BT-Drucksache 16/13475

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung -16/13187, 16/13393- Anpassung des Einsatzgebietes für die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias

Vom 17. Juni 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13475
16. Wahlperiode 17. 06. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln),
Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel
Sarrazin, Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksachen 16/13187, 16/13393 –

Anpassung des Einsatzgebietes für die Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Operation Atalanta der EU hat zum Schutz humanitärer Hilfslieferungen
sowie zur Abschreckung, Verhütung und Beendigung von seeräuberischen
Handlungen oder bewaffneten Raubüberfällen beigetragen. Seit Beginn der
Operation wurden alle 28 Schiffe des Welternährungsprogramms sicher
nach Somalia geleitet, mehr als 150 Handelsschiffe in Gruppenfahrten durch
den Golf von Aden eskortiert, viele Übergriffe abgewehrt und zahlreiche
Piraten festgenommen. Damit leisten die im Rahmen der Operation Atalanta
eingesetzten Kräfte (elf Schiffe und drei Aufklärungsflugzeuge) der sechs
EU-Nationen einen spürbaren und wichtigen Beitrag zur internationalen
Seesicherheit in der Region.

Dennoch ist die Bilanz des bisherigen Vorgehens zum Schutz von Schiffen
und zur Eindämmung der Piraterie am Horn von Afrika ernüchternd. Die
Zahl bewaffneter Überfälle hat erheblich zugenommen. Im vorigen Jahr hat
es insgesamt 111 Piratenüberfälle und 42 Kaperungen gegeben. Bis Anfang
Mai 2009 waren bereits 114 Überfälle und 29 Kaperungen zu verzeichnen.
Noch immer befinden sich zahlreiche Schiffe und Geiseln in der Gewalt von
erpresserischen Entführern. Die Mehrzahl der in Geiselhaft genommenen
Schiffsbesatzungen stammt aus asiatischen Ländern. Schiffsentführungen
und Lösegelderpressungen sind zu einem lukrativen Geschäftszweig der or-

ganisierten Kriminalität geworden, bei dem Drahtzieher und Mittelsmänner
in und außerhalb Somalias bisher weitgehend ungestört agieren können.

Die Piraterie am Horn von Afrika bleibt daher ein ernstzunehmendes Pro-
blem, dem man sich auf internationaler Ebene und insbesondere im Rahmen
der Vereinten Nationen künftig stellen muss. Eine unilaterale Absicherung
von Handelswegen durch einzelne Staaten oder die schleichende Privatisie-
rung der Sicherheit auf Seewegen kann nicht im deutschen Interesse sein.

Drucksache 16/13475 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Eine mehr als 40-prozentige Vergrößerung des Einsatzgebietes der Opera-
tion Atalanta von 3,5 auf 5 Mio. Quadratkilometer ist für sich genommen
noch kein Beitrag zur effizienteren Eindämmung und Bekämpfung der Pira-
terie am Horn von Afrika. Die EU muss in den kommenden Monaten dem
Verdacht entgegenwirken, dass es bei der Ausweitung darum geht, Fisch-
fangflotten einzelner Mitglieder zu schützen oder gegenüber anderen mariti-
men Missionen in der Region Flagge zu zeigen.

Der Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz von Schif-
fen bzw. zur Eindämmung und Bekämpfung von Raubüberfällen auf See
weist insgesamt noch große Unterschiede und Defizite auf. Bei der Ergrei-
fung und strafrechtlichen Verfolgung der Piraten oder im Umgang mit Gei-
sellagen macht bislang jede Nation, was sie für richtig hält. Bislang fehlt es
an einer einheitlichen Strategie und an einem eng abgestimmten Vorgehen.
Eine internationale Kontaktgruppe reicht nicht aus.

Das Nebeneinander verschiedener nationaler und multinationaler Anti-Pira-
teriemissionen erhöht den Aufklärungs- und Koordinierungsaufwand und
schwächt die Wirksamkeit erheblich. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich
die neun EU-Nationen und die NATO-Partner USA und Türkei mit ihren
derzeit insgesamt 18 Schiffen und drei Aufklärungsflugzeugen in vier
Missionen verzetteln. Der Deutsche Bundestag kritisiert die vom scheiden-
den NATO-Generalsekretär vorangetriebenen Bemühungen, am Horn von
Afrika eine separate Anti-Piraterie-Mission der NATO zu etablieren.

