BT-Drucksache 16/13606

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum G8-Weltwirtschaftsgipfel vom 8. bis 10. Juli 2009 in L'Aquila

Vom 30. Juni 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13606
16. Wahlperiode 30. 06. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Heike Hänsel, Eva Bulling-Schröter, Dr. Barbara
Höll, Werner Dreibus, Kornelia Möller, Dr. Herbert Schui, Dr. Axel Troost, Alexander
Ulrich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum G8-Weltwirtschaftsgipfel vom 8. bis 10. Juli 2009 in L’Aquila

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vom 8. bis 10. Juli 2009 treffen in L’Aquila die Regierungschefs der G8-Staaten
(Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Russland,
USA) zusammen. Auf den Gipfeltreffen der G8 werden regelmäßig Verabredun-
gen von globaler Tragweite getroffen. Über die alljährlichen Gipfeltreffen hi-
naus koordiniert die G8, zum Beispiel auf der Ebene informeller Fachminister-
treffen und in Expertenrunden, die Politik der mächtigsten Staaten in wirtschaft-
lichen, sozialen und politischen Fragen von globaler Bedeutung. Dabei hat die
G8 ihr Themenspektrum während der letzten Jahre stetig erweitert. Sie nimmt
Einfluss auf die Geschäftspolitik des Internationalen Währungsfonds (IWF) und
der Weltbank, trifft Absprachen im Kampf gegen den Terrorismus und zur Ab-
wehr von Flüchtlingen, zu Klimaschutz, Schuldenproblematik, Energiefragen
und zur Reform der Vereinten Nationen (VN).

An den G8-Treffen nehmen Regierungen von Staaten teil, in denen insgesamt
ein knappes Siebtel der Weltbevölkerung lebt. Es werden in dieser Runde aber
politische und ökonomische Entscheidungen gefällt, die Auswirkungen auf die
gesamte Weltwirtschaft und auf Entwicklungschancen vieler Länder und
Regionen haben – insbesondere solcher Länder und Regionen, die auf den
G8- Tagungen nicht mit am Tisch sitzen. Gleichzeitig werden mit der Verlage-
rung von grundlegenden politischen und ökonomischen Entscheidungen auf die
Ebene von Absprachen zwischen Regierungen, ohne Kontrolle und Gestaltungs-
möglichkeit der nationalen Parlamente und unter Ausschluss der Öffentlichkeit,
die demokratisch gewählten Parlamente partiell entmachtet. Für die Tragweite
der Themen, über die der G8-Gipfel entscheidet, fehlt ihm die Legitimität.

Seit dem Treffen der G20-Staaten am 2. April 2009 in London maßen sich die
Industriestaaten einmal mehr die Regelungskompetenz in Fragen des Weltwirt-
schafts- und Weltfinanzsystems an und koordinieren ihre Antikrisenpolitik.

Zwar werden im Rahmen der G20 über die G8 hinaus Schwellenländer hinzu-
gezogen. Die Entwicklungsländer, die ebenfalls unter der gegenwärtigen Krise
leiden, bleiben aber nach wie vor von Verhandlungen ausgeschlossen. Anstatt
alle Betroffenen zu hören, sollen auf dem G20-Treffen erneut die Mitverursa-
cher der Krise, wie die multilateralen Organisationen Internationaler Währungs-
fonds (IWF) und Weltbank, mit deren Lösung beauftragt werden.

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Am deutlichsten wurde diese undemokratische Blockadepolitik im Vorfeld der
VN-Konferenz über die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise und deren Auswirkun-
gen auf Entwicklungsländer, die vom 24. bis 26. Juni 2009 in New York tagte.
Die G8-Staaten und weitere Industrieländer des Nordes weigerten sich durch-
gängig, ihre Staats- und Regierungschefs auf diese Konferenz zu entsenden.
Ebenso sagten die Chefs von IWF und Weltbank – als VN-Organisationen – ihre
Teilnahme ab. Die Konferenz musste um drei Wochen verschoben werden, da
die VN die Beteiligung der Staats- und Regierungschefs sicherstellen wollte und
man sich nicht auf ein Abschlussdokument einigen konnte. Trotz der eindring-
lichen Mahnungen der Generalversammlung werten damit die Industriestaaten
das Anliegen der Organisation der Vereinten Nationen ab, über Entwicklungs-
fragen hinausgehende, globale und demokratisch legitimierte Antworten auf die
Weltwirtschaftskrise zu geben. Der Deutsche Bundestag und Nichtregierungs-
organisationen wurden völlig unzureichend in die Beratungen einbezogen.

