BT-Drucksache 16/12846

Für eine solidarische Gesundheits- und Pflegeabsicherung

Vom 5. Mai 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12846
16. Wahlperiode 05. 05. 2009

Antrag
der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, Inge Höger, Katja Kipping, Elke Reinke, Volker
Schneider (Saarbrücken), Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Für eine solidarische Gesundheits- und Pflegeabsicherung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Gesundheit ist eine zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und
Selbstbestimmung jeder und jedes Einzelnen. Entscheidenden Einfluss auf die
Gesundheit hat die soziale Lage. In der Regel gilt: Menschen mit niedrigerem
Einkommen, Bildungsniveau oder einer niedrigeren und unsicheren beruflichen
Position sind häufiger von Krankheiten betroffen und sterben zumeist früher.
Verkürzt gefasst lässt sich sagen: Armut macht krank. Dieser Zustand darf nicht
länger hingenommen werden.

Das Gesundheitssystem muss den Menschen dienen und dafür sämtliche er-
forderlichen medizinischen Hilfen und Leistungen bereitstellen sowie die
Gesundheit fördern. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort oder Ein-
kommen sollen Gesundheitsressourcen gestärkt, Gesundheitsrisiken bekämpft
und Krankheiten geheilt werden. Dabei ist ein ganzheitlicher Gesundheits-
ansatz zu verfolgen. Gesundheit ist – auch nach der Definition der Weltgesund-
heitsorganisation (WHO) – mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gemäß
der Ottawa-Charta von 1986 hat Gesundheitspolitik das körperliche, geistige
und soziale Wohlbefinden der Menschen zu fördern. Der UN-Sozialpakt vom
19. Dezember 1966 schreibt das Recht für medizinische Versorgung fest. Die
Vertragsstaaten sollen die Voraussetzungen schaffen, die für jede Person im
Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Be-
treuung sicherstellen. Die Bundesrepublik Deutschland hat den UN-Sozialpakt
bereits 1973 vorbehaltlos ratifiziert. Er ist geltendes Recht.

Doch die grundsätzlichen Ziele der Gesundheitspolitik werden zunehmend zu-
gunsten von Kommerzialisierung und Privatisierung aus den Augen verloren.
Öffentliche Einrichtungen werden verkauft. Aus der gesetzlichen Kranken-
versicherung (GKV) wird ein Wirtschaftszweig. Den Akteuren wird ein Wett-
bewerb über den Preis aufgezwungen. Dieser Wettbewerb hat negative Aus-
wirkungen auf die Qualität der Versorgung der Patientinnen und Patienten.

Außerdem müssen sie immer mehr zuzahlen, in der Apotheke für jedes Medi-
kament, in der Arztpraxis die „Eintrittsgebühr“, in der Klinik das Krankenhaus-
tagegeld oder bei der Physiotherapie für jede Behandlung.

Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf medizinische Versorgung. Deshalb ist
das Gesundheitssystem von den Regeln des Marktes zu befreien und öffentlich
zu regulieren.

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Kommerzialisierung und Privatisierung gefährden die Gesundheit.

Seit Mitte der 1970er Jahre steht die Kostendämpfung im Mittelpunkt der
Gesundheitspolitik. Wichtigstes Ziel der Bundesregierungen ist seitdem, die
Arbeitgeber auf dem Rücken der Versicherten sowie der Patientinnen und
Patienten zu entlasten. Diese müssen die Gesundheitskosten zunehmend selbst
tragen. Die paritätische Finanzierung wurde ausgehebelt. Die Beiträge zur
Krankenkasse werden folglich nicht mehr zur Hälfte von Arbeitgebern und zur
anderen Hälfte von den Versicherten gezahlt. Stattdessen tragen die GKV-Ver-
sicherten mit ihren Beiträgen sowie mit Zuzahlungen, Praxisgebühr, „Eigen-
leistungen“ und dem Sonderbeitrag von 0,9 Prozent mittlerweile fast zwei
Drittel der Kosten, die Arbeitgeber nur noch ein Drittel. Von paritätischer
Finanzierung kann insofern nicht mehr gesprochen werden.

Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) von 2007 forciert diese
Politik. Lediglich zu Beginn soll der Gesundheitsfonds alle Ausgaben der
Krankenkassen abdecken. Danach erfolgt eine Anpassung des Beitragssatzes
erst, wenn weniger als 95 Prozent der Kosten durch den Fonds abgedeckt wer-
den können. Die restlichen fünf Prozent, immerhin etwa 8,5 Mrd. Euro, die
Versicherten zahlen. Einen Zusatzbeitrag von einem Prozent des Einkommens
oder aber eine Pauschale müssen die Versicherten tragen. Bis zu acht Euro darf
die Pauschale betragen, ohne dass das Einkommen geprüft wird. Bereits durch
diesen Betrag werden Menschen mit geringem Einkommen finanziell überfor-
dert.

Die Krankenkassen werden alles daran setzen, so lange wie möglich keinen
Zusatzbeitrag erheben zu müssen. Im Wettbewerb der Kassen können sie es
sich nicht leisten, dadurch Mitglieder zu verlieren. Der Druck auf die Kranken-
kassen, Leistungen zu rationieren, erhöht sich damit weiter. Die Kranken-
kassen werden den ökonomischen Druck auf die Leistungsanbieter wie Ärz-
tinnen und Ärzte oder Krankenhäuser weitergeben. Schon jetzt werden durch
die Ausschreibung von Hilfsmitteln die billigsten Anbieter ermittelt, um Kos-
ten zu minimieren. Wenn Krankenkassen per Ausschreibung den kostengüns-
tigsten Anbieter ermitteln und diesen beauftragen, leiden zumeist Qualität, Ser-
vice und Erreichbarkeit für Patientinnen und Patienten. Ein solcher Preiswett-
bewerb geht folglich zu Lasten der Versorgung der Patientinnen und Patienten.

Die Einnahmen der Kranken- und Pflegeversicherung bleiben durch Arbeits-
losigkeit, Anstieg des Niedriglohnsektors und geringe Lohnzuwächse hinter
den Ausgaben zurück. Deshalb kommt es immer wieder zu Beitragssatz-
erhöhungen. Die Beitragsbemessungsgrenze schont Besserverdienende, denn
der Teil des monatlichen Einkommens, der derzeit über 3 675 Euro liegt, wird
bei der Beitragsberechnung nicht herangezogen. Oberhalb der Pflichtversiche-
rungsgrenze können Gutverdienende wie auch bestimmte Berufsgruppen in die
private Krankenversicherung (PKV) abwandern.

Die Krankenkassen können seit 2007 „Wahltarife“ anbieten. Das widerspricht
dem Solidarprinzip in der GKV. Das Solidarprinzip soll einen Ausgleich
zwischen reich und arm sowie gesund und krank sicherstellen. Die meisten
Wahltarife haben sozial diskriminierende und entsolidarisierende Wirkungen.
Selbstbehalttarife oder Rückerstattung von Beiträgen entlasten Gesunde zu-
lasten von Kranken. Deshalb darf es nur Wahltarife geben, die Gesunden wie
Kranken gleichermaßen Vorteile bringen. Dazu zählen die Teilnahme an be-
sonderen Versorgungsformen (Modellvorhaben, hausarztzentrierte Versorgung,
Bindung an bestimmte Leistungserbringer, Disease-Management-Programme
(DMP), Integrierte Versorgung).

Die flächendeckende stationäre Versorgung ist in Gefahr. Die Bundesländer
kommen ihren Verpflichtungen bei Weitem nicht nach, ausreichend Mittel für

die Modernisierung und Ausstattung der Krankenhäuser zur Verfügung zu

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stellen. Mittlerweile ist ein Investitionsstau von bis zu 50 Mrd. Euro aufgelau-
fen. Weder das im Winter 2008/2009 verabschiedete Krankenhausfinanzie-
rungsreformgesetz (KHRG) noch das Konjunkturpaket II schaffen es, diesen
Investitionsstau aufzulösen. In vielen kommunalen Krankenhäusern reichen die
Einnahmen nicht aus, um die laufenden Kosten zu decken. Zahlreiche Kran-
kenhäuser stehen kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, viele werden von privaten
Trägern übernommen. Mittlerweile sind 30 Prozent aller Krankenhäuser in pri-
vater Hand. Dadurch werden Krankenhäuser zu „Profit-Centern“, die für die
Geldgeber Gewinne zu erwirtschaften haben.

