BT-Drucksache 16/1318

Zukunft der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland

Vom 14. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1318
16. Wahlperiode 14. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Irmingard
Schewe-Gerigk, Monika Lazar, Jerzy Montag, Silke Stokar von Neuforn
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zukunft der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland

Auf Anregung des Ostberliner Runden Tisches fasste die Ministerpräsidenten-
konferenz (MPK) am 9. Januar 1991 einen Beschluss, auf Grundlage dessen
Deutschland seither rund 200 000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion aufgenommen haben soll. Die gesetzliche Grundlage für den
MPK-Beschluss wurde mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am
1. Januar 2005 außer Kraft gesetzt. Mit § 23 des Aufenthaltsgesetzes hatte die
rot-grüne Bundesregierung allerdings eine Norm geschaffen, die eine Fortfüh-
rung der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland ermöglichen sollte.

Im Juni 2005 hat nun die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Län-
der (IMK) einen Beschluss gefasst, der die Aufnahme von Jüdinnen und Juden
aus der ehemaligen Sowjetunion (mit Ausnahme der der Europäischen Union
beigetretenen baltischen Staaten) auf eine neue Grundlage stellen will. Kern
dieses Beschlusses ist die Festlegung neuer Voraussetzungen für die Aufnahme
von Jüdinnen und Juden in Deutschland.

1. Erste Aufnahmevoraussetzung soll demzufolge (außer bei Opfern national-
sozialistischer Verfolgung) die Prognose sein, dass die zuwandernden Jüdin-
nen und Juden zur Sicherung des Lebensunterhaltes „nicht dauerhaft auf
Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch an-
gewiesen sind“. Diese Sozialprognose soll auch „das familiäre Umfeld“ der/
des Zuwandernden einbeziehen. Als Kriterien schlägt der IMK-Beschluss
drei Aspekte vor: Ausbildung, berufliche Pläne und Deutschkenntnisse. Ein-
zelheiten hierzu sollten – der IMK zufolge – jedoch in einem Beirat ent-
wickelt werden, in dem Vertreterinnen und Vertreter der Länder, des Bundes,
des Zentralrates der Juden in Deutschland, der Union der progressiven Juden
und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sitzen sollten.
Dieser Beirat soll dieses Verfahren vorbereiten, begleiten und überprüfen.

2. Zum zweiten sollen zuwanderungswilligen Jüdinnen und Juden künftig be-
reits vor der Einreise „Grundkenntnisse der deutschen Sprache“ nachweisen
(Prüfungsmaßstab solle A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenz-

rahmens des Europarates für Sprachen sein). Hierfür sollten – so die IMK –
die „Kapazitäten für Sprachkurse vor Ort erweitert“ bzw. der Zugang für
jüdische Zuwanderungswillige in bereits vorhandene Deutschkurse im Her-
kunftsland „erleichtert“ werden. Einzelheiten, auch zur Finanzierung, sollen
– so die IMK – einer „gesonderten Absprache“ vorbehalten bleiben. Diese
sollten auch eine auf das Spracherfordernis bezogene Härtefall-Regelung
umfassen.

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3. Als dritte Aufnahmevoraussetzung wurde der Nachweis eingeführt, dass für
die/den Zuwanderungswilligen die Möglichkeit der „Aufnahme in einer
jüdischen Gemeinde im Bundesgebiet“ besteht. Der Nachweis dessen soll
auf einer gutachterlichen Stellungnahme der Zentralen Wohlfahrtsstelle der
Juden basieren. Die Union der Progressiven Juden soll in dieses Verfahren
ebenfalls eingebunden werden.

Das Aufnahmeverfahren selber soll – dem IMK-Beschluss zufolge – künftig
„in der Hand des BMI/BAMF liegen“. Das BAMF soll demnach die Auf-
nahmebescheide erteilen bzw. verweigern.

Welchen Aufenthaltsstatus die aufgenommenen Jüdinnen und Juden künftig
erhalten sollen, lässt der IMK-Beschluss offen. Gemeinsam aufgenommene
Familienangehörige jedoch, die selbst nicht die Voraussetzungen für eine Auf-
nahme als jüdischer Zuwandererinnen und Zuwanderer erfüllen, sollen nur eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes erhalten.

