BT-Drucksache 16/2504

Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung

Vom 5. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2504
16. Wahlperiode 05. 09. 2006

Antrag
der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus,
Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, Dr. Herbert Schui, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Für eine Ausweitung und eine neue Qualität öffentlich finanzierter Beschäftigung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Deutschland hat gegenüber vergleichbaren europäischen Ländern einen
erheblichen Rückstand in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem
der Langzeitarbeitslosigkeit. Ein großer Teil der zurzeit 2,9 Millionen Lang-
zeitarbeitslosen besitzt auf Grund fehlender Arbeitsplätze sowie verschie-
dener Vermittlungshemmnisse unter den gegenwärtigen Arbeitsmarktbedin-
gungen kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz, darunter viele Ältere. So
waren 1,7 Millionen Menschen im April 2006 bereits ein Jahr und länger
arbeitslos. Bei jedem zweiten ALG-II-Empfangenden liegt die letzte sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigung drei und mehr Jahre zurück. Über
30 Prozent der ALG-II-Beziehenden waren in den letzten sechs Jahren ohne
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Diese Entwicklung verschlech-
tert die soziale Lage, vergrößert Armut und schränkt die Möglichkeiten der
Teilhabe der Betroffenen sowie ihrer Familien am gesellschaftlichen Leben
immer stärker ein. Sie beschleunigt die Erosion der sozialen Sicherungs-
systeme.

2. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen vor allem im faktischen Fehlen
einer aktiven und nachhaltigen Beschäftigungspolitik sowie in falschen Wei-
chenstellungen der letzten Jahre auf dem Gebiet der unmittelbaren Arbeits-
marktpolitik. Mit den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeits-
markt (Hartz-Gesetze) ist es nicht gelungen, die Arbeitslosigkeit zurück zu
drängen. Stattdessen trugen sie und die von der Großen Koalition in diesem
Zusammenhang auf den Weg gebrachten weiteren Gesetze erheblich zur Ver-
schärfung der sozialen Lage der von Arbeitslosigkeit Betroffenen bei.

Die Langzeitarbeitslosigkeit wurde durch verschiedene gesetzliche Entschei-
dungen sogar verfestigt und teilweise erhöht. Dazu zählen neben dem Abbau
und der Vernachlässigung der geförderten beruflichen Weiterbildung sowie
unzureichenden Maßnahmen zur Zurückdrängung der Altersarbeitslosigkeit
auch Fehlsteuerungen der Bundesagentur für Arbeit (BA), wie der Aussteu-

erungsbetrag und Fehler in der Geschäftspolitik der BA, insbesondere die
Orientierung auf betriebswirtschaftliche Effizienz.

In den Jahren 2005 verhinderten vor allem durch den Gesetzgeber selbst
verursachte Anlaufprobleme bei Hartz IV, dass fast 3 Mrd. Euro nicht wie
geplant für die Eingliederung Langzeitarbeitsloser eingesetzt werden konn-
ten. 2006 wurden 1,1 Mrd. Euro Eingliederungsmittel durch eine Haushalts-
sperre blockiert.

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Das alles hat dazu beigetragen, die Rückstände, die Deutschland beim Abbau
der Langzeitarbeitslosigkeit sowie der Altersarbeitslosigkeit bereits hatte,
weiter zu vergrößern – mit allen Folgen für die Finanzlage der sozialen
Sicherungssysteme sowie die Staatseinnahmen.

3. Unabhängig von der Bewertung der Ursachen für die sich ausdehnende und
verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit sehen immer mehr gesellschaftliche
Kräfte die dringende Notwendigkeit, Schritte zu einer neuen Qualität öffent-
lich finanzierter Beschäftigung einzuleiten, um die bestehende Lücke hin-
sichtlich der Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung vor
allem im gemeinnützigen Bereich über einen Zeitraum von mehreren Jahren
hinweg zu schließen. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch in den
Auffassungen zur grundsätzlichen Richtung der Finanzierung. Favorisiert
wird der Weg der Bündelung und Umwidmung von Finanzmitteln für das
Arbeitslosengeld II, die Kosten der Unterkunft, die entsprechenden Beiträge
zu Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die Ein-Euro-Jobs ein-
schließlich der Mehraufwandsentschädigungen. Hinzu kommen die Mittel,
die die Trägereinrichtungen von Ein-Euro-Jobs pauschal für die Einrichtung
dieser erhalten. Mit dieser Bündelung von Geldern können Mittel der passi-
ven Arbeitsmarktpolitik in Mittel für aktive Arbeitsmarktmaßnahmen um-
gewandelt werden. Statt Arbeitslosigkeit kann so dauerhaft Arbeit finanziert
werden.