Die Finanznot der Krankenhäuser bedeutet für die Patientinnen und Patienten
oft eine bedrohliche Verschlechterung der Qualität der Behandlung. Die Be-
schäftigten müssen in der Regel immer belastendere Arbeitsbedingungen und
weniger Lohn hinnehmen. Die Kommerzialisierung der Kliniken verlangt von
den Beschäftigten eine Fließbandmentalität. Krankenhäuser versuchen, immer
mehr Behandlungsfälle pro Jahr „durchzuschleusen“. Für Patientinnen und
Patienten kann dies zu vorzeitigen, sogenannten blutigen Entlassungen führen.

Drohende und erst recht schon aktuell bestehende Unterversorgung der ambu-
lanten Versorgung, vor allem in ländlichen Regionen, muss wirkungsvoll
bekämpft werden. In den ostdeutschen Bundesländern sind mittlerweile über
750 Praxen verwaist. Auch in sozialen Brennpunkten von Großstädten ist die
Versorgungssituation weit schlechter als in den Stadtteilen, in denen der wohl-
habende und zumeist privat versicherte Teil der Bevölkerung wohnt.

Viele der sogenannten Medizinischen Versorgungszentren sind reine „Profit-
Center“, mit denen Klinik-Konzerne in den ambulanten Bereich drängen. Diese
Aktienkonzerne müssen Profite für ihre Anleger erwirtschaften. Das Wohl der
Patientinnen und Patienten ist eher zweitrangig. Zudem bieten „Medizinische
Versorgungszentren“ den Kliniken die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten
ins eigene Haus einzuweisen. So entstehen „Wertschöpfungsketten“, bei denen
die Behandelten lediglich Mittel zum Zweck sind.

Gegenwärtig garantiert die inhabergeführte Präsenzapotheke eine patienten-
nahe, sichere und rasche Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patien-
ten. Da Versandapotheken ihre Leistungen auf die attraktivsten Bereiche der
Arzneimittelabgabe beschränken können, entziehen sie den Präsenzapotheken
wichtige Einnahmen. Dadurch ist die flächendeckende Versorgung auf mittlere
Sicht durch den Versandhandel mit Medikamenten gefährdet. Die Versand-
apotheken können die Versorgung durch Notdienste oder kurzfristige Beliefe-
rungen nicht sicherstellen.

Die Pharma-Konzerne erwirtschaften Jahr für Jahr Milliarden Euro an Profiten
zu Lasten der Versicherten sowie der Patientinnen und Patienten. Regelmäßig
können überproportionale Preissteigerungen verwirklicht werden. Die punktu-
ellen Eingriffe der Bundesregierung in den Pharmamarkt haben keine aus-
reichende Wirkung. Das zeigt, es liegt ein Systemversagen der Bundesregie-
rung gegenüber den Problemen des Gesundheitssystems vor.

Gesundheitsversorgung muss für alle frei zugänglich und sichergestellt
sein.

Wir brauchen eine soziale Politik und eine sozial sensible Gesundheitspolitik.
Gesundheitsförderung und Prävention können einen Beitrag dazu leisten, sozial
bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen zu verringern. Erfolgreiche
Präventionsprogramme müssen in den Lebenswelten der Menschen – Kinder-
tagesstätten, Schulen oder Stadtteilen – ansetzen und die Menschen an der
Planung, Gestaltung und Umsetzung beteiligen. Ein Präventionsgesetz, das
Gesundheitsförderung und Prävention zu einer tragenden Säule im Gesund-

heitssystem macht, ist längst überfällig.

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Im Mittelpunkt der Anstrengungen des Gesundheitssystems muss die um-
fassende Versorgung aller Patientinnen und Patienten stehen. Dem stehen starke
Kräfte entgegen: Die Strukturen des Gesundheitssystems sind weitgehend nach
den Interessen der mächtigen Akteure wie Ärzteschaft, Krankenkassen und
Pharmakonzernen ausgerichtet. Die Interessen der Patientinnen und Patienten
und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten kommen zu kurz. Das Gesundheitssystem
muss daher grundlegend neu gestaltet werden.

