BT-Drucksache 16/13003

Entwicklungsländer bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise unterstützen

Vom 13. Mai 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13003
16. Wahlperiode 13. 05. 2009

Antrag
der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander
Bonde, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwicklungsländer bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise
unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Entwicklungsländer sind in dramatischer Weise von der Wirtschafts- und
Finanzkrise betroffen. Der „Global Monitoring“-Bericht des Internationalen
Währungsfonds (IWF) und der Weltbank geht von einem Rückgang des
Wachstums in Entwicklungsländern von 8,1 Prozent (2006 bis 2007) auf
1,6 Prozent für 2009 aus. Nach Einschätzung der Weltbank treibt jedes Prozent
weniger Wachstum weitere 20 Millionen Menschen in die Armut. Auch die
Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele wird erschwert. Bereits jetzt
sind aufgrund der Krise 50 Millionen Menschen neu unter die Schwelle der
absoluten Armut gefallen, bis zum Ende des Jahres könnte sich diese Zahl auf
100 Millionen Menschen steigern.

Soziale Sicherungsnetze werden in dieser Situation dringender denn je benö-
tigt. Gerade diese Netze sind ohnehin oft ungenügend vorhanden und nun
haben die Regierungen der Entwicklungsländer unter der Last der Krise noch
weniger Spielraum, sie zu finanzieren. Meist können Entwicklungsländer nicht
mit eigenen Mitteln gegensteuern oder eigene Konjunkturprogramme auflegen.
Infrastrukturprojekte, deren Umsetzung wichtig für die Entwicklung ist, gera-
ten unter Druck, werden verschoben oder aufgegeben. Um nicht noch mehr
Menschen in die Armut abgleiten zu lassen, müssen die negativen Folgen der
Krise für zahlreiche Entwicklungsländer durch internationale Gegenmaßnah-
men abgeschwächt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sicherzustellen, dass die Konjunkturprogramme der Industrieländer keine

negativen Auswirkungen auf Entwicklungsländer haben;

2. ihren bisherigen Beitrag zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise
in Entwicklungsländern zu verstärken;

3. ihre im Rahmen der EU gemachte Zusage, die Mittel für die Entwicklungs-
zusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) 2010 auf 0,51 Pro-
zent und bis 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu erhö-
hen, gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise einzuhalten;

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4. sich dafür einzusetzen, dass Verfahren zur Umsetzung von Mitteln der
Entwicklungszusammenarbeit sowohl in der Weltbank, der Europäischen
Union als auch in der bilateralen Zusammenarbeit schneller und einfacher
werden;

5. Investitionen in eine nachhaltige Entwicklung, vor allem in den Bereichen
Energieversorgung, nachhaltige Landwirtschaft und beim Aufbau sozialer
Sicherungssysteme (Sozialtransfers) zu stärken;

6. bei der Umsetzung der bereitgestellten Mittel die Einhaltung von sozialen,
ökologischen und menschenrechtlichen Standards einzufordern;

7. sicherzustellen, dass ein relevanter Teil der besseren finanziellen Ausstat-
tung von Weltbank, Internationalem Währungsfonds und regionalen Ent-
wicklungsbanken für die ärmsten Entwicklungsländer bereitgestellt wird,
um ihnen zu helfen, die Auswirkungen der Krise abzufedern;

8. Schuldenmoratorien und gegebenenfalls weitere Schuldenerlasse bei Ent-
wicklungsländern in Erwägung zu ziehen, deren Schuldentragfähigkeit in-
folge der Finanzkrise nicht mehr gewährleistet ist;

9. sich für die Schaffung eines internationalen Insolvenzverfahrens für über-
schuldete Staaten einzusetzen;

10. sich für einen Abschluss der laufenden WTO-Welthandelsrunde (Entwick-
lungsrunde) einzusetzen, der in allen Bereichen die Auswirkungen der
Wirtschafts- und Finanzkrise auf Entwicklungsländer entsprechend
berücksichtigt und ausreichende Schutzmechanismen für Entwicklungs-
länder vorsieht;

