BT-Drucksache 16/3520

Eine europäische Perspektive für das Kosovo

Vom 22. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3520
16. Wahlperiode 22. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Rainder Steenblock, Volker Beck
(Köln), Dr. Uschi Eid, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eine europäische Perspektive für das Kosovo

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag dankt dem UN-Sondergesandten Martti Ahtisaari
für seine geduldigen Bemühungen um eine Verhandlungslösung zur Klärung
des zukünftigen Status des Kosovo unter gleichberechtigter Einbeziehung
der serbischen Regierung und der Repräsentanten des Kosovo. Die unter sei-
ner Vermittlung geführten Verhandlungen sind jedoch ins Stocken geraten.
Nach Einschätzung von Martti Ahtisaari ist eine einvernehmliche Verhand-
lungslösung nicht mehr zu erwarten. Er wird nun einen Kompromiss als
eigenen Vorschlag vorlegen, über den der UN-Sicherheitsrat zu befinden
haben wird.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet im März 1999 inter-
venierte die NATO militärisch in Serbien mit dem Ziel, die massenhafte Ver-
treibung der Albaner durch serbische Sicherheitskräfte aus dem Kosovo zu
beenden. Dem vorausgegangen war die Resolution 1203 des UN-Sicherheits-
rates vom 24. Oktober 1998, in der neben der Verurteilung terroristischer Ak-
tionen auf beiden Seiten im Kosovo unter Berufung auf Kapitel VII der UN-
Charta festgestellt wird, dass „die ungelöste Situation … auch weiterhin eine
Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region“ ist. Die nach der
Besetzung des Kosovo durch NATO-Truppen beschlossene Resolution 1244
vom 10. Juni 1999 stellte dieses, wiederum unter Berufung auf Kapitel VII,
unter UN-Verwaltung. Aufgabe der UN-Verwaltung war und ist, „bis zu einer
endgültigen Regelung“ zu garantieren, dass das Kosovo mit „substantieller
Autonomie“ ausgestattet eine „tatsächliche Selbstverwaltung“ aufbauen
kann.

Damit haben die UN die politische Verantwortung für das Kosovo übernom-
men und die Bundesrepublik Jugoslawien bzw. ihre Rechtsnachfolgestaaten
die staatliche Autorität über das Kosovo de facto verloren.

Am 24. Oktober 2005 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Aufnahme von

Verhandlungen über den zukünftigen Status. Grundlage war der von Kai Eide
verfasste Bericht, der die Nichterfüllung der auf der Grundlage der UN-
Resolution 1244 und folgender Vereinbarungen zu erreichenden Standards
zwar feststellte, gleichwohl aber eine weitere Verschiebung der Entscheidung
über den Status ablehnte. Kai Eides Fazit lautete: Die Risiken eines weiteren
Wartens – zunehmende politische, wirtschaftliche und soziale Frustration –

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könnten bald weit größer werden als die Risiken, die mit der Klärung des zu-
künftigen Status verbunden wären.

Die Gründe gegen eine weitere Verschiebung gelten bis heute weiter. Defizite
der zu erreichenden Standards bestehen nach wie vor in jeglicher Hinsicht:
wirtschaftliche Stagnation, sehr hohe Arbeitslosigkeit und damit einherge-
hende weit verbreitete Armut. Ein funktionierendes staatliches Sozialsystem
ist praktisch nicht vorhanden. Korruption und organisierte Kriminalität sind
weit verbreitet. Es bestehen Probleme bei der Implementierung eines funk-
tionierenden Justiz- und Verwaltungsapparats. Ungeklärte Eigentumsver-
hältnisse behindern die wirtschaftliche Entwicklung zusätzlich. Mangelndes
Vertrauen der Minderheiten in den Schutz durch staatliche Institutionen er-
schwert die politische Stabilisierung. Die Unruhen vom März 2004 haben ge-
zeigt, dass eine gegen die Minderheiten gerichtete Mobilisierung nicht aus-
zuschließen ist. Die unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung und die seit
sieben Jahren mangelnde Klärung des endgültigen Status des Kosovo werden
von großen Teilen der Bevölkerung den UN angelastet und belasten so die
Autorität der UNMIK.

