BT-Drucksache 16/4323

Haftbedingungen und Willkür im russischen Strafvollzug

Vom 14. Februar 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/4323
16. Wahlperiode 14. 02. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haftbedingungen und Willkür im russischen Strafvollzug

Im Januar 2007 saßen in Russland 871 000 Menschen in Haft. Damit hat Russ-
land nach den USA die weltweit höchste Haftquote mit 611 Gefangenen pro
100 000 Einwohner. Die Tendenz, auch wegen kleinster Vergehen Haftstrafen
zu verhängen, führt zu einer permanenten Überbelegung russischer Gefäng-
nisse, vor allem in der Moskauer Region.

Die Haftbedingungen in Russland stellen ein großes Problem dar. 36 Prozent
der Beschwerden, die der Menschenrechtsbeauftragte Vladimir Lukin erhält,
richten sich gegen Missstände im Strafvollzug. Zwar haben Sanierungen, mehr
staatliche Kontrolle und das Inkrafttreten einer neuen Strafprozessordnung zu
einigen Verbesserungen und vorübergehend auch zu einem Rückgang der Zahl
der Inhaftierten geführt. Trotzdem bleiben die Haftbedingungen in Russlands
Gefängnissen schlecht. Das gilt besonders für die Polizeihaft und die Unter-
suchungshaftanstalten.

Neben extremer Beengung, Lichtmangel, kargem Essen, desolater medizini-
scher Versorgung und schlechten sanitären Standards kommt es nach wie vor zu
Folterungen und Misshandlungen durch Ordnungskräfte, vor allem in der Poli-
zeihaft, die meist die Erpressung eines Geständnisses zum Ziel haben. Russi-
sche Nichtregierungsorganisationen dokumentierten allein im Jahr 2005 114
Fälle von Folterungen (ohne Nordkaukasus). Die tatsächliche Zahl dürfte höher
liegen, auch weil Gefangene aus begründeter Angst vor weiteren Repressalien
Misshandlungen nicht melden. Begünstigt werden diese Zustände durch unzu-
reichende Strafverfolgung, im Jahr 2005 wurden laut Amnesty International
von den 114 Fällen nur 33 strafrechtlich verfolgt. Auch Vergewaltigungen ge-
hören zum Gefängnisalltag, wobei das Wachpersonal in der Regel nicht ein-
greift. Besonders dramatisch sind die Haftbedingungen im Nordkaukasus, vor
allem in Tschetschenien. Dort werden Menschen an unbekannten Orten fest-
gehalten und sind völlig Folter und Willkür ausgesetzt. Human Rights Watch
dokumentierte in Tschetschenien 115 Fälle von Folter zwischen Juni 2004 und
September 2006, aber nur einen Fall von Strafverfolgung. In diesem Zusam-

menhang gibt auch zu denken, dass die russische Regierung im Oktober 2006
das Mandat des UN-Sonderbeauftragten für Folter ablehnte, der unangekündigt
Gefängnisse im Nordkaukasus besuchen wollte. Auch das Internationale Komi-
tee vom Roten Kreuz hatte in der Vergangenheit nicht zu allen Haftanstalten im
Nordkaukasus Zugang.

Drucksache 16/4323 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Russland hat sowohl das „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter
und andere grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder
Strafe vom Dezember 1984 als auch die Europäische Konvention zur Verhütung
von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
von 1987 unterzeichnet und ratifiziert und ist an deren Standards gebunden.
Schon mehrfach wurde Russland vom Europäischen Menschenrechtsgerichts-
hof wegen seiner Missstände im Strafvollzug verurteilt.

Als Mitglied des Europarats ist Russland auch an Artikel 6 der Europäischen
Menschenrechtskonvention gebunden, der das Recht auf einen fairen Prozess
garantiert. Insbesondere bei einer Reihe von Prozessen wegen Preisgabe von
Staatsgeheimnissen ist es nach Einschätzung des Berichterstatters der Parla-
mentarischen Versammlung des Europarates, Christos Pourgourides, zu gravie-
renden rechtsstaatlichen Verstößen gekommen. Aktuelle Beispiele sind die
Fälle der zu 14- bis 15-jährigen Haftstrafen verurteilten Wissenschaftler Igor
Sutjagin und Walentin Danilow sowie des Rechtsanwaltes Michail Trepaschkin.

