BT-Drucksache 16/2778

zu der dritten Beratung des Antrags der Bundesregierung -16/2573, 16/2774- Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Vom 27. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2778
16. Wahlperiode 27. 09. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln),
Alexander Bonde, Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der dritten Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/2573, 16/2774 –

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001
1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003)
vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom
13. September 2005 und 1707(2006) vom 12. September 2006 des Sicherheits-
rates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit Ende 2001 engagiert sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der
internationalen Gemeinschaft in herausragender Weise für den Wiederaufbau
und den Friedensprozess in Afghanistan. Der sehr schwierige Stabilisierungs-
prozess kann heute durchaus Ergebnisse aufweisen – etwa den Abschluss des
Bonn-Prozesses mit der Erarbeitung und Inkraftsetzung einer neuen Verfassung.
Mit ca. 7 Millionen Schülerinnen und Schülern besuchen mehr Kinder in Afgha-
nistan Schulen als jemals zuvor. Aber der Aufbauprozess, der von Beginn an un-
terschiedlich erfolgreich war, ist in diesem Jahr insgesamt ins Stocken geraten.
Nach erheblichen Rückschlägen ist er ohne eine Strategieänderung vom Schei-
tern bedroht.

Dabei muss unterschieden werden zwischen dem vergleichsweise stabileren
Norden des Landes, wo eine Reihe von Entwicklungsprojekten etabliert und in-

frastrukturelle Maßnahmen umgesetzt werden konnten, und dem Süden und Os-
ten.

Die Kämpfe im Süden haben inzwischen das Ausmaß eines regelrechten
Krieges angenommen. ISAF-Truppen (ISAF: International Security Assistance
Force) der NATO sind dort fast täglich in Kampfhandlungen verwickelt, bei
denen mehr und mehr Opfer zu beklagen sind. Zahl und Raffinesse der An-
schläge nehmen landesweit und auch im ruhigeren Norden zu. Dabei sind immer

Drucksache 16/2778 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

öfter Schulen das Ziel. Die Drogenanbaufläche ist in diesem Jahr um 59 Prozent
gegenüber 2005 ausgeweitet worden. Enttäuschung und Frustration über die in
der Bevölkerung als zunehmend isoliert und untätig empfundene Zentralregie-
rung breiten sich aus. Auch die bisher von der Bevölkerung respektierte ISAF
droht immer weniger als Sicherheitsunterstützungstruppe und immer mehr als
Besatzungstruppe wahrgenommen zu werden. Die Umsetzung der immer wie-
der geforderten Zusammenlegung von ISAF und OEF (Operation Enduring
Freedom) würde diese Gefahr noch beträchtlich erhöhen.

Nach anfänglichen Erfolgen ist der Fortschritt bei Stabilisierung und Wiederauf-
bau in Teilen des Landes gestoppt oder gar nicht erst eingetreten. Dies betrifft
besonders den Süden und Osten. Die als Besatzung empfundenen Kräfte der OEF
haben es nicht vermocht, Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, das Wie-
dererstarken der Taliban zu verhindern und die Kontrolle über diese Landesteile
herzustellen. Dazu trägt die vielfach kontraproduktive militärische Terror-
bekämpfung durch die Truppen der OEF bei. Die Einbindung der ISAF in die
militärische Konfrontation, der Mangel an Erfolgen beim Kampf gegen die
Taliban und die Drogenbanden sowie der zunehmende Rückhalt der Taliban in
der ländlichen Bevölkerung führen zu wachsenden Frustrationen bei der ISAF.
Es besteht die Gefahr, in die aussichtslose Situation eines permanenten Gue-
rillakrieges zu geraten. Diese negativen Entwicklungen können dazu beitragen,
dass die Entsendestaaten sich aufgrund sinkender Akzeptanz des Einsatzes in
ihren Gesellschaften genötigt sehen könnten, ihr Engagement in Afghanistan
einzuschränken und schließlich aufzugeben.