2. Der Deutsche Bundestag hält eine rasche Entscheidung über den zukünftigen
Status für erforderlich. Der jetzige Status eines UN-Protektorats enthält
wachsendes Konfliktpotential hinsichtlich der Kompetenzen zwischen den
kosovarischen Selbstverwaltungsinstitutionen und der UNMIK. Die fehlende
Statuslösung wird sowohl von kosovo-albanischer wie von serbischer Seite
politisch instrumentalisiert. Dies behindert die Konzentration auf zu lösende
praktische Fragen erheblich und belastet die politische Situation in der Re-
gion. Angesichts der wachsenden Probleme im Kosovo führt die Dominanz
der Status-Frage gleichzeitig zu Stagnation und behindert die weitere Stabi-
lisierung. Außerdem wird mit zunehmender Dauer die Erwartung an die posi-
tiven Auswirkungen einer Eigenständigkeit deutlich überhöht.

Die Geschichte des Konflikts zwischen den Kosovo-Albanern und Jugos-
lawien bzw. Serbien war seit der Regierungsübernahme von Slobodan
Milosevic und der Aufhebung des Autonomie-Statuts des Kosovo 1989 ge-
kennzeichnet von vollständiger Unterdrückung der Albaner und brutaler Ver-
folgung von Widerstand und Protest. Die langjährigen Versuche des späteren
kosovarischen Präsidenten Ibrahim Rugova und der von ihm geführten fried-
lichen Bewegung, internationale Aufmerksamkeit und Engagement für die
Situation im Kosovo zu gewinnen, blieben ohne Erfolg. Erst der gewaltsame
Widerstand der UCK seit 1998 und die darauf folgende massenhafte Vertrei-
bung der Albaner durch die serbischen Sicherheitskräfte zwang die interna-
tionale Gemeinschaft zum Handeln und führte zur Verantwortungsüber-
nahme der UN für das Gebiet. Diese Entwicklung und der gegenwärtige
Status des Gebiets als UN-Protektorat erfordern eine spezifische Lösung, die
nicht mit der Behandlung anderer separatistischer Konflikte gleichzusetzen
ist. Unabhängig von dem Ergebnis der Status-Entscheidung ist das Kosovo
deshalb kein Präzedenzfall für andere Konflikte und kann keine präjudizie-
rende Wirkung haben.

Der nach wie vor offene Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo, die Un-
versöhnlichkeit der jeweiligen Positionen und die innenpolitische Lage so-
wohl in Serbien wie im Kosovo erfordern eine klare völkerrechtliche Tren-
nung zwischen beiden Gebieten. Die Erwartung, eine Autonomie des Kosovo
innerhalb Serbiens könnte zu einer dauerhaften Stabilisierung der Lage füh-
ren, ist unrealistisch.

Gleichzeitig erfordern die Mängel in den kosovarischen Institutionen und die
andauernde Gefahr gewaltsamer Übergriffe auf Angehörige ethnischer Min-

derheiten weiterhin internationale zivile und militärische Präsenz. Eine Un-
abhängigkeit des Kosovo sollte deshalb für eine längere Frist eingeschränkt

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3520

bleiben. Sie ist zudem als ein Übergangsstadium hin zu einem mittelfristigen
Beitritt zur Europäischen Union zu betrachten.

