BT-Drucksache 16/3366

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung -16/3150, 16/3321- Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

Vom 8. November 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3366
16. Wahlperiode 08. 11. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid,
Kai Gehring, Britta Haßelmann, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln),
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Renate Künast,
Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/3150, 16/3321 –

Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der
Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die
USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des
Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373
(2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Information und Evaluation

Fünf Jahre nach dem 11. September 2001 bleibt die Bundesregierung eine
Antwort schuldig, was die Operation Enduring Freedom an Erfolgen und
Misserfolgen aufzuweisen hat, und warum sie unter den heutigen Rahmen-
bedingungen fortgesetzt werden soll. Dabei ist die Bundesregierung einer
Kernforderung des Deutschen Bundestages nicht nachgekommen. In der Pro-
tokollnotiz vom November 2001, die Bestandteil des Antrags der Bundes-
regierung ist, heißt es:

„Die Bundesregierung sichert dem Deutschen Bundestag und den beteiligten
Ausschüssen kontinuierliche Unterrichtung über alle den Einsatz bewaffneter
deutscher Streitkräfte im Rahmen dieses Mandats betreffende Fragen zu.
Spätestens nach der Hälfte des in Ziffer 4 des Antrags der Bundesregierung
genannten Zeitraums wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag
einen bilanzierenden Gesamtbericht über den Einsatz der bewaffneten deut-

schen Streitkräfte vorlegen.“

Auch das Parlamentsbeteiligungsgesetz vom März 2005, sieht analog der
niederländischen Berichts- und Evaluationspraxis, eine kontinuierliche und
systematische Unterrichtung des Deutschen Bundestages vor. In der Begrün-
dung (Bundestagsdrucksache 15/2742) zum § 6 fordert der Gesetzgeber die
Bundesregierung auf:

Drucksache 16/3366 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

„Sie soll darüber hinaus dem Deutschen Bundestag jährlich einen bilanzie-
renden Gesamtbericht über den jeweiligen Einsatz bewaffneter Streitkräfte
und die politische Entwicklung im Einsatzgebiet vorlegen. … Die Bundes-
regierung soll nach Beendigung des Einsatzes einen Evaluierungsbericht
erstellen, der sowohl die militärischen als auch die politischen Aspekte des
Einsatzes darstellt und bewertet.“

Die Bundesregierung hat diese Zusicherungen nicht eingehalten. Auch an-
dere Berichts- und Unterrichtungsanfragen wurden nicht oder nur lückenhaft
beantwortet. Damit hat die Bundesregierung eine wesentliche Grundvoraus-
setzung für die parlamentarische Zustimmung verletzt. Wenn die Bundes-
regierung in ihrem Antrag ankündigt, den Deutschen Bundestag „entspre-
chend bisheriger Praxis regelmäßig über Einsätze auf Grund des Mandats zu
unterrichten“ ist das vor dem Hintergrund der bisherigen Unterrichtungs-
praxis nicht vertrauensweckend.

Die Ankündigung, mit den Fraktionsvorsitzenden ein Unterrichtungsverfahren
für den Einsatz von Spezialkräften abzustimmen, ist grundsätzlich zu begrü-
ßen. Das bisherige Verfahren wird der Kontrollaufgabe des Parlaments insge-
samt nicht gerecht. Es muss, außer zum Schutz anstehender oder laufender
Operationen eine größtmögliche Transparenz und Öffentlichkeit geben. Der
Deutsche Bundestag muss die Möglichkeit haben auch eigeninitiativ und direkt
Spezialkräfte zu kontrollieren. Ein Stellvertretergremium, das außer erweiter-
ten Untersuchungsrechten auch mit einer Entsendebefugnis ausgestattet ist, ist
abzulehnen. Nach Abschluss von Einsätzen müssen Bundestag und Öffentlich-
keit, wie in den Niederlanden, schriftlich über den Einsatz unterrichtet werden.

2. Militärische Mittel im Kampf gegen den Internationalen Terrorismus weiter-
hin notwendig

Die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch Netzwerke und Akteure
des internationalen Terrorismus ist noch nicht gebannt. Terroristische und
radikalislamistische bewaffnete Gruppen und ihre Unterstützer wie Taliban,
Al Qaida und Heckmatyar werden auch weiterhin mit militärischen Mitteln
bekämpft werden müssen. Der Irakkrieg gab dem internationalen Terroris-
mus erheblichen Auftrieb. Er hat dazu beigetragen, dass improvisierte
Sprengfallen und Selbstmordattentate in Afghanistan – auch im vermeintlich
ruhigeren Norden – zunehmen. Vor allem in den Südostprovinzen, dem
Haupteinsatzgebiet der Operation Enduring Freedom (OEF), ist es von Pakis-
tan her zu einer Reorganisation und Stärkung bewaffneter Kräfte gekommen.
Das Ziel, die Bevölkerung gegen das militärische und zivile Engagement der
internationalen Gemeinschaft in Afghanistan aufzubringen und einen Abzug
zu erzwingen, gefährdet den fragilen Aufbauprozess in Afghanistan.