Nur wenn es gelingt, in regionalen oder kommunalen Gesundheitskonferenzen
alle Beteiligten, das heißt sämtliche Leistungserbringer, die Krankenkassen, den
öffentlichen Gesundheitsdienst, die Krankenversicherten, die Vereinigungen für
Gesundheitsförderung und Prävention, aber auch die Selbsthilfe und Vertrete-
rinnen und Vertreter der Patienten zusammenzubringen und ihnen vermehrt
Entscheidungskompetenzen zu übertragen, kann das Gesundheitssystem im
Interesse aller fortentwickelt und den Einzelinteressen der Leistungserbringe-
rinnen und Leistungserbringern entzogen werden.

Für die Gesundheitskonferenzen werden Versorgungsdaten aus der Versorgungs-
forschung benötigt. So kann eine an Gesundheitszielen orientierte Gesundheits-
berichterstattung gefördert werden. Zudem gilt es, Versorgungsforschung aus-
zubauen und breit anzulegen, um die Qualität der Patientenversorgung zu ver-
bessern und die „Spreu vom Weizen“ zu trennen. Gleichzeitig ist die geschlech-
ter- und altersspezifische Gesundheitsforschung zu verbessern.

Für eine gute integrierte Versorgung brauchen wir öffentliche und frei-gemein-
nützige Krankenhäuser, die angemessen finanziert werden. Diese sollen mit
eigenen poliklinischen Strukturen an der ambulanten Versorgung teilnehmen.
Die Trennung von ambulanten und stationären Einrichtungen der Gesundheits-
versorgung muss endlich überwunden werden. Damit können die vorhandenen
Ressourcen effizienter eingesetzt werden.

Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam dazu beitragen, für alle
Menschen in Deutschland eine erreichbare stationäre Versorgung zu garantie-
ren. Ebenfalls ist die hausärztliche Versorgung wohnortnah zu gewährleisten.
Dafür ist unter anderem die freie Arztwahl sicherzustellen und eine gerechte
Honorierung maßgeblich.

Die Versorgung mit Arzneimitteln muss überall – auch in ländlichen Regionen –
sichergestellt sein. Nur inhabergeführte Präsenzapotheken können Notfall-
versorgung, eine kurzfristige Bereitstellung von Arzneimitteln und adäquate
Beratung gewährleisten.

Die Beschäftigten in der Krankenversorgung und Pflege/Assistenz sind für ihre
wichtige Tätigkeit ausreichend zu entlohnen. Gerade hier müssen Anreize
geschaffen werden, damit in Zukunft genügend Personen für die wachsenden
Aufgaben in diesen Bereichen zur Verfügung stehen. Auch die Heilmittel-
erbringerinnen und -erbringer müssen angemessen vergütet werden. Für gleiche
Arbeit muss es auch gleiche Bezahlung in Ost und West geben. 20 Jahre nach
der deutschen Einheit darf es keine Bereiche der gesundheitlichen Versorgung
mit unterschiedlichen Vergütungen mehr geben.

Die Auseinandersetzungen um die ärztlichen Honorare in diesem Jahr zeigen,
dass eine transparente und gerechte Verteilung der zur Verfügung stehenden
Finanzmittel herzustellen ist. Die freiberuflich tätigen Ärztinnen und Ärzte
dürfen zudem nicht immer mehr dazu verleitet bzw. gezwungen werden, bei der
Ausgestaltung ihrer Tätigkeit Profitinteressen zu folgen, statt ihrer eigentlichen
Aufgabe des Heilens und der Zuwendung zu Patientinnen und Patienten das
Hauptaugenmerk zu schenken.

Auch die Arzneimittelversorgung muss qualitativ auf einem hohen Niveau

gewährleistet und die Ausgaben dafür effektiv begrenzt werden. Wirksame

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Instrumente zur Reduzierung der Arzneimittelausgaben sind die Positivliste
und die Absenkung der Mehrwertsteuer apothekenpflichtiger Arzneimittel auf
7 Prozent. Anders als in den meisten europäischen Ländern gibt es in Deutsch-
land immer noch keine Positivliste, die nur sinnvolle und nützliche Arznei-
mittel enthält, die zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen. Zudem ver-
dient der Staat an der Krankheit mit. Über 6 Mrd. Euro Steuereinnahmen brin-
gen die 19 Prozent Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. In fast allen europäischen
Nachbarstaaten wird entweder der reduzierte Mehrwertsteuersatz veranschlagt
oder gar keine Mehrwertsteuer auf Arzneimittel erhoben. Der Versandhandel ist
auf rezeptfreie Arzneimittel zu beschränken.

