BT-Drucksache 16/1598

Verfassungsmäßigkeit und Auswirkungen der Abschaffung der Entfernungspauschale

Vom 22. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1598
16. Wahlperiode 22. 05. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dorothee Menzner, Werner
Dreibus, Ulla Lötzer, Kornelia Möller, Dr. Herbert Schui, Sabine Zimmermann,
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Verfassungsmäßigkeit und Auswirkungen der Abschaffung der Entfernungs-
pauschale

Die Bundesregierung hat am 10. Mai 2006 den Entwurf eines Steueränderungs-
gesetzes 2007 beschlossen. Wesentliches Ziel dieses Gesetzentwurfs ist, laut
der Pressemitteilung der Bundesregierung, die nachhaltige Sanierung der
Staatsfinanzen. Darüber hinaus sollen die verabschiedeten Maßnahmen der
Steuervereinfachung dienen. Die steuerlichen Belastungen orientieren sich
nach Meinung der Bundesregierung an der individuellen Leistungsfähigkeit der
Steuerpflichtigen und der Verteilungsgerechtigkeit. Im Steueränderungsgesetz
2007 ist eine Abschaffung der bisherigen Entfernungspauschale vorgesehen.
Zukünftig sollen die Kosten für die Wege zwischen Wohnung und Arbeit nicht
mehr den absetzbaren Erwerbsaufwendungen, sondern der Privatsphäre zuge-
ordnet werden. Entsprechend können nur noch Steuerpflichtige mit „über-
durchschnittlich weiten“ Wegen zur Arbeits- und Betriebsstätte Aufwendungen
für Pkw- oder ÖPNV-Fahrten ansetzen. Das sind Steuerpflichtige, die Anfahrts-
wege von mehr als 20 Kilometern haben. In ihrem Gesetzentwurf begründet die
Bundesregierung ihre Entscheidung damit, dass die Berufssphäre erst am
Werktor beginne. Diese Auffassung und die Gesetzesänderung sind allerdings
verfassungsrechtlich umstritten.

Im deutschen Einkommensteuerrecht gilt das Prinzip der Besteuerung nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dieses beinhaltet u. a., dass Erwerbsauf-
wendungen grundsätzlich steuerlich absetzbar sind (objektives Nettoprinzip).
Eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips ist – nach den Ausführungen
von Richtern des Bundesverfassungsgerichts an verschiedenen Stellen – aus-
schließlich aus hinreichend gewichtigen Gründen zulässig.

Diesen Tenor vertrat das Bundesverfassungsgericht auch in seinem Beschluss
vom 4. Dezember 2002 (2 BvR 400/98 und 2 BvR 1735/00). Hier führte es unter
anderem aus, dass die Grundentscheidung des deutschen Einkommensteuer-
rechts darin bestehe, dass die „steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst
am Werkstor“ beginne. Weiterhin erklärte es, dass auch im Schnittbereich von
beruflicher Sphäre und privater Lebensführung liegende Mobilitätskosten als

Werbungskosten oder Betriebsausgaben anerkannt würden und – folgerichtig –
„Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu den im Rahmen des ob-
jektiven Nettoprinzips abzugsfähigen beruflichen Aufwendungen“ gehörten,
„obwohl solche Aufwendungen wegen der privaten Wahl des Wohnorts zwangs-
läufig auch privat mit veranlasst“ seien.

Drucksache 16/1598 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Von der Abschaffung der Entfernungspauschale in ihrer bisherigen Form sind
rund 15 Millionen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mit höheren Steuer-
belastungen betroffen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit der durch den
Gesetzentwurf vorgenommenen Zuordnung der Kosten zwischen Wohnung
und Arbeits- bzw. Betriebsstätte in die Privatsphäre insgesamt (bitte mit Be-
gründung)?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die durch den Gesetzentwurf vorgenom-
mene Zuordnung der Kosten zwischen Wohnung und Arbeits- bzw. Be-
triebsstätte in die Privatsphäre bezüglich der verfassungsrechtlich gebotenen
Grundprinzipien

– der Besteuerung der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtig-
keit sowie

– des objektiven Nettoprinzips (bitte mit Begründung)?

3. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit der durch den
Gesetzentwurf vorgenommenen Zuordnung der Kosten zwischen Wohnung
und Arbeits- bzw. Betriebsstätte in die Privatsphäre vor dem Hintergrund der
Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 4. De-
zember 2002, nach denen die Grundentscheidung des deutschen Einkommen-
steuerrechts darin bestehe, dass die „steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre
nicht erst am Werkstor“ beginne (bitte mit Begründung)?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung die Verfassungsmäßigkeit der durch den
Gesetzentwurf vorgenommenen Zuordnung der Kosten zwischen Wohnung
und Arbeits- bzw. Betriebsstätte in die Privatsphäre vor dem Hintergrund der
Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 4. De-
zember 2002, nach denen es bei der Einordnung von Kosten in abzugsfähige
berufliche Aufwendungen nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruf-
lichem und privatem Veranlassungsgrund, sondern auch auf die Unterschei-
dung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung und zwangs-
läufigem, pflichtbestimmtem Aufwand ankommt?

5. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Fahrt der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ihrer freien bzw.
beliebigen Entscheidung unterliegt (bitte mit Begründung)?

6. Sieht die Bundesregierung in der durch den Gesetzentwurf vorgenommenen
Zuordnung der Kosten zwischen Wohnung und Arbeits- bzw. Betriebsstätte
in die Privatsphäre eine Durchbrechung des objektiven Nettoprinzips, und
wenn ja, welche gewichtigen Gründe haben die Bundesregierung zu dieser
Durchbrechung veranlasst, wenn nein, warum nicht?

7. In welcher Höhe fallen aktuell Werbungskosten bei Einkünften aus nicht-
selbstständiger Tätigkeit an?

8. Wie hoch ist aktuell der Anteil der Aufwendungen für Fahrten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte an den Werbungskosten insgesamt (inklusive
Arbeitnehmer-Pauschbetrag)?

9. Wie hoch ist aktuell der Anteil der Aufwendungen für Fahrten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte an den erhöhten Werbungskosten?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1598

10. Wie hoch ist aktuell der Anteil der Fahrtkosten zwischen Wohnung und
Arbeitsstätte an den erhöhten Werbungskosten bei Bruttolöhnen der Steuer-
pflichtigen in Höhe von

– bis zu 20 000 Euro,

– 20 000 Euro bis 40 000 Euro,

– 40 000 Euro bis 60 000 Euro,

– 60 000 Euro bis 80 000 Euro,

– 80 000 Euro bis 100 000 Euro sowie

– 100 000 Euro und mehr?

11. Wie hoch ist aktuell der durchschnittliche Anteil der Fahrtkosten zwischen
Wohnung und Arbeitsstätte an den erhöhten Werbungskosten in den einzel-
nen Bundesländern?

12. Wie hoch ist aktuell der Anteil der Bruttolöhne in den einzelnen Bundes-
ländern an den Bruttolöhnen der Bundesrepublik Deutschland insgesamt?

13. Wie begründet die Bundesregierung die Abschaffung der Sonderregelung,
nach der bisher statt der Kilometerpauschale die realen Aufwendungen für
die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs steuerlich abgesetzt
werden können?

14. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu den Aussagen des Verban-
des Deutscher Verkehrsunternehmen ein, nach denen mit der Streichung
der in Frage 13 genannten Sonderregelung ein wichtiges Lenkungsinstru-
ment hin zu Bus und Bahnen wirkungslos wird (bitte mit Begründung)?

15. Wie wird sich – nach Einschätzung der Bundesregierung – die Streichung
der in Frage 13 genannten Sonderregelung auf die Fahrgastzahlen des
öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs auswirken (bitte mit Begrün-
dung)?

16. Wie haben sich die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeits-
stätte (Benzinkosten, Kosten für die Benutzung des Regionalverkehrs der
Eisenbahnen, des privaten und des kommunalen öffentlichen Personennah-
verkehrs sowie des anteilig genutzten Fernverkehrs) pro gefahrenen Kilo-
meter seit 2000 bis aktuell durchschnittlich entwickelt, und wie schätzt die
Bundesregierung die Entwicklung der genannten Kosten bis 2010 ein
(letzteres bitte mit Begründung)?

17. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu in den Medien geäußerten
Forderungen von Unternehmensverbänden ein, in der Konsequenz der
Zuordnung der Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in die
Privatsphäre die Kosten und Folgekosten von Wegeunfällen der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr durch die Berufsgenossen-
schaften zu finanzieren (bitte mit Begründung)?

18. In welcher Höhe wird die jährliche Einkommensteuerlast der Steuerpflich-
tigen durch die Regelungen zur steuerlichen Absetzbarkeit von Fahrten
zwischen Wohnung und Arbeitsstätte aktuell und ab 2007 reduziert?

19. Wie verhält sich nach Ansicht der Bundesregierung die Zuordnung der
Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zur Privatsphäre sowie
die daraus resultierende steuerliche Höherbelastung der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer zu den gestiegenen und steigenden Anforderungen
an deren berufsbedingter Mobilität (bitte mit Begründung)?

Drucksache 16/1598 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
20. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufwendungen für Fahr-
ten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zwingende Aufwendungen der
eigenständigen Existenzsicherung darstellen und damit in pauschalierter
Form Teil des steuerfrei zu belassenen Existenzminimums sind (bitte mit
Begründung)?

21. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass trotz der teilweisen Nichtanerken-
nung der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte
bei allen Steuerpflichtigen das steuerfreie Existenzminimum von einer Be-
steuerung verschont bleibt (bitte mit Begründung)?

Berlin, den 19. Mai 2006

Dr. Barbara Höll
Dr. Axel Troost
Dorothee Menzner
Werner Dreibus
Ulla Lötzer
Kornelia Möller
Dr. Herbert Schui
Sabine Zimmermann
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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