BT-Drucksache 16/1267

Einsetzung einer Enquete-Kommission "Ethik, Recht und Finanzierung des Wohnens mit Assistenz (Heim-Enquete)"

Vom 21. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1267
16. Wahlperiode 21. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge,
Klaus Ernst, Diana Golze, Katja Kipping, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik, Recht und Finanzierung des
Wohnens mit Assistenz (Heim-Enquête)“

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag setzt gemäß Artikel 56 seiner Geschäftsordnung eine
Enquete-Kommission „Ethik, Recht und Finanzierung des Wohnens mit Assis-
tenz (Heim-Enquête)“ ein.

I. Aufgaben

Wohnen und Leben mit Assistenz ist für viele Menschen alltägliche Realität. Ob
wegen einer Behinderung, des Alters und/oder hohen pflegerischen und/oder be-
treuerischen Aufwands, wegen des Verlustes der Eltern oder aus anderen Grün-
den: häufig finden sich Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer jeden Alters in
Heimen. Die demographische Entwicklung kann dazu führen, dass sich dieser
Trend noch verstärkt. Der Anspruch auf freie Persönlichkeitsentfaltung und
volle gesellschaftliche Teilhabe bleibt davon unberührt.

Tatsache ist, dass sich Heime, Anstalten und ähnliche Großwohneinrichtungen
sowohl im Bewusstsein der Bevölkerung als wenig attraktiv darstellen und sie
auch im praktischen Leben zunehmend an Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit sto-
ßen. Das betrifft sowohl die ethische Zumutbarkeit des Lebens unter dem stren-
gen Regime einer Hausordnung als auch das häufig nur formale Recht auf unge-
hinderte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Hohe Heimkosten führen häufig
dazu, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner von ihrem persönlichen Hab
und Gut trennen müssen. Zudem sind zahlreiche Fälle ungenügender pflege-
rischer Betreuung dokumentiert. Sehr häufig wird die personelle Ausstattung
der Einrichtungen bemängelt. Das wiederum führt zu unzumutbaren Arbeitsbe-
dingungen, die auch durch noch so großes persönliches Engagement nicht kom-
pensiert werden können.

Der Wunsch, auch im Falle hohen Assistenzbedarfs außerhalb von Großeinrich-
tungen – möglichst in der eigenen Wohnung inmitten der Gemeinde – zu leben,
nimmt zu und wird auch immer lauter artikuliert.
Da im Zusammenhang mit der Föderalismusreform von der Absicht die Rede
ist, alle Heimgesetzgebungskompetenzen auf Länderebene zu verlagern, beste-
hen beträchtliche Befürchtungen, dass es dadurch zu großen Unterschieden in
Qualitätsstandards, Ausstattungsmerkmalen und Zugangsmöglichkeiten zu as-
sistiertem Wohnen kommen kann, dass beispielsweise der Umzug von einem
Bundesland in ein anderes zusätzlich verkompliziert wird und/oder die Zumut-
barkeitskriterien des Verbleibens in einer von der/dem Betroffenen als nicht

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mehr den eigenen Wünschen gemäßen Einrichtung unverhältnismäßig ausein-
anderklaffen.

Der Deutsche Bundestag richtet daher eine Enquete-Kommission ein, die ethi-
sche, rechtliche und finanzielle Fragen des assistierten Wohnens in all seinen un-
terschiedlichen Erscheinungsformen klärt und Vorschläge für Entscheidungen
unterbreitet.

Inhalte der Arbeit der Enquete-Kommission sind u. a.:

● Wohnen und Assistenzbedarf (Ist-Stand)

– in der eigenen Wohnung

– in Wohngemeinschaften

– in betreuten Einzelwohnungen

– in Heimen;

● Pflegebedarf und Wohnformen

● Wohnen mit Assistenzbedarf

– im Kindesalter

– im Jugendalter

– lebenslang

– im Alter

– bei Frauen und Männern;

● Heimaufsicht

● Pflege

– Qualität

– Notstand;

● Finanzierung

– Beteiligung des Bundes an den Kosten

– Beteiligung der Länder

– Beteiligung anderer öffentlicher Kassen (Krankenkassen, Pflegekassen,
Bundesversorgungsgesetz, Beamtenbeihilfe usw.)

– bedarfdeckendes persönliches Budget;

● Auswirkungen der Föderalismusreform

– Gesetzgebung

– Pflege- und Betreuungsstandards

– Kompatibilität;

● Assistentin bzw. Assistent und Pflegerin bzw. Pfleger als Berufsbild mit Zu-
kunft

– Wie ist der Ausbildungsstand?