Schlüssel für eine erfolgreiche Terrorbekämpfung ist die strategische Zusam-
menarbeit mit Pakistan. Ziel muss es sein, den Nachschub für die Terrorgrup-
pierungen aus Pakistan einzudämmen. Die pakistanische Regierung muss mit
politischen Konzepten international dabei unterstützt werden, das staatliche
Gewaltmonopol auch in der Grenzregion durchzusetzen.

3. Völkerrecht und Military Commissions Act

Der zielgerichtete Einsatz militärischer Mittel ist sowohl zur Eindämmung
terroristischer Gefahren (Stabilisierungs- und Überwachungseinsätze) wie
auch zur direkten Bekämpfung terroristischer Gruppen und Infrastruktur wei-
terhin notwendig. Er darf aber nur eine unterstützende und nie eine primäre
Rolle spielen. Terrorbekämpfung muss sich dabei strikt an die Normen der
Menschenrechte und des Völkerrechts halten. Die Missachtung des Völker-

rechts zerstört die Glaubwürdigkeit und Legitimation von Terrorbekämpfung
und beeinträchtigt ihre politische Wirksamkeit.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/3366

Mit dem Inkrafttreten des Military Commissions Act im Oktober 2006 wird
der US-Armee die uneingeschränkte willkürliche Verhaftung von Terror-
verdächtigen sowie die Anwendung folterähnlicher Verhörmethoden erlaubt.
Dem US-Präsidenten wird das Recht eingeräumt, „Inhalt und Anwendung
der Genfer Konvention“ zu interpretieren. Unter diesen Bedingungen ist ein
erneuter Einsatz deutscher KSK-Soldaten zur Unterstützung von OEF-Kräf-
ten nicht vorstellbar.

4. Operationsführung OEF

Die OEF-Mission ist in der gegenwärtigen Form immer weniger zielführend
und verantwortbar. Die Möglichkeiten Deutschlands, diese Art der Terroris-
musbekämpfung zu beeinflussen sind begrenzt. Die Bekämpfung des
internationalen Terrorismus ist nur dann aussichtsreich, wenn die direkte
Verfolgung mutmaßlicher Täter und Unterstützer, Gefahrenabwehr und Maß-
nahmen zur Austrocknung des Nährbodens für internationalen Terrorismus
Hand in Hand gehen und nicht einander zuwiderlaufen. Notwendig ist ein
Gesamtansatz von militärischen und politischen, polizeilichen, nachrichten-
dienstlichen, entwicklungs- wie kulturpolitischen und anderen Mitteln.

Aussagen von zivilen und militärischen Afghanistan-Experten und afghani-
schen Parlamentarierinnen ergeben übereinstimmend die Bewertung, dass
OEF/Afghanistan durch die Art und Weise des Auftretens gegenüber der Zivil-
bevölkerung und durch die Art und Weise einer Operationsführung, die immer
wieder unverhältnismäßig agiert und wenig Rücksicht auf zivile Opfer nimmt,
mehr zur Eskalation von Hass und Gewalt beiträgt als zur Eindämmung von
Terrorismus und seines Nährbodens. Dass sich die einzelnen Attacken der
„Oppositionellen Kräfte“ in den Südprovinzen von einer „Patt-Situation“ im
Vorjahr zu einem regelrechten Aufstand in diesem Jahr entwickelt haben, wird
in erheblichem Maße auch der Operationsführung von OEF zugeschrieben

5. ISAF-Ausweitung

Der Deutsche Bundestag hat sich zu Recht vor wenigen Wochen für eine Ver-
längerung des ISAF-Einsatzes in Afghanistan ausgesprochen. Unter der Füh-
rung der NATO leistet die Bundeswehr dabei einen wichtigen Beitrag zur
Stabilisierung Afghanistans und zur Terrorismusprävention. In den vergange-
nen zwölf Monaten hat sich die Lage in Afghanistan in mehrfacher Hinsicht
erheblich geändert. Nach der West-, Süd- und Osterweiterung ist die NATO-
geführte und VN-mandatierte Unterstützungstruppe ISAF inzwischen in
ganz Afghanistan aktiv und stationiert. Ihre Kräfte wurden mehr als verdrei-
facht auf ca. 30 000 Soldatinnen und Soldaten, davon ca. 11 000 US-Trup-
pen. Viele zentrale Unterstützungsleistungen (Evakuierung, Luftnahunter-
stützung), die früher von OEF für ISAF bereitgestellt wurden, werden nun
auch von ISAF selbst gestellt. ISAF selbst führt heute auch, wie zuletzt im
Süden, massive Militäreinsätze zur Aufstandsbekämpfung durch. Es stellt
sich die Frage, ob ein Nebeneinander von zwei Operationen in Afghanistan
in Zukunft noch sinnvoll ist. Die „Exterritorialität“ von OEF steht in einem
immer deutlicheren Widerspruch zum Anspruch der „Afghan Ownership“,
wie sie von der Londoner Konferenz mit dem Afghanistan Compact Anfang
des Jahres betont und bekräftigt wurde.