Auch in Prozessen gegen ehemalige Verantwortliche des Ölkonzerns Yukos
stellte die Entschließung 1418 der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates Rechtsverstöße fest. Prominentestes Beispiel ist der wegen Betrugs und
Steuerhinterziehung zu acht Jahren Haft verurteilte Michail Chodorkowski, der
seine Strafe im 5 000 km von Moskau entfernten Krasnokamensk absitzt. Unter
Umständen hätte Michail Chodorkowski nach der Hälfte der Haftstrafe ent-
lassen werden können. Allerdings hatte er bis Ende 2006 schon drei Disziplinar-
strafen erhalten: zunächst wegen Besitzes unerlaubter Dokumente des Justiz-
ministeriums, anschließend wegen unerlaubten Teetrinkens und zuletzt wegen
zweier Zitronen, die er unter Verstoß der Gefängnisordnung von einem Mithäft-
ling erhalten hatte. Die erste Disziplinarstrafe war vom Gericht bereits als
unrechtmäßig befunden worden. Zudem wurde am 5. Februar 2007 gegen ihn
eine neue Anklage der Staatsanwaltschaft in Tschita wegen angeblichen Öl-
diebstahls und Geldwäsche erhoben, die eine weitaus längere Haftstrafe nach
sich ziehen könnte.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit beabsichtigt die Bundesregierung, in dem voraussichtlich wäh-
rend ihrer EU-Ratspräsidentschaft neu zu verhandelnden Partnerschafts- und
Kooperationsabkommen (PKA), Folter und die schlechten Haftbedingungen
in Russland zu thematisieren und sich dafür einzusetzen, gewisse Mindest-
standards, z. B. unabhängige Kontrollmechanismen und effektive Strafver-
folgung der Täter festzuschreiben?

2. Mit welchen Mitteln unterstützt die Bundesregierung die russische Regie-
rung dabei, ihr Strafvollzugssystem zu reformieren und auf internationale
und europäische Standards anzuheben, zu deren Einhaltung Russland sich
verpflichtet hat, und welche Ergebnisse gibt es bisher dabei?

3. Gibt es auf EU-Ebene Programme, die eine Unterstützung Russlands bei der
Verbesserung von Haftbedingungen, der besseren Ausbildung von Ord-
nungskräften etc. zum Ziel haben, und wenn ja, wie werden deren Wirkun-
gen evaluiert?

4. Inwieweit thematisiert die Bundesregierung gegenüber der russischen Re-
gierung die mangelnde Unabhängigkeit der russischen Justiz, und inwieweit
wird sie sich im Rahmen des gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicher-
heit und des Rechts für eine bessere Kooperation zwischen der EU und
Russland im Justizbereich einsetzen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/4323

5. Hat es bisher Maßnahmen im Rahmen der von der Bundesministerin der
Justiz, Brigitte Zypries, und ihrem Amtskollegen Wladimir Ustinow am
9. November 2006 getroffenen Zusammenarbeitsvereinbarung gegeben,
vor allem im Bereich Recht im Strafvollzug?

a) Wenn ja, welche Maßnahmen sind dort durchgeführt worden?

b) Wenn nein, für wann sind erste Maßnahmen geplant, und wie sollen
diese aussehen?

6. Hat die Bundesregierung Kenntnis vom aktuellen Stand des Gesetzent-
wurfs 11807-3 zur Einrichtung eines öffentlichen Kontrollmechanismus
von Strafvollzugsanstalten, dessen zweite Lesung durch die Duma seit
September 2003 immer wieder verschoben wurde?

7. Versucht die Bundesregierung bezüglich des im Juni 2006 in Kraft getrete-
nen, von Russland bisher noch nicht unterschriebenen Fakultativprotokolls
der UN-Anti-Folter-Konvention, das unabhängige nationale und interna-
tionale Kontrollmechanismen für alle Haftanstalten vorsieht, Einfluss auf
die russische Regierung zu nehmen?

8. Hat die Bundesregierung Informationen darüber, ob von russischer Seite
die bereits mehrfach ausgesprochene Empfehlung des UN-Anti-Folter-Ko-
mitees, die Staatsanwaltschaft unabhängiger und unparteiischer zu machen
und die Zuständigkeit für die Strafverfolgung einerseits und die Kontrolle
über deren Methoden und Untersuchung von Foltervorwürfen andererseits
zu trennen, umgesetzt wird bzw. eine solche Umsetzung geplant ist?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass das Europäische
Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung (CPT) von seinen 13 Berichten zu Russland und Tschetsche-
nien bisher elf nicht veröffentlichen konnte, womit Russland als mittler-
weile einziges Mitglied des Europarates extensiv von seinem Recht Ge-
brauch macht, seine Zustimmung zur Veröffentlichung dieser Berichte zu
verweigern?