Mit dem IMK-Beschluss wurde schließlich auch eine Übergangsregelung
geschaffen: Demnach soll bei Personen, die ihren Antrag vor dem 1. Juli 2001
gestellt, von den neuen Aufnahmevoraussetzungen abgesehen werden. Bei Per-
sonen jedoch, die ihren Antrag nach dem 30. Juni 2001 gestellt hatten, könne
„nur bei der Geltendmachung eines Härtefalls (insbesondere bei Fällen der
Familienzusammenführung)“ von den neuen Aufnahmevoraussetzungen ab-
gesehen werden.

Das Verfahren soll – ebenso wie möglicherweise notwendige Rechtsänderun-
gen – zum 1. Juli 2006 in Kraft treten.

Die IMK präzisierte diesen Beschluss dann am 18. November 2005 noch ein-
mal im Umlaufverfahren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wurden seit
dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 von
Deutschland aufgenommen?

Wie viele dieser Personen sind seither in andere Länder weitergewandert
und in welche?

2. Auf welcher Grundlage wird über Aufnahmeanträge von Jüdinnen und
Juden aus der ehemaligen Sowjetunion seit Inkrafttreten des Zuwanderungs-
gesetzes entschieden?

Werden den Entscheidungen über diese Aufnahmeanträge heute schon die
von der IMK vorgeschlagenen Aufnahmekriterien (Ausbildung, berufliche
Pläne und Deutschkenntnisse) zugrunde gelegt?

Wenn ja, welche Auswirkungen hat dies auf die Zahl der aufgenommenen
Jüdinnen und Juden?

3. Wie viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben seit
Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes einen Antrag auf Aufnahme durch
die Bundesrepublik Deutschland gestellt?

4. Wie viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wurden seit
2005 durch Deutschland aufgenommen, die ihren Aufnahmeantrag

● vor dem 1. Juli 2001;

● nach dem 30. Juni 2001 bzw.

● nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes
gestellt hatten (bitte aufschlüsseln)?

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5. Mit wie vielen aufzunehmenden Jüdinnen und Juden rechnet die Bundes-
regierung in den Jahren 2006 bis 2008?

6. Wie viele Jüdinnen und Juden, die ihren Aufnahmeantrag nach dem
30. Juni 2001 gestellt hatten, wurde seit 2005 die Aufnahme durch die
Bundesrepublik Deutschland verwehrt, weil sie keinen Härtefall geltend
machen konnten?

Welche Rolle spielt bei der Geltendmachung eines Härtefalls die Frage der
Familienzusammenführung?

7. Plant die Bundesregierung – wie von der IMK vorgeschlagen – zum 1. Juli
2006 eine Verordnung bezüglich der Neuregelung der Aufnahme von
Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion?

a) Liegt hierfür ein Verordnungsentwurf bereits vor?

b) Haben der Zentralrat der Juden in Deutschland sowie die Union der
progressiven Juden diesem Entwurf zugestimmt?

8. Hat sich – wie von der IMK beschlossen – ein Beirat für das Aufnahmever-
fahren für Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gebildet?

a) Wenn ja, welche Institutionen gehören diesem Beirat an?

b) Wie oft hat bisher und wie oft soll dieser Beirat künftig tagen?

c) Welche Kompetenzen hat dieser Beirat, um das Aufnahmeverfahren für
Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion – wie von der
IMK beschlossen – „vor[zu]bereiten, [zu] begleiten und [zu] über-
prüfen“?

d) Wem gegenüber ist dieser Beirat rechenschaftspflichtig/berichtspflich-
tig?

9. Hat sich dieser Beirat auf Kriterien für die neu geforderte Sozialprognose
geeinigt?

a) Wenn ja, hat sich der Beirat hierauf einvernehmlich oder per Mehrheits-
beschluss verständigt?

b) Welche Kriterien sollen dieser Sozialprognose nunmehr zugrunde ge-
legt werden?

c) Inwiefern wird bei dieser Sozialprognose auch „das familiäre Umfeld“
der/des Zuwandernden einbezogen?

d) Welche Rolle spielt das Alter der Antragstellerin/des Antragstellers?

