BT-Drucksache 16/14057

Zur aktuellen Lage in Afghanistan

Vom 14. September 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/14057
16. Wahlperiode 14. 09. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Jürgen
Trittin, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi
Eid, Thilo Hoppe, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zur aktuellen Lage in Afghanistan

Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich in diesem Jahr weiter verschlech-
tert. In den ersten vier Monaten 2009 erhöhten sich laut ISAF (International
Security Assistance Force) gegenüber dem Vorjahreszeitraum die Aufständi-
schenangriffe um 64 Prozent, Attacken auf Regierungsangehörige um 90 Pro-
zent, Selbstmordattacken um 81 Prozent. Feuergefechte und Selbstmordan-
schläge sowie die Opfer unter Zivilbevölkerung, Polizistinnen und Polizisten,
Soldatinnen und Soldaten sowie Aufständischen haben ein Ausmaß wie noch
nie seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 erreicht. Über 90 Prozent der Sicher-
heitsvorfälle geschehen nach wie vor im Süden und Osten des Landes. Von den
444 Sicherheitsvorfällen, die von Oppositionellen Militanten Kräften (OMF) in
der Woche vom 6. bis zum 13. Juli 2009 verübt wurden, geschahen 64,4 Pro-
zent im Süden, 27,3 Prozent im Osten, 4,9 Prozent im Westen und 3,4 Prozent
im Norden. Laut UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan)
ist mittlerweile fast ein Drittel Afghanistans von Aufständischenaktivitäten be-
troffen.

Trotz der verschlechterten Sicherheitslage sind auch Erfolge zu verzeichnen. So
ist laut jüngstem UN-Bericht die Opiumproduktion drastisch zurückgegangen.
Die Mohnanbaufläche sank um dramatische 22 Prozent im Vergleich zu 2008
auf 123 000 Hektar. Knapp zwei Drittel aller Provinzen gelten mittlerweile als
mohnfrei. Dies gilt auch für den deutschen Verantwortungsbereich im Norden
des Landes, der bis auf 550 Hektar in Badakshan, mohnfrei ist.

Im deutschen Verantwortungsbereich von ISAF im Norden Afghanistans ist
seit 2007/2008 neben Ghormach im Nordwesten die Provinz Kunduz zu einem
Brennpunkt geworden, wo es fast täglich zu Überfällen und Schusswechseln
kommt. In einzelnen kritischen Distrikten wie Chahar Dara finden teilweise
auch längere Kampfhandlungen und komplexe Angriffe auf Bundeswehr und
afghanische Sicherheitskräfte statt.

Mittlerweile deutet vieles darauf hin, dass die Bundeswehr, die zuvor mili-
tärisch äußerst besonnen und zurückhaltend agierte, für eine Entscheidung mit-
verantwortlich ist, die zu Zivilopfern in bislang nicht bekannter Anzahl geführt
hat. Laut dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) wurde am 4. Sep-
tember 2009 vom deutschen Kommandeur des PRT Kunduz von ISAF Luft-
nahunterstützung gegen OMF angefordert, die sich mit zwei entführten Tank-
lastern sechs km südwestlich des PRT Kunduz befanden. Viele Fragen zum
konkreten Ablauf der Operation sind noch ungeklärt. Auch die Angaben über
die Opfer schwanken. Die Untersuchungen von ISAF, afghanischer Regierung

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und UN dauern an. Schätzungen variieren zwischen 56 getöteten Taliban und
120 getöteten Personen mit einem hohen Anteil an Zivilisten. Der Luftangriff
wird von Verbündeten massiv kritisiert.

Entgegen des früheren Vorgehens der US-Truppen in Afghanistan ist mittler-
weile der Schutz der Bevölkerung zur obersten Priorität erhoben worden. Der
neue ISAF-Kommandeur Stanley McCrystal hat am 6. Juli 2009 in einer
taktischen Direktive angeordnet, dass der „Respekt, Schutz und die Zustim-
mung der Bevölkerung“ höchste Priorität haben soll. Zudem soll durch eine
neue Schwerpunktsetzung auf den Aufbau von Governance-Strukturen das Ver-
trauen der Bevölkerung in die afghanische Regierung gestärkt bzw. zurück
gewonnen werden.

Für die Umsetzung der unter US-Präsident Barack Obama beschlossenen
neuen Afghanistan-Strategie gelten nach Einschätzung von Kommandeur
Stanley McChrystal die nächsten 12 bis 18 Monate als entscheidend. Afgha-
nistan soll mehr Ressourcen sowohl für den Aufbau als auch für eine Trup-
penverstärkung erhalten, der regionale Ansatz soll ausgebaut und die Nach-
barländer Iran und Pakistan einbezogen werden.

