BT-Drucksache 16/1798

Die politische Ordnung Russlands und die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung gegenüber Russland

Vom 9. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1798
16. Wahlperiode 09. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Claudia Roth
(Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die politische Ordnung Russlands und die Menschenrechtspolitik
der Bundesregierung gegenüber Russland

Russland hat sich zur Respektierung und zum Schutz der Menschenrechte nicht
zuletzt durch seinen Beitritt zum Europarat 1996 verpflichtet. 1998 ratifizierte
es die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte. Präsident
Putin bestätigte die Anerkennung der daraus entstandenen Verpflichtungen. In
einer Botschaft an die Föderalversammlung am 25. April 2005, erklärte der Prä-
sident, die Beziehungen zwischen der EU und Russland basierten auf gemeinsa-
men Werten, einschließlich des Respekts für Menschenrechte, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit.

Im Mai 2006 erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow, in Europa
und Russland bestünden unterschiedliche Meinungen über universell geltende
Menschenrechte. Hinsichtlich der Rechte von Schwulen und Lesben erklärte der
Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow ebenfalls im Mai 2006, eine Demonst-
ration von Schwulen und Lesben sei in Russland aus ethisch-moralischen Erwä-
gungen unzulässig. Die Moskauer Stadtregierung hatte eine für den 27. Mai
2006 angemeldete Demonstration für Toleranz und für die Bürgerrechte von
Homosexuellen verboten. Friedlich demonstrierende Lesben und Schwule wur-
den von Rechtsextremen gewaltsam angegriffen, ohne dass die zahlreich anwe-
sende Polizei schützend eingriff.

Der Koordinator der Bundesregierung für deutsch-russische Zusammenarbeit,
Andreas Schockenhoff, hat zu diesen Ereignissen in Moskau kommentiert, man
„müsse sich auf die politische Ordnung eines Gastlandes einstellen“ und dürfe
nicht die russischen „Spielregeln“ unterlaufen (Berliner Zeitung vom 29. Mai 2006).

Spitzenvertreter russischer Nichtregierungsorganisationen, die auf Einladung
der Konrad-Adenauer-Stiftung nach Berlin gereist waren, betonten dagegen, sie
begrüßten die Teilnahme ausländischer Politiker an solchen Aktionen. Zudem
wiesen sie darauf hin, die russische Bürokratie zwinge Nichtregierungsorgani-
sationen mit fadenscheinigen Demonstrationsverboten zu nicht genehmigten

Versammlungen. Das sei Teil der allgemeinen Gängelung von zivilgesellschaft-
lichen Organisationen. Trotz dieser klaren Aussagen russischer Menschen-
rechtsorganisationen wiederholte der Russland-Koordinator der Bundesregie-
rung weiterhin seine Auffassung, wonach die Unterstützung der Aktion
homosexueller Menschenrechtsaktivisten in Moskau „nicht verantwortlich“ ge-
wesen sei (vgl. Bericht im „Handelsblatt“ vom 1. Juni 2006).

Drucksache 16/1798 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die Bundesregierung hat auf eine mündliche Anfrage des Abgeordneten Volker
Beck (Köln) in der Fragestunde vom 1. Juni 2006 ausgeführt: „Nach Kenntnis
der Bundesregierung wurde die für den 27. Mai 2006 in Moskau geplante „Gay-
Parade“ mit der Begründung verboten, die Veranstaltung könne Protestaktionen
auslösen und somit Verletzungen der öffentlichen Ordnung nach sich ziehen.“

In der Öffentlichkeit hat Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow dagegen ganz
andere, „moralische“ Gründe für das Verbot der Demonstration genannt. „Unser
Leben, unsere Werte und unsere Traditionen – unsere Moral ist auf jede Art und
Weise sauberer. Der Westen kann etwas von uns lernen und sollte nicht dieser
verrückten Zügellosigkeit Vorschub leisten“, sagte Luschkow gegenüber den
Medien (die tageszeitung, 1. Juni 2006).

Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsfraktionen zu Russland erklärt: „Ziel
bleibt ein Russland, das prosperiert und das – orientiert an den Werten, denen
Europa verpflichtet ist, und unter Berücksichtigung seiner Traditionen – den
Wandel zu einer stabilen Demokratie erfolgreich bewältigt.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die Menschenrechtspolitik Russlands
hinsichtlich des Rechts auf Versammlungsfreiheit vor dem Hintergrund des
vor zwei Jahren verschärften Demonstrationsgesetzes?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die Menschenrechtspolitik Russlands
hinsichtlich des Rechts auf Pressefreiheit?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung das neue Gesetz über Nichtregierungs-
organisationen (NRO) in Russland, das eine weitergehende Kontrolle der
Regierung gegenüber den NROs als bisher ermöglicht?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung die steigende Anzahl von fremdenfeind-
lichen Übergriffen in Russland?

5. Wie beurteilt die Bundesregierung den Anstieg von Antisemitismus und
antisemitisch motivierten Straftaten in Russland?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung Gesetze und deren Umsetzung zum
Schutz von Minderheiten in Russland?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung die Rechtsstaatlichkeit von Strafprozes-
sen und die Haftbedingungen in Russland?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die russische Menschenrechtspolitik be-
züglich Tschetschenien?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung auf der Grundlage der Europäischen
Konvention zum Schutz der Menschenrechte die Aussage des russischen
Außenministers, in Europa und Russland bestünden unterschiedliche Mei-
nungen über universell geltende Menschenrechte?

10. In welcher Form und mit welchen Schwerpunkten thematisiert die Bundes-
regierung Menschenrechtsthemen gegenüber der russischen Regierung?

11. Mit welchen Inhalten und auf welche Weise wird die Bundesregierung ge-
genüber der Regierung der Russischen Föderation zum Verbot einer De-
monstration für die Bürgerrechte Homosexueller in Moskau, zu den gewalt-
tätigen Übergriffe auf Homosexuelle in Moskau am 27. Mai 2006 und zum
Verhalten der Polizei in dieser Situation Stellung beziehen?

12. Hält die Bundesregierung nach den Äußerungen des Moskauer Bürgermeis-
ters Juri Luschkow über „Moral“ und „Zügellosigkeit“ weiter an ihrer Ein-
schätzung fest, dass die Parade aus Gründen der Sicherheit verboten wurde,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1798

oder ist die Bundesregierung hier zu anderen Erkenntnissen gekommen, und
wenn ja, zu welchen?

13. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich die Moskauer Stadtver-
waltung mit ihren unterschiedlichen Verbotsbegründungen vor Gericht und
gegenüber der Öffentlichkeit einer doppelzüngigen Strategie bedient?

14. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es Aufgabe eines Unter-
zeichnerstaats der Europäischen Menschenrechtskonvention ist, die Mei-
nungs- und Versammlungsfreiheit für alle Bürgerinnen und Bürger zu
sichern und diese gegebenenfalls auch gegen Gewalttäter durchzusetzen?

15. Welche Aktivitäten hat der Koordinator der Bundesregierung für deutsch-
russische Zusammenarbeit bisher unternommen, um sich für die Verbesse-
rung der Bürgerrechte von Lesben und Schwulen in Russland sowie für de-
ren Schutz vor Gewalt einzusetzen?

16. Teilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der eingangs berichteten
Auffassungen russischer Menschenrechtsorganisationen die Einschätzung
ihres Koordinators für deutsch-russische Zusammenarbeit, man „müsse sich
auf die politische Ordnung eines Gastlandes einstellen“ und dürfe nicht des-
sen „Spielregeln“ unterlaufen?

a) Wenn ja, aus welchen Gründen?

b) Wenn nein, welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus?

17. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das affirmative Bekenntnis
des Koordinators für deutsch-russische Zusammenarbeit zu der „politischen
Ordnung“ und den „Spielregeln“ in Russland ein falsches Signal sendet und
die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung gegenüber Russland kon-
terkariert?

18. Gelten die Maximen des Koordinators der Bundesregierung für deutsch-
russische Zusammenarbeit zur „politischen Ordnung“ und den „Spielre-
geln“ in Russland nur hinsichtlich der Menschenrechtssituation von Lesben
und Schwulen oder auch hinsichtlich anderer Problemkomplexe wie z. B.
der Tschetschenienpolitik?

Berlin, den 9. Juni 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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