Die G8 repräsentieren damit in ihrer 30-jährigen Geschichte ein großes Hinder-
nis für eine gerechte Weltwirtschaft und die Verwirklichung sozialer Rechte und
verfolgen das Interesse der großen Industriekonzerne. Dies zeigt sich in der ak-
tuellen Krisenbewältigung, der unerfüllten Versprechungen für eine Regulation
der Finanzmärkte, der unzureichenden Umsetzung von Klimaschutzzielen und
von Zielen zur Ausweitung der Entwicklungshilfe bzw. der Entschuldung von
Ländern des Südens.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Entscheidungsprozesse zur Neugestaltung des globalen Wirtschafts-
und Finanzsystems zu demokratisieren, indem:

– die G8-Treffen abgesagt werden und bei allen G20-Folgekonferenzen
die gleichberechtigte Teilhabe von Entwicklungsländern gesichert
wird. Die Organisation der G20-Folgekonferenzen muss deshalb den
Vereinten Nationen (VN) übergeben werden;

– der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) die
Rolle eines Koordinators der internationalen Wirtschaftspolitik über-
nimmt und ein dauerhaftes Expertengremium einrichtet, das wissen-
schaftlichen Sachverstand in Bezug auf Finanzkrisen, Klimawandel
und Nahrungsmittelknappheit bündelt. Die Internationale Arbeitsorga-
nisation (ILO), die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und
Entwicklung (UNCTAD) und die Umwelt- und Menschenrechtsorga-
nisation sollen gestärkt werden. IWF, Weltbank und Welthandelsorga-
nisation (WTO) sollen den Strukturen der Organisation der Vereinten
Nationen untergeordnet und demokratisiert werden. Darüber hinaus
unterstützt der Deutsche Bundestag die Forderung der Stiglitz-Kom-
mission zur Etablierung eines Globalen Wirtschaftsrates in der Organi-
sation der Vereinten Nationen, einer globalen Steuerbehörde und einer
globalen Prüfbehörde für Finanzprodukte;

2. kurzfristig Maßnahmenpakete auf internationaler Ebene zu entwickeln,
die es den Entwicklungsländern ermöglichen mit eigenen Konjunkturpro-
grammen öffentliche Ausgabeprogramme aufzulegen, indem

– neue Finanzierungsquellen entwickelt werden wie die Neuverteilung
der Sonderziehungsrechte zugunsten von Entwicklungsländern. Regio-
nale Organisationen und Kreditinstitutionen müssen ausgebaut, der
IWF demokratisiert und Kredite dürfen nicht mehr an Sparauflagen
oder Inflationsziele gebunden werden;

– der Vorschlag der Stiglitz-Kommission nach einem globalen Konjunk-

turpaket aufgegriffen wird, das besonders die Interessen der Entwick-

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lungsländer berücksichtigt und den Schwerpunkt auf Klimaschutz,
Nahrungssicherheit und Armutsbekämpfung legt. Die Experten for-
dern, dass die Industrieländer in ihren Konjunkturprogrammen 1 Pro-
zent als zusätzliche Entwicklungshilfe einplanen;

– die Industriestaaten ihre verpflichtenden Zusagen zur Steigerung der
Entwicklungsausgaben (ODA) auf 0,7 Prozent des Bruttonational-
einkommens (BNE) nicht aufgeben dürfen. Als Schritt dorthin muss
Deutschland im nächsten Jahr die Entwicklungsausgaben auf
0,51 Prozent des BNE anheben, wie es im ODA-Stufenplan der EU
vereinbart ist. Die Schuldenfrage muss gelöst und die Beiträge für VN-
Entwicklungsprogramme dürfen nicht gekürzt oder gestrichen werden;

3. die Finanzmärkte effektiv unter demokratische Kontrolle zu stellen, in-
dem:

– Wechselkurse durch die Schaffung von Zielzonen zwischen den großen
Weltwährungen stabilisiert, regionale Währungsabkommen unterstützt
werden und die Leitwährungsrolle des Dollars durch einen supranatio-
nalen Währungskorb analog zu den Sonderziehungsrechten abgelöst
wird;

