Rahmen der EU aufgreifen?

Wenn ja, wie?

Wenn nein, warum nicht?

18. Welchen Stand haben die Überlegungen der NATO zur Raketenabwehr
bzw. intergrierten erweiterten Luftverteidigung, und wo sind die Schnitt-
stellen zum US-Raketenabwehrsystem und zu MEADS?

Welches sind die politischen Schwerpunkte der Bundesregierung im Rah-
men der Überprüfung der Raketenabwehrpläne der NATO?

19. Inwiefern beteiligt sich Deutschland aus Sicht der Bundesregierung – z. B.
über das MEADS-Programm – bereits jetzt direkt oder indirekt am Rake-
tenabwehrprogramm der USA?

Plant die Bundesregierung in Reaktion auf die US-Planungen Veränderun-
gen im laufenden Entwicklungsvertrag MEADS oder bei zukünftigen Be-
schaffungsabsichten?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherigen Ergebnisse der Tests des
US-Raketenabwehrsystems, und wie viele Fehlversuche des getesteten
Systems sind der Bundesregierung bekannt?

Inwiefern ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die bisherigen
Tests unter realistischen Bedingungen stattgefunden haben?

21. Welche Präzision erfordert nach Kenntnis der Bundesregierung ein Rake-
tenabwehrsystem, um eine effektive Zerstörung von mit Massenvernich-
tungswaffen bestückten Interkontinentalraketen ohne so genannte Kollate-
ralschäden zu gewährleisten?

22. Für wie hoch hält die Bundesregierung nach gegenwärtigen Kenntnissen
die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Abwehrversuch die Rakete und
deren (Massenvernichtungs-)Sprengköpfe nicht vollständig getroffen und
zerstört werden?

Welche Gefahr geht nach Kenntnis der Bundesregierung von den Über-
resten getroffener oder nicht vollständig getroffener Lenkflugkörper aus?

23. Wie bewertet die Bundesregierung das Riskio für die Bevölkerung
Deutschlands bzw. der EU- bzw. europäischen NATO-Staaten, Opfer einer
(unzureichend) abgewehrten Rakete zu werden?
Was wären Worst-case-Szenarien im Falle eines konventionellen, eines A-,
eines B- oder eines C-Waffensprengkopfes?

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24. Wer sollte nach Auffassung der Bundesregierung für Schäden aufkommen,
die z. B. durch herabstürzende Teile bekämpfter Flugkörper, einen Elektro-
magnetischen Puls (EMP) bzw. A-, B- oder C-Waffen-Kontaminierung
entstehen?

Sind für diesen Fall völkerrechtlich verbindliche Absprachen getroffen,
bzw. sollen solche Absprachen noch getroffen werden?

Wie ist die Haltung der US-Regierung zu einem solchen Risiko?

25. Durch welche „Gegenmaßnahmen“ ist die Abwehrwahrscheinlichkeit des
Raketenabwehrsystems der USA zu überlisten, und an welchen dieser Ge-
genmaßnahmen wird nach Kenntnis der Bundesregierung in Staaten wie
Russland, China, Indien, Pakistan, Nordkorea oder Iran gearbeitet?

26. Was sind nach Kenntnis der Bundesregierung die primären Motive für die
harsche russische Reaktion, und welche Rolle spielt dabei auf russischer
Seite der perzepierte eigene Machtverlust und ein als rücksichtslos emp-
fundenes Vorgehen westlicher Staaten, z. B. bei der NATO-Erweiterung, in
der Kosovo-Frage oder in der Kaukasus-Politik?

27. Wie beurteilt die Bundesregierung die russischen Reaktionen auf die Sta-
tionierungsabsichten in Europa?

Mit welchen Auswirkungen auf die internationale Rüstungskontrolle und
Abrüstung – z. B. die Erosion bestehender Abrüstungsverträge wie des
INF- oder KSE-Vertrags – ist nach Ansicht der Bundesregierung zu rech-
nen?

28. Inwiefern sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass durch ein Raketenab-
wehrsystem und die Stationierung in Europa ein neuer Rüstungswettlauf
beginnen könnte?

29. Wie bewertet die Bundesregierung die Kündigung des ABM-Vertrags
durch die USA, und gibt es von Seiten der Bundesregierung oder der EU
Überlegungen, ein vergleichbares Abkommen zwischen der EU und Russ-
land, China, Indien, Pakistan, Nordkorea, dem Iran u. a. in Angriff zu neh-
men?

30. Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeiten einer effizienten
Nichtweiterverbreitungspolitik im Bereich der Raketentechnologie, und
welche Rüstungskontroll- und vertrauensbildenden Maßnahmen sind nach
Auffassung der Bundesregierung erforderlich, um hier zu Fortschritten zu
gelangen?

Berlin, den 1. März 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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