Der Deutsche Bundestag schließt sich der Bewertung des UN-Vermittlers
Martti Ahtisaari an, der zufolge die serbische Regierung während der Ver-
handlungen über den zukünftigen Status des Kosovo keine konstruktive Hal-
tung eingenommen hat. Diese Einschätzung korrespondiert mit der nach wie
vor unzureichenden Kooperation Serbiens mit dem Internationalen Gerichts-
hof zu Jugoslawien, der manipulativen Form der Abhaltung des Verfassungs-
referendums vom 29. Oktober 2006 und der in der Verfassung festgeschrie-
benen Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien. Es hat sich gezeigt, dass keine
Regierung Serbiens willens oder in der Lage ist, den politischen Gegebenhei-
ten nach dem Ende der Kriege um das zerfallende Jugoslawien hinreichend
Rechnung zu tragen. Angesichts der anhaltend stagnierenden Lage im Ko-
sovo und der sich daraus ergebenden Risiken ist eine Rücksichtnahme auf die
anstehenden Wahlen und die darauf folgende Regierungsbildung in Serbien
hinsichtlich der Entscheidung über den Status des Kosovo keine angemes-
sene internationale Reaktion auf die Lage in Serbien. Andauernde Unent-
schiedenheit gibt im Gegenteil nationalistischen Kräften neuen Auftrieb.

Der Deutsche Bundestag befürwortet deshalb eine schnellstmögliche Ent-
scheidung des UN-Sicherheitsrates zur Zukunft des Kosovo. Diese sollte eine
dauerhafte Abtrennung des Kosovo von Serbien in den Grenzen der früheren
Autonomen Republik innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien und eine
eingeschränkte völkerrechtliche Souveränität des Gebietes ermöglichen.

3. Das Kosovo braucht wie der gesamte westliche Balkan für seine dauerhafte
Stabilisierung die klare Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union.
Eine glaubwürdige EU-Perspektive ist conditione sine qua non für die nach-
haltige politische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo.
Gleichzeitig muss die Europäische Union an der Integration einer Region
interessiert sein, die von Mitgliedstaaten der EU umgeben ist. Aufgabe der
EU ist es deshalb, die Klärung des zukünftigen Status des Kosovo politisch
und wirtschaftlich zu begleiten und auf die erfolgte Klärung mit angemes-
senen vertraglichen Beziehungen zu reagieren. Ziel dessen muss sein, die
Unterstützung bei der Umsetzung der Standards von der UN-Verwaltung
UNMIK zu übernehmen und weiterzuentwickeln.

Der Deutsche Bundestag würdigt die bestehenden Hilfeleistungen der EU im
Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses für den westlichen
Balkan, insbesondere innerhalb der Europäischen Partnerschaft für Serbien
und Montenegro, die derzeit das Kosovo gemäß UN-Resolution 1244 ein-
bezieht. Er begrüßt gleichzeitig den bereits angewendeten „SAP Tracking
Mechanism“ als vorbereitenden Dialog zwischen den Selbstverwaltungsins-
titutionen des Kosovo und der EU.

Obwohl die Möglichkeit der Aushandlung eines Stabilisierungs- und Asso-
ziierungsabkommens derzeit noch nicht in Betracht kommt, hat die EU-
Kommission sich 2005 in ihrer Mitteilung „Eine europäische Zukunft des
Kosovo“ bereit erklärt, „kreative Wege zu finden, um sicherzustellen, dass
das Kosovo von allen Instrumenten der EU in vollem Umfang profitiert und
zu gegebener Zeit angemessene vertragliche Beziehungen zur EU aufnehmen
kann“.

Der Deutsche Bundestag begrüßt und bekräftigt die Notwendigkeit vorberei-
tender Maßnahmen der Europäischen Union für eine kontinuierliche Unter-
stützung der Stabilisierung des Kosovo. Er begrüßt in diesem Zusammen-
hang insbesondere die Entscheidung, den Einsatz des EU-Planungsteams
(EUPT Kosovo) für die Verbesserung der Rechtssicherheit um drei Monate

bis 31. März 2007 zu verlängern. Das Gesamtpaket unterstützender Maßnah-

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men ist erforderlich sowohl für den Zeitraum bis zur Klärung des Status als
auch danach. Eine auch nur zeitweilige Reduzierung oder gar Unterbrechung
ist unbedingt zu vermeiden.