Deutschland hat im Zuge der Ausweitung von ISAF Mitte 2006 vor allem das
militärische Engagement schrittweise ausgebaut. Im zivilen und rechtsstaat-
lichen Bereich fehlt eine entsprechende gleichwertige Aufbauoffensive. In 2009
stellt Deutschland für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan rund 575 Mio.
Euro und für den zivilen Aufbau bilateral ca. 195 Mio. Euro zur Verfügung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die aktuelle Sicherheitslage (Indikatoren:
Sicherheitsvorfälle, Zugänge zu Distrikten) im deutschen Verantwortungs-
bereich im Norden?

2. Wann und in welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung die deutsche
Öffentlichkeit umfassend und kontinuierlich über die Entwicklung der
Sicherheitslage in Afghanistan insbesondere im deutschen Verantwortungs-
bereich zu informieren, und was stand dieser bisher entgegen?

3. Seit wann ist der Bundesregierung bekannt, dass die USA beabsichtigen,
300 Spezialkräfte der Operation Enduring Freedom (OEF) im deutschen
Verantwortungsbereich im Norden des Landes zu schicken und im deut-
schen Lager in Mazar-e Sharif unterzubringen?

a) Warum hat die Bundesregierung das Parlament darüber nicht informiert?

b) Welchen Auftrag haben die OEF-Soldaten im Raum Kunduz?

c) Wie soll die Zusammenarbeit zwischen ISAF und OEF geregelt werden,
und hat die Bundesregierung Einfluss auf die Einsatzentscheidungen der
OEF-Kräfte?

4. Was sind aus Sicht der Bundesregierung die Ursachen für die Verschärfung
der Sicherheitslage und für den starken Anstieg der OMF im Raum Kunduz
seit 2007/2008?

5. Was muss aus Sicht der Bundesregierung konkret getan werden, um die
Gewaltspirale im Raum Kunduz zu durchbrechen und das Vertrauen der
Bevölkerung zurückzugewinnen?

6. Wie hat sich in den letzten zwei Jahren das Verhältnis der afghanischen
Bevölkerung und Behörden zu ISAF, Bundeswehr und internationalen
Akteuren im Norden geändert?

7. Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um die Erfolge bei
der Opiumproduktion zu stabilisieren und auszubauen?

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8. Wo und aus welchen Gründen gibt es aus Sicht der Bundesregierung Um-
setzungsdefizite und -probleme beim Aufbauprozess?

9. In ihrer Regierungserklärung vom 8. September 2009 hat Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel angeregt, noch in diesem Jahr eine Afghanistankonfe-
renz zum Afghan Compact durchzuführen. Hat die Bundesregierung die
Absicht mit der afghanischen Seite vereinbarte überprüfbare Zwischenziele
für die Gesamtentwicklung der Region vorzulegen, und wenn ja, welche,
und in welchem Zeithorizont plant die Bundesregierung für den regionalen
Aufbauprozess?

10. a) Wie bewertet die Bundesregierung den massiven Akzeptanzverlust des
Afghanistaneinsatzes in der Bevölkerung hierzulande und in Afghanis-
tan, und wie geht sie damit um?

b) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine offene und unge-
schönte Informationspolitik eine unabdingbare Voraussetzung für die
Akzeptanz des Afghanistaneinsatzes ist, und was tut sie dafür?

c) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Akzeptanz
des Afghanistaneinsatzes unter Bundeswehrangehörigen und insbeson-
dere Afghanistanrückkehrern vor, und teilt die Bundesregierung den
Eindruck, dass der Afghanistaneinsatz auch unter Bundeswehrangehöri-
gen insbesondere solchen mit Afghanistanerfahrung an Zustimmung
verloren hat?

Und wenn ja, worin sieht die Bundesregierung mögliche Ursachen?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung die Einbindung von Warlords, denen
teilweise schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, in die
Koalition von Präsident Hamid Karsai, und wie will sie künftig damit um-
gehen?

12. a) Wie bewertet die Bundesregierung den derzeitigen Stand des Institutio-
nenaufbaus in Nord-Afghanistan?

b) Wo liegen die Defizite, wie und bis wann sollen diese durch welche
konkreten Maßnahmen abgebaut werden?

13. a) Wie bewertet die Bundesregierung die Korruption in den afghanischen
Institutionen?

b) Was ist aus Sicht der Bundesregierung notwendig, um Korruption in den
afghanischen Institutionen zurückzudrängen?

c) Welche konkreten Maßnahmen sind bzw. sollen eingeleitet werden, und
welchen Beitrag will bzw. leistet die Bundesregierung zur Korruptions-
bekämpfung?

14. Was wurde im Rahmen der so genannten Unterstützergruppe Afghanistan/
Pakistan zur Umsetzung des von allen Seiten geforderten Strategiewechsels
an konkreten Maßnahmen eingeleitet (bitte auflisten)?

15. Mit welcher Zielrichtung und mit welchem Ergebnis hat die Bundesregie-
rung sich bislang in der Unterstützergruppe Afghanistan/Pakistan engagiert
(bitte Aktivitäten auflisten)?

Berlin, den 14. September 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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