10. Wie bewertet die Bundesregierung die Ablehnung des Mandats des UN-
Sonderbeauftragten für Folter, Manfred Nowak, seitens der russischen
Regierung hinsichtlich unangekündigter Gefängnisbesuche und Privatge-
sprächen mit Häftlingen, die zu einer Verschiebung der geplanten Reise in
den Nordkaukasus auf unbestimmte Zeit führten?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass es vor allem in
Tschetschenien, aber auch in Inguschetien und Nordossetien inoffizielle
Gefängnisse gibt, die keiner Kontrolle unterstehen und in denen Menschen
gefoltert und misshandelt werden?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis von Maßnahmen der russischen Regie-
rung, die vom CPT und Menschenrechtsorganisationen als Ort besonders
gravierender Misshandlungen eingestufte, dem Innenministerium unterste-
hende Haftanstalt ORB-2 in Grosny aufzulösen bzw. besserer Kontrolle
und effektiver Strafverfolgung zu unterstellen?

13. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass in Russland Poli-
zisten anhand der Anzahl aufgeklärter Fälle befördert werden, im Hinblick
auf die Anreize eines solchen Systems, Geständnisse durch Folter zu er-
zwingen?

14. Wie schätzt die Bundesregierung die Strategie der russischen Regierung ein,
dem Problem der Überbelegung von Untersuchungshaftanstalten (SIZO)
dadurch entgegenzuwirken, dass bisher ca. 157 zusätzliche temporäre Un-
tersuchungshaftanstalten eingerichtet wurden (PFIRSI), die jedoch wegen

ihrer geographischen Abgelegenheit schwieriger zu kontrollieren und als
„Folterzonen“ berüchtigt sind?

Drucksache 16/4323 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
15. Hat die Bundesregierung Kenntnisse von Plänen der russischen Regierung,
das auch vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof kritisierte Inhaf-
tierungsverfahren dahingehend zu verändern, dass weniger Menschen un-
nötig inhaftiert werden, wie von offizieller Seite selbst zugegeben wird?

16. Sieht die Bundesregierung angesichts der steigenden Zahl von mit HIV in-
fizierten russischen Häftlingen von ca. 15 000 in 2001 auf ca. 36 000 in
2005 sowie Hinweisen auf Diskriminierung und mangelnde medizinische
Versorgung dieser Häftlinge einen verstärkten Handlungsbedarf der russi-
schen Regierung hinsichtlich Prävention von HIV/AIDS in der russischen
Gesellschaft generell und Gefängnissen im Besonderen, und gibt es von
europäischer Seite Unterstützung für dieses wachsende Problem?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass auch die neue russi-
sche Strafprozessordnung nicht das Recht eines Gefangenen auf eine unab-
hängige medizinische Untersuchung in Polizeihaft und Untersuchungshaft
vorsieht?

18. Hat die Bundesregierung Kenntnis über den aktuellen Zustand des Rechts-
anwalts Michail Trepaschkin, dem laut Amnesty International in der offe-
nen Strafkolonie IK 13 die erforderliche medizinische Versorgung für sein
als lebensbedrohlich eingestuftes Asthma verwehrt wird, und wie bewertet
die Bundesregierung die Aussage der zuständigen Behörden, Michail
Trepaschkin sei angemessen medizinisch versorgt?

19. Wie beurteilt die Bundesregierung die vom Berichterstatter der Parlamen-
tarischen Versammlung des Europarates Christos Pourgourides kritisierten
Verstöße gegen das Recht auf einen fairen Prozess bei Anklagen wegen der
Preisgabe von Staatsgeheimnissen gegen Igor Sutjagin, Walentin Danilow
und Michail Trepaschkin?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates (Entschließung 1418), dass durch Gesetzes-
reformen von 2001 und 2002 russische Richter noch schlechter als zuvor
vor staatlicher Einflussnahme geschützt sind?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verurteilung der Yukos-Angestell-
ten Swetlana Bachmina zu sechseinhalb Jahren Haft unter dem Gesichts-
punkt, dass sie bei einer Strafe von bis zu sechs Jahren als Mutter kleiner
Kinder für eine Amnestie in Frage gekommen wäre?

22. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung des Anwalts Juri Schmidt, dass
die drei Disziplinarmaßnahmen gegen Michail Chodorkowski, von denen
eine bereits vom Gericht für unrechtmäßig erklärt wurde, lediglich als
Mittel dienen sollten, seine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung zu
verhindern?

23. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass die russische Gene-
ralstaatsanwaltschaft zurzeit neue Vorwürfe gegen Michail Chodorkowski
und Platon Lebedew wegen Öldiebstahls im Wert von 23 Mrd. US-Dollar
und Geldwäsche erhebt, die weitere Strafverfahren und damit voraussicht-
lich eine Verlängerung der Haft nach sich ziehen werden?

Berlin, den 14. Februar 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.