Unabhängig von der Klärung des zukünftigen Status stehen ab 2007 hierfür
das Instrument der „Pre-Accession Assistance“ (IPA) – ehemals CARDS –
sowie Mittel des Rats für Zusammenarbeit, der Nachfolge des Stabilitätspak-
tes für Südosteuropa, zur Verfügung.

In diesem Zusammenhang bedauert der Deutsche Bundestag die Halbierung
des deutschen Beitrags zum Stabilitätspakt für Südosteuropa bzw. seine
Nachfolgeeinrichtung, wie sie im Haushaltsplan der Bundesregierung vorge-
sehen ist. Davon betroffen sind auch wichtige Projekte im Kosovo, darunter
der Polizeiaufbau, Kultur- und Hochschulprojekte. Die Reduzierung der Mit-
tel hierfür ist ein falsches politisches Signal und wirkt kontraproduktiv für die
Erfolgsaussichten der langjährigen Bemühungen um Stabilisierung in der ge-
samten Region.

Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwi-
schen der EU und dem Kosovo, das diesem den Status eines Beitrittskandi-
daten gibt, sind unmittelbar nach Klärung des völkerrechtlichen Status des
Kosovo aufzunehmen. Einschränkungen der Souveränität des Kosovo dürfen
die zwischenstaatliche Vertragsfähigkeit deshalb nicht behindern.

4. Das Kosovo unterscheidet sich infolge der Entwicklung der letzten Jahr-
zehnte deutlich von anderen Staaten und Gebieten in der Region. Neben der
Reformierung eines vormals sozialistischen Wirtschaftssystems zu einer sich
selbst tragenden Marktwirtschaft und dem Wiederaufbau eines von Kriegs-
folgen belasteten Landes geht es hier um den Aufbau und die Stabilisierung
eines kompletten staatlichen Verwaltungssystems und insgesamt staatlicher
Strukturen und Institutionen. Die Mehrheitsbevölkerung der Albaner war seit
1989 nicht an den damaligen staatlichen Institutionen beteiligt oder profi-
tierte von ihnen. Dies betrifft nicht nur die Verwaltung sondern auch Schul-
und Hochschulwesen, Gesundheitswesen und große Teile der Wirtschaft. Ein
wesentlicher Teil der Bevölkerung, besonders die Frauen, ist bis heute nicht
in die Erwerbswirtschaft integriert oder partizipiert an den Selbstverwal-
tungsstrukturen. Nach wie vor spielen Subsistenzwirtschaft und Überweisun-
gen von im Ausland lebenden Familienangehörigen eine große Rolle.
UNMIK und die im Aufbau befindlichen Selbstverwaltungsinstitutionen des
Kosovo haben hier bereits viel geleistet. Dennoch sind Wirtschaft und Ver-
waltung noch weit von dauerhafter Funktionsfähigkeit entfernt. Eine Heran-
führung an die Europäische Union muss die Spezifika des Kosovo berück-
sichtigen. Notwendig sind entsprechende Schwerpunktsetzungen und eine
angemessene Ausstattung der dafür verfügbaren Fonds und Institutionen.

Wirtschaftliche Reformen, vor allem im ländlichen Bereich, müssen drin-
gend angegangen werden. Der Aufbau einer sich selbst tragenden Wirtschaft
wird lange dauern. Notwendig dafür sind erhebliche Investitionen, Rechts-
sicherheit, eine ausreichende materielle Infrastruktur und ein effizientes
Schul-, Hochschul- und Berufsbildungswesen. Hierzu gehören notwendige
Aufklärungs- und Förderprogramme für Frauen und Angehörige von Min-
derheiten wie der Roma.