10. Wie werden im Rahmen dieser Sozialprognose Hochschulabschlüsse bzw.
berufliche Abschlüsse in den Herkunftsländern bewertet?

Was wurde getan, um die Anerkennung von Hochschulabschlüssen bzw.
beruflichen Abschlüssen aus den Herkunftsstaaten in Deutschland zu ver-
bessern?

11. Wie stellt sich der tatsächliche Zugang zuwanderungswilliger Jüdinnen
und Juden in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu Deutschkursen aus
Sicht der Bundesregierung dar?

a) Inwiefern wurden in den Herkunftsländern – wie von der IMK be-
schlossen – die an zuwanderungswillige Jüdinnen und Juden gerichte-
ten Kapazitäten für Sprachkurse in den Herkunftsländern „erweitert“
bzw. überhaupt erst geschaffen?

b) Inwiefern wurde jüdischen Zuwanderungswilligen der Zugang zu be-

reits vorhandenen Deutschkursen im Herkunftsland „erleichtert“?

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12. Wurde über die konkrete Ausgestaltung der Spracherfordernisse bzw. der
Bereitstellung von Deutschkursen für Jüdinnen und Juden – wie von der
IMK beschlossen – eine „gesonderte Absprache“ durchgeführt?

a) Wenn ja, wer war an dieser Absprache beteiligt?

b) Welchen Inhalt hat diese Absprache (insbesondere im Hinblick auf den
Umfang, die Gewährleistung der Erreichbarkeit sowie die Finanzierung
der Sprachkurse)?

c) Welche Rechtsqualität bzw. Rechtsverbindlichkeit haben die Ergebnisse
dieser Absprache?

13. Ist in dem Verordnungsentwurf – wie von der IMK beschlossen – eine auf
das Spracherfordernis bezogene Härtefall-Regelung enthalten; wenn ja,
welchen Inhalts, und wenn nein, warum nicht?

14. Ist im Hinblick auf die Aufnahme von Jüdinnen und Juden sichergestellt,
dass diese bei der Miteinreise bzw. dem Nachzug von Ehegatten und Kin-
dern im Vergleich zu den Regelungen in den §§ 30 ff. des Aufenthaltsge-
setzes nicht schlechter gestellt sind (z. B. im Hinblick Altersbegrenzungen;
Sprach- oder sonstige Integrationsvoraussetzungen), und wenn nein, wa-
rum nicht?

15. Inwiefern wurde im von der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden ko-
ordinierten Feststellungsverfahren zur Aufnahme sichergestellt, dass auch
säkulare Jüdinnen und Juden bzw. solche Personen Aufnahme in Deutsch-
land finden, die zwar einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter
haben oder die lediglich im Besitz einer vor 1990 ausgestellten staatlichen
Personenstandsurkunde sind, nach der sie jüdischer Nationalität sind?

Inwiefern ist hierbei eine gleichberechtigte Beteiligung der Union der pro-
gressiven Juden sichergestellt?

16. Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung der IMK, derzufolge für
die Neuregelung der Aufnahme von Jüdinnen und Juden aus der ehemali-
gen Sowjetunion „Rechtsänderungen“ notwendig sind, und wenn ja,
welche „Rechtsänderungen“ hält die Bundesregierung für erforderlich, und
wann gedenkt sie den hierfür notwendigen Rechtsetzungsprozess einzu-
leiten und abzuschließen?

17. Welchen Aufenthaltsstatus sollen aufgenommene Jüdinnen und Juden
künftig erhalten?

18. Sofern aufgenommenen Jüdinnen und Juden künftig nur noch eine Auf-
enthaltserlaubnis erhalten, wie wird dann sichergestellt, dass sie bzw. ihre
nicht-jüdischen Familienangehörigen den Rechtsanspruch auf Zugang zu
den Integrationskursen behalten (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 1 c. AufenthG)?

Berlin, den 14. Juni 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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