Im Interesse eines möglichst effektiven Einsatzes der begrenzten Ressour-
cen plädiert der Deutsche Bundestag dafür, die Kräfte der EU- und NATO-
Partner sowie interessierter Drittstaaten unter dem Dach der EU-Mission
Atalanta zu bündeln. Er begrüßt und unterstützt Bemühungen, die zum Ziel
haben, die Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika so schnell wie möglich
in einem Truppenverband und unter dem Dach der Vereinten Nationen zu-
sammen zu führen.

3. Der Deutsche Bundestag kritisiert die Unübersichtlichkeit des deutschen
Engagements am Horn von Afrika. Doppelaufträge und der ständige Wech-
sel zwischen EU-, OEF-, NATO- oder nationaler Mission sind nicht länger
hinnehmbar. Je nach Unterstellungsanordnung werden Aufträge, verfas-
sungsrechtliche Grundlagen und Kompetenzen verändert. Die Operation
Enduring Freedom am Horn von Afrika hat sich seit langer Zeit als verzicht-
bar erwiesen und muss beendet werden. Alle am Horn von Afrika eingesetz-
ten maritimen Kräfte und Fähigkeiten der Bundeswehr sollen ausschließlich
der EU-Mission Atalanta zur Verfügung gestellt werden.

Der Deutsche Bundestag hat mit Sorge zur Kenntnis genommen, dass der
Bundesminister des Innern trotz des erheblichen Risikos und trotz Warnun-
gen von verschiedenen beteiligten Experten – darunter des Bundespolizei-
präsidiums – bis zuletzt bereit und entschlossen war, die Geiseln des ent-
führten Frachters HANSA STAVANGER durch Angehörige der GSG 9
befreien zu lassen. Der hochriskante Zugriff wurde – trotz massiver Ein-
wände aus dem Präsidium der Bundespolizei – nicht durch eine Entschei-
dung der Bundesregierung, sondern erst auf Grund einer Intervention der
US-Regierung abgebrochen. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst beun-
ruhigend, wenn der Bundesminister des Innern dem Bundespolizeipräsidium
die polizeiliche Führungsverantwortung bei Geiselbefreiungen entzieht und
sie allein sich und dem Kommandeur der GSG 9 überträgt. Der Deutsche
Bundestag missbilligt die Ausschaltung des polizeilichen Sachverstands bei
Geiselbefreiungen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13475

Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass Teile der Bundesregierung, ins-
besondere der Innen- und Verteidigungsminister, den Einsatz am Horn von
Afrika wiederholt missbraucht haben, um die Verfassungsmäßigkeit des
Einsatzes in Frage zu stellen und eine Grundgesetzänderung ins Gespräch zu
bringen. Damit tragen sie zu einer Verunsicherung der Öffentlichkeit und der
Soldatinnen und Soldaten bei. Die völkerrechtlichen und verfassungsrecht-
lichen Voraussetzungen für eine deutsche Beteiligung nach Artikel 24 Ab-
satz 2 des Grundgesetzes sind erfüllt. Anzustreben ist jedoch, dass das Fest-
alten von der Piraterie verdächtigen Personen im nationalen Recht näher
geregelt wird.

4. Die der Piraterie zugrunde liegenden Ursachen müssen vor allem an Land
angegangen werden. Hier hat es in den vergangenen Monaten Bewegung ge-
geben. Die auf der internationalen Geberkonferenz in Brüssel zugesagten
213 Mio. Euro müssen zügig und vorrangig in den Aufbau von Sicherheits-
strukturen abfließen. Für einen raschen Wandel wird das nicht reichen.
18 Jahre Gewalt, Hunger und bittere Armut haben tiefe Wunden hinter-
lassen. Die Menschen in Südsomalia haben das Vertrauen in funktionierende
staatliche Strukturen verloren. Das Misstrauen zwischen den Clans sitzt un-
vermindert tief. Extremismus und organisierte Kriminalität sind weit ver-
breitet, die Erwerbsmöglichkeiten gering. Jeder dritte Somali ist weiterhin
von internationaler Nahrungsmittelhilfe abhängig. Humanitäre Hilfe kommt
bei den Menschen kaum an. Zunehmend sind Politiker, aber auch unlieb-
same Presseangehörige Opfer von Terrorakten. Die AU Friedensmission
AMISOM ist überfordert. Sie ist immer öfter selbst Angriffsziel und mit
ihrem Selbstschutz beschäftigt. Ihr fehlt es an Personal, Ausstattung und
Finanzmitteln.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für ein effizientes und koordiniertes Vorgehen zur Abschreckung, Ver-
hütung und Beendigung von seeräuberischen Handlungen oder bewaffneten
Raubüberfälle und Geiselnahmen einzusetzen und hierbei