Die größten Probleme in Afghanistan sind nach unseren Kenntnissen:

● Der scheinbar alternativlos lukrative Mohnanbau und die davon profitieren-
den regionalen Herrscher und deren Milizen, die entweder die administrati-
ven Strukturen infiltrieren oder bekämpfen. Der Mohnanbau wird nach Ein-
schätzung von Fachleuten und Beobachtern vollkommen erfolglos bekämpft,
wirksame Alternativen für die Bauern fehlen.

● Das Wiedererstarken der Taliban, die über ein enormes Personal- bzw. Rek-
rutierungsreservoir innerhalb Afghanistans und vor allem im angrenzenden
Pakistan verfügen. Mit dem Einrücken der ISAF in den Süden und Osten
wird auch diese massiv militärisch mit den Taliban sowie anderen bewaffne-
ten Kräften konfrontiert, deren Nachschub aus den angrenzenden Stammes-
gebieten in Pakistan kommt.

● Wachsende Frustration der Bevölkerung wegen des im Vergleich zum Beginn
des Wiederaufbaus und den damaligen Erwartungen zu langsamen Fort-
schritts in Wirtschaft und Wohlstand. Nach Einschätzung von Experten hat
die internationale Gemeinschaft im Aufbauprozess traditionelle lokale Struk-
turen und Wertesysteme nicht ausreichend berücksichtigt.

Eine Wende in der Entwicklung ist mit den derzeitigen Konzepten und Politik-
ansätzen nicht absehbar. Mit einer bloßen Aufstockung der Truppen wäre der
Krieg gegen die Taliban und andere bewaffnete Gruppen nicht zu gewinnen. Sie
wäre vermutlich angesichts der wachsenden Risiken auch in den Entsendestaa-
ten nicht durchsetzbar. Eine Beendigung des Engagements jedoch wäre keine
akzeptable Entscheidung aus drei Gründen:

● Ein sich selbst überlassenes Afghanistan wäre akut von einer Rückeroberung
durch die Taliban bedroht, wodurch die Erfolge des Wiederaufbauprozesses
und staatlichen Strukturen beseitigt und Afghanistan wie vor dem Sturz der
Taliban 2001 erneut zu einer fundamentalistischen Diktatur würde.

● Das Gebiet beiderseits der afghanisch-pakistanischen Grenze oder ganz
Afghanistan ist oder würde wieder zur Basis des Terrors, zu dessen Bekämp-

fung die Taliban gestürzt wurden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2778

● Für die Menschen in Afghanistan wäre ein Rückzug eine Katastrophe, für die
internationale Gemeinschaft eine strategische Niederlage. Er würde zu einem
Anstieg der Gewalt in Afghanistan sowie zu einer Stärkung antiwestlicher
Tendenzen, terroristischer Netzwerke und gewaltbereiter Fundamentalisten
in der Region führen. Ein Rückzug würde damit auch zum Sicherheitsrisiko
für die europäischen Länder, die derzeit Truppen in Afghanistan stellen.

Es besteht deshalb die Notwendigkeit, die bisherigen Vorgehensweisen bei der
Umsetzung der Konzepte für die Stabilisierung des Landes zu überprüfen und
zu korrigieren. Dies betrifft hauptsächlich die drei genannten Kernprobleme, die
sich teilweise auch gegenseitig bedingen und verstärken.

Drogenwirtschaft

Anstelle der offensichtlich erfolglosen und für das Verhältnis der Bevölkerung
zur internationalen Gemeinschaft kontraproduktiven Vernichtungsversuche von
Mohnanbaugebieten sollten im großen Stil Programme entwickelt werden, die
aus Anreizen und Marktförderung für alternativen Anbau bestehen. Ziele dieser
Programme sind die Austrocknung der Drogenherstellung und der damit
verbundenen Folgen in Afghanistan und darüber hinaus sowie die Förderung
eines diversifizierten Inlandsmarktes zur Selbstversorgung. Dabei müssen auch
unkonventionelle Methoden wie z. B. ein Aufkauf der Mohnernte durch die
internationale Gemeinschaft eruiert werden. Wir brauchen ein Konzept für den
Anbau von Nahrungsmitteln, deren Verarbeitung und Lagerung, damit ein funk-
tionierender Markt aufgebaut wird. Darüber hinaus brauchen wir eine interna-
tionale Politik, die langfristig das Austrocknen der illegalen Drogenmärkte zum
Ziel hat.