4. Damit im Rahmen öffentlich geförderter Beschäftigung Stundenlöhne nicht
unter 8 Euro brutto gezahlt, Arbeit auf tariflicher Basis und entsprechend der
vorhandenen Qualifikation entlohnt werden können, bedarf es zusätzlicher
finanzieller Mittel. Eine für die öffentliche Hand kostenneutrale Finanzie-
rung reicht nicht. Die zu erwartenden Überschüsse der BA, die aus dem Bei-
tragsaufkommen der Arbeitslosenversicherung stammen und deshalb deren
zweckgebundene Verwendung für den Abbau der Arbeitslosigkeit gebieten,
eröffnen die Möglichkeit dafür sowie für eine kräftige Startfinanzierung
öffentlich geförderter Beschäftigung. Weitere Finanzierungsmöglichkeiten
resultieren aus Länderprogrammen, ESF-Mitteln sowie aus finanziellen Mit-
teln von Unternehmen, die sich als Träger an öffentlich geförderter Beschäf-
tigung beteiligen.

5. Forderungen und Vorschläge zur Entwicklung dauerhaft öffentlich finanzier-
ter Beschäftigung wurden in den vergangenen Monaten u. a. vom Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB), Einzelgewerkschaften des DGB, dem Diakoni-
schen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Arbeiterwohlfahrt
und Parteien in die Öffentlichkeit gebracht. Die Berliner Kampagne gegen
Hartz IV unterbreitete ein Konzept zur Ersetzung der Ein-Euro-Jobs durch
sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit. Konkrete Vorstellungen zu dau-
erhaft öffentlich geförderter Beschäftigung existieren in Bereichen der Bun-
desanstalt für Arbeit, wo man auf ein politisches Zeichen für die praktische
Umsetzung wartet. Einheitlich wird von den genannten Institutionen die Auf-
fassung vertreten, dass die Kosten sozialversicherungspflichtiger öffentlich
finanzierter Beschäftigung für die öffentliche Hand insgesamt – unter Be-
rücksichtigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen – kaum höher
sind, teilweise sogar günstiger liegen, als für die so genannten Ein-Euro-Jobs,
was durch den Bundesrechnungshof bestätigt wurde.

6. Erfahrungen bei der praktischen Organisierung eines funktionierenden öf-
fentlich geförderten Beschäftigungssektors liegen im Land Mecklenburg-
Vorpommern seit längerem vor. Obwohl die gesetzlichen Grundlagen dafür
durch die Hartz-Gesetze beseitigt wurden, können die vorliegenden Erfah-
rungen künftig genutzt werden. Von besonderer Bedeutung sind die Erfah-

rungen zum konzeptionellen Herangehen (Einbettung in ein Gesamtkonzept:
Projektfinanzierung, Verbindung mit Regionalentwicklung und regionalen

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Budgets, Aufbau regionaler demokratischer Entscheidungsstrukturen, Aus-
lobungen, Controlling usw.). Es fand eine wissenschaftliche Evaluierung
statt, deren Ergebnisse der BA bekannt sind. Sie können bei der Vorbereitung
gesetzlicher Bestimmungen für dauerhaft öffentlich geförderte Beschäf-
tigung sofort genutzt werden, sodass sich ein Pilotprojekt erübrigen würde.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung dauerhaft öffentlich finan-
zierter Beschäftigung in sozialversicherungspflichtiger Form mit dem Ziel
vorzubereiten, dass ab 1. Januar 2007 in allen Bundesländern mit dem Auf-
bau derartiger öffentlicher Beschäftigungsmöglichkeiten begonnen werden
kann, wobei der unter den Punkten 3 und 4 enthaltene Finanzierungsansatz
zugrunde gelegt werden soll;

– die haushaltsmäßigen und haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für die
Schaffung von mindestens 150 000 öffentlich geförderten sozialversiche-
rungspflichtigen Arbeitsverhältnissen im Jahre 2007 auf der Basis eines
monatlichen Arbeitnehmerbruttolohns, der sich an tariflichen Stundenlöhnen
orientiert und 1 400 Euro nicht unterschreitet, in die Wege zu leiten;

– die notwendigen Beitrags- und Haushaltmittel so zu verteilen, dass der Auf-
bau öffentlich geförderter Beschäftigung in Abhängigkeit von den Langzeit-
arbeitslosenquoten in den einzelnen Bundesländern erfolgen kann und
gleichzeitig ein Aufholen der Rückstände der am stärksten durch Langzeit-
arbeitslosigkeit betroffenen Regionen, vor allem in Ostdeutschland, möglich
wird;

– im Herbst 2007 eine Analyse der eingeleiteten Maßnahmen vornehmen zu
lassen und auf dieser Grundlage dem Deutschen Bundestag ein Stufen-
programm zur weiteren Ausdehnung öffentlich finanzierter Beschäftigung in
den Jahren 2008 und 2009 vorzulegen, damit mit den kommenden Haushal-
ten sowie der langfristigen Finanzplanung die entsprechenden finanziellen
Voraussetzungen für weitere 350 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze bis
Ende 2009 geschaffen werden können;