11. sich im Dialog mit anderen Industrieländern dafür einzusetzen, dass auch
vor Abschluss der laufenden WTO-Welthandelsrunde die bestehenden
Handels- und Zollbeschränkungen für die ärmsten Entwicklungsländer
(Least Developed Countries) aufgehoben werden, was in der EU mit gerin-
gen Ausnahmen bereits der Fall ist;

12. auf europäischer Ebene in den weiteren Verhandlungen über die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) die Flexibilität für Entwicklungs-
länder zu erhöhen;

13. sämtliche EU-Agrarexportsubventionen zu streichen;

14. Vorschläge zur Senkung der Kosten von Geldüberweisungen von Migran-
tinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer zu erarbeiten und damit die
Rückgänge der Überweisungen von Arbeitskräften abzumildern;

15. keiner Verschärfung der Migrationspolitik der Europäischen Union infolge
der Wirtschafts- und Finanzkrise zuzustimmen.

Berlin, den 13. Mai 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat mittlerweile globale Ausmaße angenom-
men. Die Krisen treffen gerade die Ärmsten unvorbereitet und unverschuldet.

Die Wirtschaft vieler Entwicklungsländer befindet sich im freien Fall. Die welt-

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weite Rezession droht die unter großen Anstrengungen errungenen Fortschritte
der vergangenen Jahrzehnte bei der Armutsbekämpfung auf einen Schlag zu-
nichte zu machen. Ähnlich wie beim Klimawandel gilt auch bei der Wirt-
schafts- und Finanzkrise: Die Länder, die die geringste Schuld tragen, leiden
am stärksten unter den Folgen. Während Expertinnen und Experten die west-
liche Welt schon ab 2010 auf dem Weg der Besserung sehen, könnte sich die
Lage in den Entwicklungsländern erst mit einer großen Verzögerung entspan-
nen.

In den Industrie- und Schwellenländern werden zur Stabilisierung des Finanz-
systems und als Reaktion auf die Rezession milliardenschwere Konjunkturpro-
gramme aufgelegt. Die bislang angekündigten Konjunkturpakete summieren
sich bis Januar 2009 auf rund 1 650 Mrd. US-Dollar (ohne jegliche Finanzhil-
fen für Banken). Nach Einschätzung der Weltbank sind jedoch nur ein Viertel
aller Entwicklungsländer in der Lage, aus eigenen Mitteln Konjunkturpro-
gramme aufzulegen und soziale Sicherungsmaßnahmen für ihre Bevölkerung
zu finanzieren. Denn anders als in den Industrieländern fehlen in den Entwick-
lungsländern häufig die Rücklagen bzw. die Kreditfähigkeit für Konjunkturpro-
gramme. Mit der auf dem G20-Gipfel in London beschlossenen besseren finan-
ziellen Ausstattung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank sind
Ansätze zur Stabilisierung von Schwellen- und Entwicklungsländern bei Zah-
lungsbilanzschwierigkeiten erfolgt. Doch damit wird die Lage nicht umfassend
entschärft.

Der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick, hatte sich daher dafür ausgespro-
chen, einen Anteil von 0,7 Prozent der Konjunkturprogramme der Industrielän-
der für die Bekämpfung der Auswirkungen der Krise in Entwicklungsländern
zu verwenden. Wirtschaftsnobelpreisträger und Vorsitzender der UN-Experten-
kommission zur Reform der Geld- und Finanzmärkte, Joseph Stiglitz, fordert
kürzlich ein Prozent. Leider spielten diese Vorschläge jedoch weder auf dem
G20-Gipfel in London noch auf der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank
eine konkrete Rolle.

Laut einer Studie der Weltbank geht in 94 von 116 untersuchten Entwicklungs-
ländern das Wirtschaftswachstum zurück – wobei die Bank davon ausgeht, dass
bei steigender Bevölkerung Wachstum eine der Voraussetzungen für die Errei-
chung der Millenniumsentwicklungsziele ist. In vielen der ärmsten Entwick-
lungsländer reichen die Finanzmittel kaum noch aus, um den Staatsapparat zu
finanzieren, geschweige denn, die Bevölkerung mit Zuschüssen – etwa für
Nahrung – zu unterstützen.