– eine funktionsfähige, weltweite Finanzmarktaufsicht unter dem Dach
der VN geschaffen wird: Zu ihren Aufgaben sollen die Entscheidung
über das Verbot von spekulativen Finanzinstrumenten auf globaler
Ebene und über eine internationale Bankenaufsicht, die systemische
Risiken der Finanzmärkte überwacht und Gegenmaßnahmen vorschla-
gen kann, gehören. Eine Vereinbarung für die Etablierung von öffent-
lichen Ratingagenturen ist zu treffen;

– wirksame Maßnahmen gegen spekulative Geschäfte getroffen werden,
sodass Geschäfte mit hohem Kredithebel ebenso wie Hedge Fonds ver-
boten und Spekulationen auf Währungen, Nahrungsmittel und Roh-
stoffe beendet werden;

– eine Transaktionssteuer auf den Handel mit Wertpapieren und Devisen
zur Entschleunigung der Finanzmärkte sowie Kapitalverkehrskontrol-
len eingeführt werden;

– die Schließung der Steueroasen befördert und organisiert und Schritte
zur angemessenen Besteuerung von Banken und transnationalen Kon-
zernen vereinbart werden;

4. eine Wende zur nachhaltigen Regulierung der Weltwirtschaft einzuleiten,
indem:

– die nationalen Konjunktur- und Subventionsmaßnahmen international
koordiniert werden, um einen Subventionswettlauf der Industrieländer
zu Lasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und der schwachen
Volkswirtschaften vor allem im globalen Süden zu verhindern;

– das Problem der globalen Leistungsbilanz entschärft wird. Ungleichge-
wichte können durch die Schaffung eines Ausgleichsmechanismus
nach dem Vorbild der von John Maynard Keynes in Bretton Woods ur-
sprünglich vorgeschlagenen „International Clearing Union“ behoben
werden;

– eine Abkehr von der Orientierung an Exportmärkten und stattdessen
eine Wende zur Regionalisierung und Binnenmarktorientierung einge-
leitet wird verbunden mit regionalen Abkommen zur Förderung von
sozialen und ökologischen Standards. In diesem Sinne sind auch Maß-

nahmen zur Herstellung volkswirtschaftlich, sozial und ökologisch

Drucksache 16/13606 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
nachhaltiger Produktion und von Ernährungssicherheit und -souveräni-
tät zu treffen;

– der Vorrang von Umwelt- und Menschenrechtsabkommen, sowie der
ILO-Abkommen vor WTO-Verpflichtungen und Wirtschaftsabkom-
men, die sich an den WTO-Prinzipien orientieren (z. B. die Wirtschafts-
Partnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und der
Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten – AKP-
Staaten) sicherzustellen ist. Die Doha-Verhandlungsrunde der WTO
muss endgültig für gescheitert erklärt werden;

– eine Kontrolle der transnationalen Konzerne hinsichtlich ihrer Ver-
pflichtung auf soziale und ökologische Standards und der Ausweitung
von Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten in Angriff genommen,
ein sofortiger Stopp von Privatisierungen eingeleitet und ein Investi-
tionsabkommen angegangen wird, mit dem Investitionen nachhaltig re-
guliert werden;

5. die Verhandlungen um die Verabschiedung eines Kyoto-Folgeabkommens
auf der VN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 voranzu-
treiben, indem

– die Industrieländer sich im Vorfeld der VN-Klimakonferenz zu einem
Minderungsziel für ihren Klimagas-Ausstoß von mindestens 25 bis
40 Prozent bis zum Jahr 2020 gegenüber dem Jahr 1990 bekennen; die
EU muss endlich eine Vorreiterrolle in den Verhandlungen übernehmen
und sich schnellstmöglich und ohne Vorbehalt zur Minderung ihrer
Treibhausgasemissionen von 40 Prozent im selben Zeitraum verpflich-
ten;

– die Industrieländer gemäß des Verursacherprinzips Finanztransfers für
Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawan-
del in Schwellen- und Entwicklungsländer verbindlich zusagen; die EU
muss schnellstmöglich einen finanziellen Beitrag angelehnt an die Be-
darfsschätzungen des VN-Klimasekretariats verbindlich beschließen;

– das Freikaufen von Klimaschutzpflichten durch den Erwerb „fauler“
Klimaschutzzertifikate aus dem Clean Development Mechanism
(CDM) unterbunden wird;

– der Tropenwaldschutz nicht in die globalen Kohlenstoffmärkte einbe-
zogen wird, sondern stattdessen direkte Finanztransfers für den Schutz
der letzten Wälder zugesagt werden.

Berlin, den 30. Juni 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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