6. Deutscher Beitrag zur OEF-Mission

Zur militärischen Bekämpfung des internationalen Terrorismus hat die
Bundesrepublik Deutschland in den zurückliegenden Jahren durch die Be-
reitstellung von


Lufttransport-, Sanitäts- und Unterstützungskräften,

● Marinekräften zur Überwachung des Seeraums am Horn von Afrika,

Drucksache 16/3366 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● bis zu 100 Spezialsoldaten (Kommando Spezialkräfte/KSK) für OEF/
Afghanistan

beigetragen. Die Obergrenzen von 3 900, bzw. zuletzt 2 800 Soldaten wurden
nie ausgeschöpft. Auch die geplante Obergrenze von 1 800 Soldatinnen und
Soldaten, davon 1 100 Seestreitkräfte, liegt weit über den ca. 300 bis 350 Sol-
datinnen und Soldaten, die im vergangenen Jahr im Einsatz waren. Dabei
handelte es sich ausschließlich um Marinekräfte am Horn von Afrika. Hier
war die Bundeswehr fünf Jahre ununterbrochen im Einsatz. Die hohen Zah-
len sollen, so die Bundesregierung, „unseren Partnern das bündnisgerechte
hohe militärische Engagement Deutschlands bei der Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus“ demonstrieren. Mit dem UNIFIL-Einsatz hat die
Marine einen weiteren demonstrativen Großauftrag erhalten, der bis zu 1 500
Seestreitkräfte längerfristig bindet. Darüber hinaus ist die Marine phasen-
weise in der Operation Active Endeavour, der maritimen NATO Response
Force und den maritimen EU-Battlegroups durch weitere Zusagen belastet.
Angesichts einer erkennbaren Verschiebung des Aufgabenschwerpunkts in
Richtung allgemeiner Sicherung der Seewege, gilt es zu prüfen, ob diese
Sicherung durch ein anderes Mandat gewährleistet werden sollte.

7. Federführung Polizeiaufbau

Für den Übergang von extern durch ISAF gestützter Sicherheit zu selbst
tragender Sicherheit ist u. a. der Aufbau einer funktionsfähigen Polizei und
Justiz von strategischer Bedeutung. Als Lead-Nation hat Deutschland mit
relativ geringen Kräften (zz. 40 Polizeibeamte) qualitativ hervorragende Bei-
träge geleistet. Um diese Qualität auch schneller in die Breite zu bringen und
gegenüber den vielfach höheren, aber qualitativ fragwürdigen Beiträgen ande-
rer Partner behaupten zu können, sollte das deutsche Kontingent an Polizei-
beratern deutlich aufgestockt und in eine EU-Polizeimission überführt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. der Unterrichtungs- und Evaluierungspflicht für den Einsatz bewaffneter
Streitkräfte, einschließlich des Einsatzes von Spezialkräften, unverzüglich
und umfassend nachzukommen und unverzüglich eine bewertende Zwi-
schenbilanz zu fünf Jahren OEF als Gesamtoperation und der deutschen Be-
teiligung daran vorzulegen;

2. gemeinsam mit Partnern in der EU politisch darauf hinzuwirken, dass die
pakistanische Regierung das staatliche Gewaltmonopol in der Grenzregion
effektiver durchsetzt;

3. die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Kriegsvölkerrechts
zu einem entscheidenden Maßstab von Auslandseinsätzen zu machen und in
der Bundeswehr und gegenüber den Partnernationen darauf zu drängen, dass
dieser Maßstab in die Praxis umgesetzt wird;

4. sich im Rahmen der NATO für eine ISAF-Strategie einzusetzen, das Ver-
trauen der Menschen in Afghanistan zurückgewinnt;

5. die deutschen personellen und finanziellen Beiträge zum Polizeiaufbau deut-
lich aufzustocken und in der EU auf eine Polizeimission der ESVP für Afgha-
nistan hinzuwirken.

Berlin, den 8. November 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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