– bei der Vorbereitung dauerhaft öffentlich finanzierter Beschäftigung mit
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen von folgenden Grund-
sätzen auszugehen:

– Die Zielgruppe besteht vor allem aus beschäftigungsfähigen und -bereiten
Personen, für die auf längere Sicht eine öffentlich geförderte Beschäfti-
gung die einzige Chance bedeutet, die Arbeitslosigkeit zu beenden und die
Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Das betrifft vor allem ältere Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, Menschen mit mehrfachen Vermittlungs-
hemmnissen und Menschen in Regionen mit überdurchschnittlich hoher
Arbeitslosigkeit. Öffentlich geförderte Beschäftigung muss sich am kon-
kreten Einzelfall der Arbeitslosen sowie an den regionalen Gegebenheiten
orientieren. Die Eingliederung beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

– Für die Tätigkeitsfelder bzw. Einsatzgebiete ist ein gesetzlicher Rahmen
zu erarbeiten, der Mitnahmeeffekte und Substitution vorhandener Be-
schäftigung bei den Unternehmen, Einrichtungen und Gebietskörper-
schaften ausschließt. Es handelt sich um zusätzliche sowie im öffentlichen
Interesse liegende Tätigkeiten. Die konkreten Einsatzmöglichkeiten
werden auf dieser Grundlage im Zusammenwirken von BA, Argen und
Optionskommunen mit den konkreten örtlichen Arbeitsmarktakteuren
und Trägern für öffentlich geförderte Beschäftigung ausgehend von den
jeweiligen regionalen Arbeitsmarktbedingungen bestimmt.

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– Die zu schaffenden voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungs-
verhältnisse berücksichtigen die individuelle Eignung und werden tarif-
lich bzw. in Anlehnung an branchen- oder ortsübliche Entgelte, zumindest
aber auf der Grundlage eines monatlichen Arbeitnehmerbruttolohns von
1 400 Euro entlohnt. Für qualifizierte Beschäftigungsverhältnisse sind bei
Einhaltung tariflicher Stundenlöhne ggf. Teilzeitarbeitsverhältnisse abzu-
schließen. Die Bewilligung der Beschäftigungsverhältnisse erfolgt zeit-
lich begrenzt für drei bis fünf Jahre, um auf Veränderungen des Arbeits-
marktes reagieren zu können. Sie soll bei Personen ab dem 60. Lebensjahr
den nahtlosen Übergang in die Rente sichern.

– Notwendige ggf. begleitende Qualifizierungsmaßnahmen sollen dazu bei-
tragen, die Übereinstimmung zwischen Arbeitsplatzanforderungen und
persönlichen Arbeitsplatzvoraussetzungen herzustellen bzw. beständig
aufrechtzuerhalten.

– Träger öffentlich geförderter Beschäftigung können sowohl die klassi-
schen Träger von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Vereine sowie pri-
vate Wirtschaftsunternehmen sein, die geeignet sind, die Fördervorausset-
zungen der Zusätzlichkeit und des öffentlichen Interesses der Tätigkeiten
sicherzustellen. Private Gewinnaneignung im Rahmen öffentlich geför-
derter Beschäftigung muss ausgeschlossen werden. Etwaige Erlöse aus
den durch die Tätigkeiten erstellten Produkten bzw. Dienstleistungen sind
Anreiz für die Beschäftigten und vorrangig für nachfolgende Projekte und
Qualifizierung einzusetzen.

– Die Organisation öffentlich geförderter Beschäftigung erfolgt in Zusam-
menarbeit der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende, also der
Arbeitsgemeinschaften (Argen) bzw. der Optionskommunen mit den ört-
lichen Arbeitsmarktakteuren, wozu regionale Beiräte für öffentlich geför-
derte Beschäftigung gebildet werden, in denen auch die zuständigen
Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen sowie Verbände und Kammern
der Unternehmen mitwirken. Die BA unterstützt die Regionalen Beiräte,
in denen ihre Vertreter mitarbeiten, durch die Analyse und Verallgemeine-
rung von Erfahrungen und Beispielen. Zur Organisation öffentlich geför-
derter Beschäftigung sind klare und eindeutige gesetzliche Regelungen zu
erarbeiten, die die Erfahrungen bei der Herstellung von Öffentlichkeit,
Transparenz und demokratischer Mitwirkung bei Organisation, Koordi-
nierung sowie Kontrolle in bisher durchgeführten Modellprojekten zu
öffentlich geförderter Beschäftigung berücksichtigen.

– eine wissenschaftliche Evaluierung der bis 2009 erreichten Ergebnisse und
Erfahrungen dauerhaft öffentlich finanzierter Beschäftigung mit Schluss-
folgerungen für die kommenden Jahre in Auftrag zu geben.

Berlin, den 5. September 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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