Die bestehenden Defizite beeinträchtigen die Steuereinnahmen und damit die
verfügbaren Haushaltsmittel des Kosovo beträchtlich. Es ist deshalb zu prü-
fen, inwieweit zweckgebundene Haushaltszuwendungen Teil der Hilfeleis-
tungen der EU sein müssen. Zu den Voraussetzungen einer wirtschaftlichen
Entwicklung gehören darüber hinaus die Klärung der Eigentumsverhältnisse,
insbesondere staatlicher serbischer bzw. ehemals jugoslawischer Betriebe,

und ggf. deren Privatisierung.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/3520

Seit Jahrzehnten ist besonders der ländliche Raum im Kosovo, in dem nach
wie vor die meisten Menschen leben, auf zeitweilige Arbeitsmigration ins
Ausland angewiesen. Durch die derzeit rigiden Ausreisebedingungen stag-
niert dieser für die wirtschaftliche Stabilität wichtige Prozess. Zugleich hat
das Kosovo eine der höchsten Geburtenraten in Europa und damit einen er-
heblichen Bevölkerungszuwachs. Die Wirtschaft des Kosovo kann jedoch
auf absehbare Zeit die große Zahl junger unbeschäftigter Menschen nicht ab-
sorbieren. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind gefordert, dieses Problem
anzugehen und eine entsprechende Lösung zu finden. Es droht sonst ein wei-
teres Anwachsen sozialer Spannungen im Kosovo und damit eine Gefähr-
dung des Stabilisierungsprozesses. Daneben erzeugt die gegenwärtige Situa-
tion anhaltende illegale Migration und Menschenhandel. Organisierte
Kriminalität und Korruption spielen noch immer eine große Rolle. Neben
dem Aufbau von wirtschaftlichen Alternativen ist deshalb die weitere Unter-
stützung der Polizei und des Justizsystems dringend notwendig.

Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem Zusammenhang die Beteiligung
Deutschlands an der UNMIK mit gegenwärtig ca. 190 Polizisten. Die Unter-
stützung bei allen präventiven und repressiven Polizeiaufgaben einschließ-
lich grenzpolizeilicher Aufgaben sowie die Rekrutierung und Ausbildung
kosovarischer Polizisten ist ein wesentlicher Bestandteil des Stabilisierungs-
prozesses und muss dies auch weiterhin bleiben.

5. Ein erhebliches Problem ist die Lage der ethnischen Minderheiten. Der Ent-
scheidungsprozess zur Klärung des Status und besonders die damit verbun-
denen verfassungsrechtlichen Kriterien und ihre rechtlichen Folgen haben er-
hebliche Bedeutung für sie und ihre zukünftige Situation. Während die Ser-
ben derzeit faktisch durch die Republik Serbien politisch vertreten werden,
haben andere Minderheiten wie die Roma, Ashkali und Ägypter keine politi-
sche Vertretung und sind daher auf den guten Willen der Mehrheit, der Ver-
waltungsinstitutionen und der diese kontrollierenden UNMIK angewiesen.
Ein demokratischer, multiethnischer Staat muss die Rechte der Minderheiten
unabhängig hiervon sichern. Eine stabile Demokratie zeigt sich im Umgang
mit ihren Minderheiten.

Besonders im Rahmen der Verhandlungen um eine Dezentralisierung des
Kosovo liegt eine Chance, die multiethnische Gesellschaft des Kosovo zu
stärken. Zur Einbeziehung der Minderheiten in den Verhandlungsprozess
wurde ein „Communities Consultive Council“ gegründet. Es ist darauf zu
achten, dass diese ihre Funktion erfüllen und das dafür notwendige Vertrauen
der Minderheiten aufgebaut wird.

Die Europäische Kommission weist seit langem in ihren Fortschrittsberich-
ten zu Serbien und Montenegro bzw. zum Kosovo auf die nach wie vor pre-
käre Lage der Minderheiten, insbesondere Serben und Roma, hin. Zur glei-
chen Einschätzung kommt der UNHCR, zuletzt im Juni 2006. So sind
Angehörige ethnischer Minderheiten gravierenden Hindernissen beim Zu-
gang zu grundlegenden Dienstleistungen in den Bereichen des Gesundheits-
wesens, des Schulwesens, der Justiz und der öffentlichen Verwaltung ausge-
setzt. Die stark verbreiteten Vorurteile gegenüber Roma behindern die
Neuansiedlung von Roma. Viele Roma-Flüchtlinge sind, auch aufgrund ihrer
prekären wirtschaftlichen und sozialen Situation, gezwungen, in illegalen
Siedlungen unter unzumutbaren Bedingungen zu leben. Viele Angehörige
der Kosovo-Roma sowie einige Kosovo-Serben besitzen aufgrund bürokra-
tischer Schwierigkeiten und mangelnder Anwendung geltender Rechtsvor-
schriften keine Personenstandsdokumente. Durch das Fehlen entsprechender
Papiere bleiben diesen Menschen elementare Menschenrechte verwehrt. Der