Zugleich dürfen Hilfslieferungen an Lebensmitteln aus dem Ausland den sich
entwickelnden Inlandsmarkt nicht stören. Die Vernichtung von Mohnfeldern
muss ausgesetzt werden, solange kein Konzept zum Lebensmittelanbau für die
Bauern besteht.

Taliban und internationaler Terrorismus

Eine Hauptquelle der Rekrutierung der Taliban sind die fundamentalistischen
Koranschulen in Pakistan. Um dem Abwandern afghanischer Schüler nach
Pakistan und ihrer Radikalisierung vorzubeugen, muss der afghanische Staat in
die Lage versetzt werden, eine staatlich geförderte religiöse Ausbildung im Land
anzubieten. Daneben bleibt Pakistan ein Schlüssel zur Bekämpfung des Terro-
rismus in Afghanistan. Diese Erkenntnis muss Grundlage für Konzepte zu seiner
Eindämmung sein.

Die pakistanische Regierung ist sowohl politisch als auch militärisch zu
schwach, um das Land und besonders die Stammesgebiete zu kontrollieren. Ein
Erfolg von ISAF und OEF in Afghanistan ohne strategische Zusammenarbeit
mit Pakistan ist unmöglich. Deshalb müssen auf internationaler Ebene für die
Terrorbekämpfung dringend politische Konzepte ungesetzt werden, die auf
einen Stopp des ideologischen und logistischen Nachschubs für die Taliban aus-
gerichtet sind und die pakistanische Regierung in die Lage versetzen, das staat-
liche Gewaltmonopol auch in der Grenzregion durchzusetzen.

Wiederaufbau

Der Aufbauprozess von Infrastruktur, Wirtschaft, Bildungs- und Gesundheits-
wesen steht im Mittelpunkt der Bemühungen um eine Stabilisierung und Befrie-
dung Afghanistans. Sein Tempo ist entscheidend für die Akzeptanz der interna-
tionalen Gemeinschaft in der Bevölkerung. Deshalb muss das Konzept der Pro-
vincial Reconstruction Teams (PRT) evaluiert werden, um es wirksamer zu

machen. Eine weitere Ausdehnung in die ländlichen Gebiete über die Provinz-
zentren hinaus unter der Maßgabe einer zivil-militärischen Zusammenarbeit,

Drucksache 16/2778 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

wie sie bisher in den deutschen PRTs erfolgt, ist notwendig, besonders in den
bisher vernachlässigten Teilen des Landes. Die Aufnahmefähigkeit und Akzep-
tanz für Wiederaufbauprojekte muss verbessert werden. Dies könnte durch eine
stärkere Einbindung und Kooperation mit religiösen Gelehrten und Stammes-
autoritäten erreicht werden. Nicht zuletzt sichtbare Erfolge sind für die Bereit-
schaft der Bevölkerung zu Engagement und Kooperation notwendig.

Die notwendige und geforderte Übernahme afghanischer Eigenverantwortung,
die Stärkung lokaler Strukturen und Institutionen muss dabei begleitet werden
von der Verhinderung von Korruption bzw. ihrer Bekämpfung. Die dafür nötige
Verstärkung der finanziellen Mittel und der personellen Kapazitäten, besonders
der Polizeikräfte, muss von der internationalen Gemeinschaft als notwendiges
Engagement akzeptiert werden. Die hervorragenden Beiträge zur alltäglichen
Sicherheit, die das internationale Polizeiprojekt bereits leistet, können auf Dauer
nur ausreichend wirksam werden, wenn dieser Teil des Stabilisierungsprozesses
personell und finanziell erheblich verstärkt wird. Der Law and Order Trust Fund
for Afghanistan (LOTFA) zur Finanzierung von Gehältern der afghanischen
Polizei ist immer noch unterfinanziert. Der von Deutschland als sog. lead nation
initiierte Doha-Prozess zum Aufbau eines modernen Grenzmanagements zwi-
schen Afghanistan und den Anrainerstaaten muss weiter vorangetrieben werden.