Eine grundlegende Reform der Pflege- und Assistenzabsicherung ist seit
langem überfällig.

Seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurden die Leistungen der Pflege-
versicherung nicht angehoben. Infolgedessen verloren sie deutlich an Wert. Mit
der Pflegereform 2008 gleicht die Bundesregierung diesen Wertverlust nicht aus.
Einige Leistungen wurden gar nicht, manche lediglich um 10 Euro angehoben.
Ähnlich gering sind die geplanten Leistungsanhebungen 2010 und 2012. Damit
bleibt es bei einer dauerhaften Leistungsminderung. Eine Dynamisierung der
Leistungen ab 2015 ist völlig unzureichend. So werden zunehmend mehr pflege-
bedürftige Menschen in die Sozialhilfe gedrängt. Diese Situation wollte der
Gesetzgeber mit der Einführung der Pflegeversicherung aber vermeiden.

Der Generalfehler der Pflegereform 2008 ist, dass der Pflegebegriff nicht neu
definiert wurde. Die Neudefinition des Pflegebegriffs ist eine entscheidende
Voraussetzung für eine ganzheitliche Pflege und selbstbestimmte Teilhabe. Seit
Einführung der Pflegeversicherung ist der ihr zu Grunde liegende verrichtungs-
bezogene Pflegebegriff zu eng. Er benachteiligt insbesondere Menschen mit
demenziellen Erkrankungen und sogenannten geistigen Behinderungen. Da der
von der Bundesregierung erst im Oktober 2006 eingesetzte „Beirat zur Über-
prüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs“ seine Empfehlungen für einen erwei-
terten Pflegebegriff und für ein neues Begutachtungsverfahren im Januar 2009
vorgelegt hat, kamen diese zu spät für die Berücksichtigung in der letzten
Pflegereform.

Die Empfehlungen des Beirats, die Pflegebedürftigkeit nicht mehr maßgeblich
an der erforderlichen Pflegezeit, sondern am Grad der Selbständigkeit zu be-
messen, weisen in die richtige Richtung. Um zu verhindern, dass ein solcher
neuer Pflegebegriff nach der im September 2009 anstehenden Bundestagswahl
wieder fallengelassen wird, sind entsprechende Weichenstellungen noch in die-
ser Legislatur erforderlich. Für einen Paradigmenwechsel hin zu einer Pflege/
Assistenz, die Teilhabe ermöglicht, kommt es insbesondere darauf an, dass die
Leistungen angemessen und ausreichend finanziert werden.

Pflege und Assistenz müssen für alle, unabhängig ihrer sozialen Situation, in
vollem Umfang gewährleistet werden. Die Konzeption der Pflegeversicherung
als Teilkaskoversicherung verhindert, selbstbestimmt zu leben. Menschen mit
geringem Einkommen trifft der Teilkasko-Charakter der Pflegeversicherung
besonders hart. Sie können sich meist keine professionelle Pflege und/oder
Assistenz leisten. Dabei sind sie von Pflegebedürftigkeit häufiger und früher
betroffen als Menschen mit höherem Einkommen. Angehörige müssen den er-
heblichen Hilfe- und Unterstützungsbedarf auffangen. Überforderung und
Überlastung der zumeist weiblichen pflegenden Familienangehörigen sind an
der Tagesordnung. Die Einführung einer bezahlten Pflegezeit kann – wie auch
der Ausbau der ambulanten Pflege – eine spürbare Entlastung bringen und
häusliche Pflege länger ermöglichen.

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Eine nachhaltige Finanzierung muss auf gerechter Basis gesichert werden.

Nur mit einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung kann soziale
Gerechtigkeit und eine dauerhafte, stabile Finanzierungsgrundlage für eine um-
fassende gesundheitliche Versorgung für alle geschaffen werden. Kernelemente
einer solchen solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist die Mit-
gliedschaft für alle Menschen in Deutschland, eine umfassende und zuzah-
lungsfreie Regelversorgung, gleicher prozentualer Beitrag auf alle Einkommen
aller Einkommensarten bei schrittweiser An- und späterer Aufhebung der Bei-
tragsbemessungsgrenze, Herstellung der Parität sowie die Beschränkung der
privaten Krankenversicherung auf den Bereich von Zusatzversicherungen. So
wird eine Zwei-Klassen-Medizin verhindert.

Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ist auch für den Bereich
der Pflegeversicherung zu schaffen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. als Sofortmaßnahme sicherzustellen, dass die Einnahmen der gesetzlichen
Krankenkassen über den Gesundheitsfonds die Ausgaben der Kranken-
kassen dauerhaft zu 100 Prozent decken. Einnahmeausfälle durch geringere
Beitragszahlungen müssen über einen entsprechenden Steuerzuschuss kom-
pensiert werden. Zusatzbeiträge, die nur von den Mitgliedern zu zahlen sind,
sind durch diese Maßnahme zu vermeiden. Die Steuermittel sind nicht – wie
im derzeitigen Gesetz vorgesehen – als Darlehen, sondern als Zuschuss zu
gewähren. Solange noch Zuzahlungen erhoben werden, muss die Härtefall-
regelung, die bis 2004 galt, wieder in Kraft gesetzt werden. Damit werden
Menschen mit geringem Einkommen durch Zuzahlungen finanziell nicht
mehr überfordert und können es sich wieder leisten, behandelt zu werden;

2. Rahmenbedingungen für ein demokratisches und am Bedarf der Bevölke-
rung ausgerichtetes Gesundheitssystem zu schaffen. Dieses umfasst ins-
besondere:

a) Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf eine gesundheitliche Versorgung
auf dem Stand der Wissenschaft. Der Staat hat die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass dieses Recht verwirklicht wird. Kommerzialisierung
und Privatisierung im Gesundheitssystem sind entsprechend zu beenden
bzw. rückgängig zu machen,

b) das Gesundheitssystem transparent zu gestalten,

c) Gremien wie regionale bzw. kommunale Gesundheitskonferenzen ein-
zuführen und diese mit Entscheidungskompetenzen für die regionale oder
kommunale Versorgungsstruktur auszustatten. Perspektivisch sollen
diese über das Gesundheitsbudget für die Regionen verfügen,

d) die Beteiligungsmöglichkeit von Patientinnen- und Patientenvertretern
in Gremien zu stärken,

e) Ombudsstellen zur Durchsetzung der Interessen von Patientinnen und
Patienten vorzusehen und auch deren Einrichtung auf Landesebene zu
unterstützen,

f) eine Versorgungsforschung, die durch die Bundesregierung stärker ge-
fördert wird und insbesondere auch unter geschlechter- und alters-
spezifischen Aspekten ausgerichtet sein muss;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/12846

3. Gesundheitsförderung und Prävention als eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe zu stärken. Dies soll erfolgen, indem

a) ein Präventionsgesetz auf den Weg gebracht wird und das Gesundheits-
system der Zukunft – entsprechend der WHO-Definition – auch als ein
präventives Gesundheitssystem ausgestaltet wird,

b) mit einem Präventionsgesetz darauf abgezielt wird, sozial-, geschlechts-,
behinderungs- und migrationsbedingte Ungleichheiten der Gesundheits-
chancen zu verringern,

c) die Strategie des Gender Mainstreamings verbindlich in der Gesundheits-
förderung und Prävention verankert wird,

d) alle Präventionsmaßnahmen an bundeseinheitlichen Präventionszielen
ausgerichtet werden und für alle an der Gesundheitsförderung und Prä-
vention Beteiligten verbindlich sind,

e) die lebensweltbezogene Prävention deutlich gestärkt wird. Zwei Drittel
der Ausgaben müssen in Projekte und Programme der lebensweltbezoge-
nen Prävention fließen,

f) die jeweiligen Zielgruppen so umfassend wie möglich an der Planung,
Gestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt werden. Es sind Strategien zu
entwickeln, wie partizipative Entscheidungsstrukturen von der Konzep-
tion von Projekten und Programmen der Gesundheitsförderung und
Prävention bis hin zur Qualitätssicherung gewährleistet werden können,

g) eine Koordinierungs- und Entscheidungsstelle auf Bundesebene geschaf-
fen wird, die über eigene finanzielle Mittel im Rahmen eines Fonds ver-
fügt,