UNHCR konstatiert ein anhaltendes Verfolgungsrisiko für Angehörige von
Minderheiten und lehnt weiterhin eine Abschiebung aus ihren Zufluchtsstaa-

Drucksache 16/3520 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

ten ab. Das Gleiche gilt für Flüchtlinge aus dem Kosovo in Serbien bzw. für
eine Abschiebung nach Serbien.

Ein besonders gravierender Fall sind die unter Leitung der UNMIK stehen-
den Flüchtlingslager im Norden der Region Mitrovica. Die Lebensumstände
der Roma in diesen Flüchtlingslagern sind ein Skandal. Neben unzumutbaren
sanitären Bedingungen sind die Lager und ihre Umgebung durch eine gefähr-
liche Bleibelastung gekennzeichnet. Diese Gefahr ist auch im Fall des mit
Hilfe Deutschlands sanierten ehemaligen KFOR-Camps Osterode nicht aus-
zuschließen, da es in unmittelbarer Nachbarschaft zum bisherigen, schwer
belasteten Lager und einer stillgelegten Bleimine liegt. Dorthin wurden be-
reits einige Familien umgesiedelt. Ein Aufenthalt in Flüchtlingslagern darf
generell nicht zum Dauerzustand werden. Eine verantwortbare Lösung kann
nur die Rücksiedlung der Menschen in ihre Heimat sein.

Insbesondere die Roma bedürfen Unterstützung bei der Integration in die Ge-
sellschaft. Hierzu sind vor allem Maßnahmen zum Abbau von Vorurteilen so-
wie Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen erforderlich. Die Europäische
Kommission hat in all ihren Berichten zukünftige Beitrittsländer aufgefor-
dert, entsprechende Strategien zu entwickeln. Im Unterschied zu allen ost-
und mitteleuropäischen Staaten fehlen seitens der EU für das Kosovo ein
nationaler Aktionsplan oder ein Rahmenprogramm für die Verbesserung der
Situation der Roma. Serbien als gegenwärtiger Vertragspartner bezieht trotz
Beteiligung an der u. a. von EU und Europarat initiierten „Dekade der Roma“
die entsprechenden Aktivitäten nicht auf das Kosovo. Die EU muss deshalb
dringend auch für das Kosovo entsprechende Maßnahmen fördern und unter-
stützen.

Wie in allen ehemaligen Kriegsgebieten des früheren Jugoslawien erfordert
der Neuaufbau einer multiethnischen Gesellschaft eine politische, aber auch
strafrechtliche Aufarbeitung. Mord, Gewalt, Massenvergewaltigungen, Fol-
ter und andere Verbrechen wurden in den Jahren 1999 und 2000 dokumen-
tiert, bis heute aber kaum strafrechtlich verfolgt. Ähnliches gilt für die Straf-
taten im März 2004. Neben Ineffektivität von Justiz und Polizei ist dies nach
Einschätzung von Amnesty International auf bewussten Verzicht auf Verfol-
gung zurückzuführen, besonders bei Straftaten gegen Angehörige von Min-
derheiten.