Die Intensität und Geschwindigkeit der Implementierung von menschenrecht-
lichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Standards und Institutionen muss
sich an den in der afghanischen Gesellschaft verwurzelten Traditionen und Wer-
ten orientieren. Diese Ausgangslage erfordert behutsames Vorgehen, wenn-
gleich das Ziel der Vereinbarkeit mit dem universellen Menschenrechtskanon
nicht in Frage gestellt werden darf. Die Eigenverantwortung der afghanischen
Gesellschaft ist der Maßstab, an dem der Erfolg dieser Bemühungen gemessen
werden muss. Dazu müssen Prioritäten gesetzt werden: öffentliche Sicherheit,
Fortschritte in Bildung und Gesundheitswesen, Förderung von Frauenrechten.
Die Hilfeleistungen der internationalen Gemeinschaft müssen anhand dieser
Prioritäten überprüft und ggf. gezielter eingesetzt werden. Ebenso müssen die
kommunikativen Instrumentarien und der Umgang mit den gesellschaftlichen
Akteuren auf ihre Dialog- und Anpassungsfähigkeit an die gesellschaftlichen
Bedürfnisse überprüft werden. Ausgangspunkt für eine derartige Evaluierung
könnte eine internationale Konferenz mit entwicklungs-, menschenrechts- und
kulturpolitischen Experten über den Dialog mit islamischen Akteuren in Afgha-
nistan sein, deren Ergebnisse Grundlage einer Neujustierung der Entwicklungs-
konzepte für Afghanistan würden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die deutschen Beiträge zum Stabilisierungsprozess in Afghanistan umfassend
zu evaluieren und dem Deutschen Bundestag die Ergebnisse vorzulegen,

● dem Deutschen Bundestag eine Bilanzierung der Operation Enduring Free-
dom vorzulegen und die dieser Operation zugrunde liegenden Konzepte zu
überprüfen,

● ressortübergreifende Anhörungen im Deutschen Bundestag zur Bilanzierung
und Auswertung des deutschen Engagements zu organisieren,

● dem Deutschen Bundestag regelmäßige, ressortübergreifende und zwischen
den beteiligten Bundesministerien koordinierte Berichte über die deutschen
Aktivitäten in Afghanistan vorzulegen,

● im Rahmen des London-Prozesses eine Initiative für eine Überprüfung der
Drogenbekämpfungsstrategie für Afghanistan zu ergreifen,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/2778

● die deutschen Beiträge zur Entwicklungshilfe für Afghanistan zu erhöhen
und im Rahmen der EU und der Vereinten Nationen auf eine Aufstockung zu
drängen,

● die Initiative für eine internationale kulturpolitische Evaluierungskonferenz
am Beispiel Afghanistans zu ergreifen, die die Rolle islamischer und tradi-
tioneller gesellschaftlicher Akteure und die Möglichkeit ihrer Einbindung in
den Aufbauprozess thematisiert, insbesondere auch der afganischen Frauen,

● als Partnernation für den Aufbau einer afghanischen Polizei mit einer Bilan-
zierung des Polizeiprojekts und einer deutlichen Aufstockung des Projekts
und des nationalen Beitrags zum Fonds für die Finanzierung von Polizei-
gehältern (LOFTA) voranzugehen,

● sich im Rahmen der an der Operation Enduring Freedom beteiligten Staaten
für eine umfassende politische Strategie zur Eindämmung der wachsenden
Popularität fundamentalistischer islamischer Strömungen einzusetzen,

● auf Pakistan dafür einzuwirken, dass das Land kein dauerhafter Rückzugs-
raum für die Taliban wird.

Berlin, den 27. September 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.