● alle am Horn von Afrika eingesetzten maritimen Kräfte und Fähigkeiten
der Bundeswehr ausschließlich der EU-Mission Atalanta zur Verfügung
zu stellen und die Mitwirkung an der Operation Enduring Freedom einzu-
stellen;

● konkurrierenden Missionen der NATO eine Absage zu erteilen und da-
rauf hinzuwirken, dass auch die anderen EU- und NATO-Partner sowie
interessierte Drittstaaten ihre Kräfte zur Pirateriebekämpfung unter dem
Dach der EU-Mission Atalanta bündeln;

● Bemühungen zu ergreifen und zu unterstützen, die zum Ziel haben, die
Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika so schnell wie möglich in
einem Truppenverband und unter dem Dach der Vereinten Nationen
zusammen zu führen;

● entschlossen gegen Akte der Piraterie, identifizierte Mutterschiffe und
kriminelle Netzwerke der Piraten vorzugehen und dabei verhältnismäßi-
ges und rechtsstaatkonformes Vorgehen zu gewährleisten, auch durch die
Vorlage eines Gesetzentwurfs, der das Festhalten von der Piraterie ver-
dächtigen Personen bis zur Entscheidung über die Strafverfolgung näher
regelt;

● dem Schutz von Leib und Leben der Geiseln Priorität beizumessen und
auf fahrlässige Missionen zur Geiselbefreiung zu verzichten;

Drucksache 16/13475 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● Reedereien stärker in die Pflicht zu nehmen, Schutzvorkehrungen zu er-
greifen und auf fahrlässige Fahrten durch das Operationsgebiet zu ver-
zichten.

2. im Hinblick auf die Beseitigung zentraler Ursachen der Piraterie und auf
eine langfristige Stabilisierung Somalias

● die Forderungen der interfraktionellen Beschlussempfehlung des Deut-
schen Bundestages (Bundestagsdrucksache 16/5754) zu dem Antrag der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN („Politische Lösungen sind Vor-
aussetzung für Frieden in Somalia“ – Bundestagsdrucksache 16/4759)
weiter umzusetzen;

● sich für die Berufung eines EU-Sonderbeauftragten und eine Verbesse-
rung der Koordination der europäischen Beiträge zur Stabilisierung
Somalias einzusetzen;

● die Zusagen, die auf der internationalen Somalia-Konferenz vom
23. April 2009 gemacht wurden, zügig umzusetzen;

● den Aufbau integrierter somalischer Sicherheitskräfte intensiver zu unter-
stützen, insbesondere das UNDP-Polizeiprogramm (Ausbildung und
Ausrüstung) finanziell, personell und perspektivisch durch eine EU-Aus-
bildungsmission zu stärken;

● ihre Ankündigung, sich im Bereich der Demilitarisierung, Demobilisie-
rung und Reintegration (DDR) von bewaffneten Kämpfern und dem Auf-
bau von Kapazitäten im Rechtsstaatsbereich engagieren zu wollen, zügig
zu konkretisieren und umzusetzen;

● AMISOM die erforderliche logistische Unterstützung zukommen zu las-
sen, für die nächsten Monate finanziell abzusichern und künftige Finanz-
sicherheit durch den Zugang zu UN-Mitteln sicherzustellen;

● sich innerhalb der Somalia-Kontaktgruppe für eine gemeinsame Strategie
im Umgang mit al-Shabaab einzusetzen und sich für die Durchsetzung
des Waffenembargos einzusetzen;

● sich innerhalb der Somalia Kontaktgruppe für die Einleitung eines Ver-
söhnungsprozess zwischen den verschiedenen politischen Lagern und der
Bevölkerung einzusetzen;

● der weiteren und zum Teil illegalen Überfischung und der Müllentsor-
gung in somalischen Wirtschaftsgewässern entschieden entgegenzuwir-
ken;

● sich für eine baldige internationale Somalia-Konferenz einzusetzen, um
eine ganzheitliche Somalia-Strategie zu beschließen.

Berlin, den 16. Juni 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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