Der Welthandel, zu dem die Entwicklungsländer rund ein Drittel beitragen, ver-
zeichnet dramatische Einbrüche. Die Rohstoffpreise fallen, der Geldzufluss in
arme Länder gerät ins Stocken, eine Kreditaufnahme ist für sie kaum noch
möglich. Viele ausländische Firmen stoppen zudem ihre Investitionen in Ent-
wicklungs- und Schwellenländer. Selbst China, das in den letzten Jahren als
einer der größten Investoren in vielen afrikanischen Ländern auftrat, um Zu-
gang zu Rohstoffen zu erhalten, ist derzeit zurückhaltend. So wurden z. B. in
der Demokratischen Republik Kongo mehrere hundert von chinesischen Unter-
nehmern betriebene Kupferminen in der rohstoffreichen Provinz Katanga, die
bisher die Hälfte der Staatsdevisen erwirtschaftete, geschlossen.

Eine stetig steigende Zahl von Familien in Entwicklungsländern ist von Rück-
überweisungen ihrer im Ausland arbeitenden Angehörigen abhängig. Nunmehr
sind zum ersten Mal seit zehn Jahren die Zahlungen rückläufig. Migrantinnen
und Migranten sind in wirtschaftlichen Krisenzeiten häufig die ersten, die auf
der Straße stehen. Die Interamerikanische Entwicklungsbank erwartet, dass
rund zehn Prozent weniger Rücküberweisungen nach Lateinamerika fließen

werden – also in die Region, die mit 69 Mrd. Dollar im Jahr 2008 weltweit die
meisten Rücküberweisungen erhielt.

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Eine ganze Reihe von Staaten – darunter auch einige, die in den letzten Jahren
deutliche Fortschritte erzielten – werden durch die aktuelle Krise in ihrer wirt-
schaftlichen Entwicklung um Jahre zurückgeworfen. Eine Erreichung der Mil-
lenniumsentwicklungsziele rückt unter diesen Bedingungen in noch weitere
Ferne.

Die Weltbank wird ihr Ausleihvolumen in diesem Jahr erhöhen, doch auch sie
verfügt nicht über die Mittel, um im notwendigen Maße auf die Krise zu reagie-
ren. Aktuell geht die Weltbank von einer Finanzierungslücke von zwischen 270
und 700 Mrd. US-Dollar aus – abhängig vom weiteren Verlauf der Krise und
den möglichen politischen Reaktionen hierauf.

Sie schätzt, dass die Geber bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen zur Erhö-
hung der Entwicklungsgelder aus dem Jahr 2005 (Gleneagles) bereits vor
Beginn der Finanzkrise um 39 Mrd. US-Dollar hinterherhinkten. Auch die
Bundesregierung lässt nicht erkennen, wie sie ihre Zusagen auch wirklich um-
setzen wird. Es ist zu befürchten, dass diese Zusagen in Zeiten der Krise noch
weniger eingehalten werden. So hat beispielsweise Italien bereits angekündigt,
seine Entwicklungsgelder dieses Jahr um 55 Prozent zu kürzen.

Die zusätzlichen Mittel, die Entwicklungsländern als Reaktion auf die Aus-
wirkungen der Wirtschaftskrise bereitgestellt werden, müssen der erwähnten
Finanzierungslücke angemessen sein. Die Bundesregierung wird eine Infra-
strukturkrisenfazilität der Weltbank aus ihrem zweiten Konjunkturpaket mit
100 Mio. Euro unterstützen. Durch Einbeziehung von Eigenmitteln und zins-
vergünstigten Darlehen der KfW-Entwicklungsbank werden von deutscher
Seite insgesamt 730 Mio. US-Dollar – umgerechnet 550 Mio. Euro – für Ent-
wicklungsländer bereitgestellt. Doch angesichts seiner Wirtschaftskraft ist
Deutschland in der Lage, einen höheren Beitrag aus Haushaltsmitteln bereitzu-
stellen und sollte dies auch tun.

Überlässt die internationale Staatengemeinschaft die ärmsten Länder ihrem
Schicksal werden Millionen Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. Dem
müssen wir entgegentreten.

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