– Welcher Ausbildungsbedarf besteht

❍ in der eigenen Wohnung,

❍ in Wohngemeinschaften,

❍ in betreuten Einzelwohnungen,

❍ im Heim,
❍ unter Gender-Aspekten (aktiv-passiv)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1267

● Selbstbestimmung, Persönlichkeitsentfaltung und Entscheidungsfreiheit
(Teilhabemöglichkeit) der Bewohnerinnen und Bewohner von

– eigenen Wohnungen,

– Wohngemeinschaften,

– betreuten Wohnungen,

– Heimen;

● Wohnen und Lebensweise

– Familie

– Lebensgemeinschaft

– Single

– andere Formen.

In jedem Falle sind ethische Fragen (z. B. die Würde der Bewohnerinnen und
Bewohner in allen Lebensphasen und -situationen, beispielsweise im Pflegefall,
Berufsethos der Assistentinnen und Assistenten u. Ä.), die rechtliche Stellung
und die Finanzierung im Blickpunkt zu halten. Dabei soll alternativen Konzep-
ten, die tendenziell mehr offene Wohnformen schaffen, genügend Darstellungs-
raum gegeben werden.

II. Zusammensetzung

Der Enquete-Kommission gehören 11 Mitglieder des Deutschen Bundestages
und 11 nicht dem Deutschen Bundestag oder der Bundesregierung angehörende
Sachverständige an. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD benennen jeweils
4 Mitglieder und 4 Sachverständige, die Fraktionen FDP, DIE LINKE. und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN benennen jeweils 1 Mitglied und 1 Sachverstän-
digen.

Für jedes Mitglied des Deutschen Bundestages kann ein stellvertretendes Mit-
glied benannt werden.

III. Vorlage des Berichts

Die Enquete-Kommission soll dem Deutschen Bundestag ein halbes Jahr vor
Ablauf der Legislaturperiode über ihre Arbeitsergebnisse berichten und in der
Zwischenzeit bei Bedarf zu aktuellen Themen Teil- bzw. Zwischenberichte vor-
legen. Ihr Bericht wird einer breiten Öffentlichkeit in geeigneter Form zugäng-
lich gemacht.

Berlin, den 20. April 2006

Dr. Ilja Seifert
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Dr. Martina Bunge
Klaus Ernst
Diana Golze
Katja Kipping
Elke Reinke
Volker Schneider (Saarbrücken)
Jörn Wunderlich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Drucksache 16/1267 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Begründung

Seit Jahren gibt es von verschiedenen Seiten Kritik am System der Heimunter-
bringung. Andererseits ist das Engagement zahlreicher Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in solchen Einrichtungen häufig hoch lobenswert.

Die Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihrer Heimunterbrin-
gung scheint abzunehmen. Zumindest darf als gesichert gelten, dass es für den
weit überwiegenden Teil der Bevölkerung in hohem Grade unattraktiv ist, sich
eine Zukunft im Heim vorstellen zu müssen.

Nicht wenige – hinreichend dokumentierte – Fälle von Gewalt in der Pflege ver-
langen, dass sich die Politik mit den Strukturen auseinandersetzt, die solche For-
men der Missachtung der Menschenwürde ermöglichen. Gleichzeitig müssen
neue Konzepte der assistierenden Pflege bzw. pflegender Assistenz – bis hin zur
persönlichen Alltags- und Ganztagsassistenz – erörtert werden, um ihnen die er-
forderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die freie Wahl des Wohnsitzes muss auch im Falle des Assistenz- und/oder Pfle-
gebedarfs gewährleistet sein. Deshalb ist zu klären, wie auch Umzüge, die dem
Wunsch- und Wahlrecht der Bewohnerinnen und Bewohner entsprechen, mög-
lich bleiben bzw. werden. Gemeint sind sowohl Wechsel zwischen unterschied-
lichen Wohnformen als auch des Wohnorts bzw. des Landes.

Sowohl innerhalb der Behinderten- als auch der Seniorenbewegung gibt es neue
Konzepte, die sich mit vielfältigen Formen des Wohnens mit Assistenz befassen,
die einer kritischen Bewertung durch das Parlament bedürfen.

Die Enquête-Kommission ist der Ort, an dem Weichen für die Zukunft so ge-
stellt werden können, daß der Persönlichkeitsentfaltung, der Selbstbestimmung
und der Teilhabeermöglichung jedes einzelnen Menschen auch dann größere
Chancen eröffnet werden, wenn sie einen hohen Bedarf an Pflege, Betreuung,
Beaufsichtigung, kurz an Assistenz, haben. Gleichzeitig sollen die Möglichkeiten
der Erweiterung des Berufsbildes (Alltags-Assistentin bzw. Alltags-Assistent)
sowie der Rahmenbedingungen für ambulante Betreuungsstrukturen ausgelotet
und entsprechende Gesetze initiiert werden.

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