Ähnliche Defizite sind beim Internationalen Gerichtshof für das ehemalige
Jugoslawien (ICTY) zu verzeichnen. Mit Ausnahme des Verfahrens gegen
Ramush Haradinaj und andere, das am 4. März 2005 zur Anklage führte, sind
bisher keine Anklagen erhoben worden. Da der ICTY seine Arbeit bis 2008
einstellen will und die Anklagebehörde angekündigt hat, keine neuen Unter-
suchungen mehr vorzunehmen, wird es möglicherweise bei diesem einzigen
Verfahren beim ICTY zu Straftaten bleiben, dessen Opfer Angehörige von
Minderheiten im Kosovo waren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● sich im Rahmen der Kontaktgruppe, der Europäischen Union und der UN für
eine unverzügliche Klärung des zukünftigen völkerrrechtlichen Status des
Kosovo im Sinne seiner Unabhängigkeit bei eingeschränkter Souveränität
einzusetzen,

● angesichts der unvereinbaren Positionen Serbiens und des Kosovo sowie der
gravierenden politischen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Defizite
im Kosovo auf Einschränkungen der Souveränität des Kosovo zu drängen,
um die Spannungen in der Region zu begrenzen und weiterhin eine hinrei-

chende zivile und militärische internationale Begleitung des Stabilisierungs-
prozesses im Kosovo zu ermöglichen,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/3520

● einer möglichen Teilung des Kosovo sowie einer möglichen Abspaltungs-
forderung der Republika Srpska, wie sie aus Serbien ins Gespräch gebracht
wurden, nicht zuzustimmen,

● sich im Rahmen von UNMIK für die Erarbeitung einer Verfassung des
Kosovo einzusetzen, die vollständig den Standards der Europäischen Union
entspricht, insbesondere im Bereich der Minderheitenrechte,

● sich im Rahmen der Europäischen Union für die sofortige Aufnahme von
Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit
dem Kosovo nach Klärung des Status einzusetzen,

● sich für eine begleitende Einbeziehung von Minderheiten in den Verhand-
lungsprozess über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen einzu-
setzen,

● die bestehende Europäische Partnerschaft mit dem Kosovo auszubauen,

● den deutschen Beitrag für die Programme der EU und des Stabilitätspaktes
für Südosteuropa bzw. des Rates für Zusammenarbeit den Erfordernissen des
Kosovo entsprechend auszubauen bzw. beizubehalten,

● in der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass die zivile Präsenz der
EU entsprechend den Erfordernissen des Kosovo garantiert ist,

● den deutschen Beitrag zur militärischen Präsenz im Rahmen von KFOR bzw.
dessen Nachfolgemandat entsprechend den Erfordernissen der Sicherheit
innerhalb des Kosovo und an seinen Grenzen zu gewährleisten,

● sich im Rahmen der EU für eine ausreichende, auch personelle Unterstützung
von Polizei und Justiz im Kosovo einzusetzen und sich in Deutschland bei der
Innenministerkonferenz für einen entsprechenden deutschen Beitrag bzw.
dessen Aufrechterhaltung einzusetzen,

● innerhalb der Unterstützungsprogramme für das Kosovo auf eine besondere
Förderung der Frauen und der Angehörigen von Minderheiten hinsichtlich
Bildung und Ausbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu staatlichen
Institutionen sowie Partizipation am politischen Willensbildungsprozess zu
drängen,

● Möglichkeiten für Investitionserleichterungen für deutsche Unternehmen im
Kosovo zu prüfen, um so den wirtschaftlichen Aufbau zu beschleunigen,

● im Rahmen der Europäischen Union die zeitlich begrenzte Notwendigkeit
von Haushaltszuschüssen für das Kosovo zu prüfen bzw. im erforderlichen
Umfang zu ermöglichen,

● sich im EU-Ministerrat für einen schnellen Abschluss der am 30. November
2006 beginnenden Visaverhandlungen sowie dafür einzusetzen, dass junge
Kosovaren reisen und an allen EU-Programmen zum Studienaustausch teil-
nehmen können,

● auf Abschiebungen von Angehörigen von Minderheiten aus dem Kosovo
sowohl dorthin als auch nach Serbien zu verzichten,

● sich bilateral sowie im Rahmen der EU für eine prioritäre Unterstützung des
Wiederaufbaus der zerstörten Häuser und Siedlungen von Roma einzusetzen.

Berlin, den 22. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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