h) vorhandene bewährte Strukturen auf Landes- und kommunaler Ebene
weiterentwickelt und verstetigt werden,

i) die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Gesundheitsförderung
und Prävention auch in der Finanzierung zum Ausdruck kommt. Bund,
Länder und Kommunen müssen sich ebenso wie die Sozialversicherungs-
zweige und die private Kranken- und Pflegeversicherung beteiligen. Zum
Start sind aus dem Bundeshaushalt in den nächsten vier Jahren jeweils
1 Mrd. Euro an den Fonds zu überweisen;

4. Maßnahmen zu ergreifen, die die gesundheitliche Versorgung für alle Bürge-
rinnen und Bürger auf hohem Niveau sicherstellen. Dazu

a) müssen die vorhandenen Ressourcen im Bereich der ambulanten Ein-
richtungen, der Krankenhäuser, der Rehabilitations- und Pflegeeinrich-
tungen auf regionaler Ebene vernetzt und am Bedarf der Bevölkerung
ausgerichtet werden,

b) gehört eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser und
der Abbau des Investitionsstaus von 50 Mrd. Euro gemeinsam durch
Bund und Länder,

c) soll die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Bundesländern
weitere Privatisierungen von Krankenhäusern unterbinden und dazu bei-
tragen, bereits privatisierte Häuser wieder in öffentliche Trägerschaft zu-
rückzuführen,

d) sind Ausbildung, Qualifikation und Attraktivität für Gesundheits- und

Pflegeberufe zu verbessern,

Drucksache 16/12846 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

e) sind Beschäftigte, die Hinweise auf Missstände in ihrem Arbeitsbereich
melden, besser zu schützen. Hierfür ist der Informantenschutz für Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer rechtlich zu verankern und zu stär-
ken,

f) muss die drohende und die schon bestehende ärztliche Unterversorgung
effektiver bekämpft werden,

g) ist das Vergütungssystem für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte auf
eine neue Grundlage zu stellen,

h) müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass alle medizinischen
Leistungen zwanzig Jahre nach der Einheit in Ost und West endlich ein-
heitlich vergütet werden,

i) muss das Vordringen profitorientierter Kapitalgesellschaften und Kon-
zerne in den ambulanten Versorgungsbereich (z. B. über die Gründung
von Medizinischen Versorgungszentren) unterbunden werden,

j) ist die integrierte Versorgung zur Überwindung der Grenzen zwischen
ambulanter und stationärer Versorgung auszubauen,

k) sind diskriminierende Wahltarife als Angebote der GKV zu untersagen,

l) sind ganzheitliche Gesundheitsansätze zu verfolgen und weiterzuent-
wickeln,

m) müssen die Hierarchien zwischen den verschiedenen Berufsgruppen der
Leistungserbringerinnen und Leistungserbringer abgebaut und deren
Kompetenzen und Befugnisse besser an der Versorgung ausgerichtet
werden,

n) sind die Ausgaben für Arzneimittel durch die Einführung einer Positiv-
liste zu begrenzen,

o) ist die Mehrwertsteuer für apothekenpflichtige Arzneimittel auf den
ermäßigten Satz von derzeit 7 Prozent zu reduzieren,

p) soll die Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten inhaber-
geführten Apotheken vorbehalten bleiben. Der Versandhandel für ver-
schreibungspflichtige Arzneimittel ist zu untersagen,

q) ist die Versorgung mit Hilfsmitteln an der Qualität, Erreichbarkeit und
dem Service im Interesse der Patientinnen und Patienten auszurichten
und die Möglichkeit von Ausschreibungen durch die Krankenkassen, die
sich nicht an den Interessen und Bedürfnissen der Patientinnen und
Patienten orientieren, abzuschaffen,

r) hat jeder Mensch das gleiche Recht auf Schutz und Sicherung seiner
Gesundheit durch Prävention, medizinische Behandlung und Rehabilita-
tion. Der Wettbewerb unter den Krankenkassen ist auf die Qualität der
Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger und nicht vorwiegend auf die
billigste Versorgung auszurichten. Der künstliche Wettbewerb durch die
zunehmende finanzielle Unterdeckung ist zurückzunehmen. Stattdessen
sind Instrumente zur Förderung der Qualität und Wirtschaftlichkeit
innerhalb der Krankenkassen und bei den Leistungserbringern zu ver-
ankern;

5. einen Gesetzentwurf für eine schrittweise Reform der Pflegeabsicherung
vorzulegen, der noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden soll.
Grundpfeiler der Reform sollen sein:

a) eine Neudefinition des Pflegebegriffs, der assistierte Teilhabe und eine

bedarfsdeckende, ganzheitliche, sprechende Pflege ermöglicht,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/12846

b) die Gewährleistung einer Wahlmöglichkeit von geschlechtergleicher
Pflege/Assistenz,

c) eine grundlegende Überarbeitung des Begutachtungsverfahrens,

d) die Überwindung des starren Pflegestufenmodells,

e) die Verankerung der Pflegeversicherung als Rehabilitationsträgerin im
Elften Buch Sozialgesetzbuch,

f) eine deutliche Anhebung des Leistungsniveaus in der Pflegeversicherung
und eine jährliche Anpassung in Höhe der Bruttolohnentwicklung. Als
Sofortmaßnahme ist der Realwertverlust der Pflegeleistungen durch die
fehlende Anhebung in den Jahren von 1995 bis 2008 unverzüglich voll-
ständig und für alle Pflegeleistungen auszugleichen. Die Sachleistungs-
beträge sind um weitere 25 Prozent anzuheben. Ebenso ist der zusätzliche
Leistungsbetrag für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltags-
kompetenz auf 6 000 Euro pro Jahr anzuheben. Perspektivisch sind die
Leistungen am individuellen Bedarf zu orientieren,

g) die Entwicklung eines Gesamtkonzepts für Menschen, die auf Pflege,
Assistenz oder Unterstützung angewiesen sind,

h) eine sechswöchige bezahlte Pflegezeit für Erwerbstätige, die der Organi-
sation der Pflege von Angehörigen oder nahestehenden Personen dient.
In dieser Zeit erhalten abhängig Beschäftigte eine Lohnersatzleistung in
Höhe des Arbeitslosengeldes I,

i) effektive Maßnahmen, die die Arbeitsbedingungen in der Pflege/Assis-
tenz verbessern und die Attraktivität des Berufes erhöhen. Es ist ein
bundesweit verbindliches und einheitliches Personalbemessungsinstru-
ment einzuführen, das auf dem individuellen Pflegebedarf beruht;

6. eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung einzuführen, um
eine dauerhafte und solide Finanzierung für das Gesundheitssystem und für
die Pflege zu gewährleisten sowie einen sozialen, gerechten und solidari-
schen Ausgleich zu erreichen. Grundprinzipien der solidarischen Bürgerin-
nen- und Bürgerversicherung sind:

a) Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglieder der solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.

b) Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung garantiert für alle
Menschen in der Krankenversicherung eine umfassende zuzahlungsfreie
Regelversorgung; in der Pflege/Assistenz gewährleistet sie eine qualitativ
hochwertige Versorgung.

c) Der Beitrag richtet sich nach der individuellen finanziellen Leistungs-
fähigkeit. Alle, auch heute privat Versicherte, zahlen den gleichen prozen-
tualen Beitragssatz auf ihre Einkünfte aus Erwerbseinkommen, Mieten
und Kapitalerträgen in die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ein.

d) Die Beitragsbemessungsgrenze wird stufenweise angehoben und per-
spektivisch abgeschafft. Im ersten Schritt ist sie auf die Höhe der Bei-
tragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben.

e) Jeder Mensch erhält einen eigenständigen Kranken- und Pflegeversiche-
rungsanspruch.

f) Die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber tragen die Hälfte der Kranken-

versicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge auf Löhne und Gehälter
ihrer Beschäftigten.

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g) Die Rolle der privaten Kranken- und Pflegeversicherung wird auf Zusatz-
versicherungen beschränkt.

h) Rentnerinnen und Rentner zahlen in der Pflegeversicherung künftig nur
den halben Beitragssatz, die andere Hälfte wird aus der Rentenversiche-
rung beglichen. Der höhere Pflegebeitrag von Kinderlosen wird ab-
geschafft.

Berlin, den 5. Mai 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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