BT-Drucksache 16/12331

Fehler im System bei der Hilfe für Alleinerziehende

Vom 16. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12331
16. Wahlperiode 16. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky,
Dr. Martina Bunge, Lutz Heilmann, Katja Kipping, Michael Leutert, Dorothee
Menzner, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Frank Spieth und der
Fraktion DIE LINKE.

Fehler im System bei der Hilfe für Alleinerziehende

Im Familienreport 2009 behauptet die Bundesregierung, dass sie in der Fami-
lienpolitik ein „abgestimmtes Set von gezielten Leistungen und Maßnahmen
[…] entwickelt“ habe (Familienreport 2009, S. 9). Die Bundesregierung gibt
weiterhin vor, ihre familienbezogenen Leistungen würden Einkommen stabili-
sieren und die Armutsgefährdung reduzieren (s. o.). Dieses rundum rosige Bild
von einer gelungen Familienpolitik unter der Ägide der Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Ursula von der Leyen lässt sich nicht
aufrechterhalten: Insbesondere für Alleinerziehende scheint das genaue Gegen-
teil zu gelten. Zu diesem Schluss jedenfalls kommt das Papier „Erwerbstätige
Alleinerziehende in den Fängen von »Hartz IV«“ der Arbeitnehmerkammer
Bremen (http://www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/doku/01_aktuell/
ticker/2009/2009_02_24_Alleinerziehende.pdf).

Ausführlich verdeutlicht dieses Papier, dass das „Zusammenspiel von An-
spruchsvoraussetzungen und Anspruchsausschlüssen, von Bedarfsfeststellung,
Einkommensermittlung und Einkommensanrechnung innerhalb wie auch zwi-
schen den einzelnen Sozialtransfer-Systemen“ (ebd., S. 1) häufig problematisch
ist. Vor allem erwerbstätige Alleinerziehende sind daher „regelrecht gefangen
in der »Hartz-IV«-Abhängigkeit“ (ebd., S. 2) . Der Autor kommt so zum Er-
gebnis: „Statt alle Transfer-Systeme daraufhin auszurichten und abzustimmen,
dass Alleinerziehende, die heute bereits in nennenswertem Umfang einer Er-
werbstätigkeit nachgehen, möglichst rasch unabhängig von »Hartz IV« leben
können, verfestigt der »fordernde Sozialstaat« auf diese Weise den Verbleib in
der Fürsorgeabhängigkeit“ (ebd., S. 1).

Dieser unstimmige Aufbau der verschiedenen Sozial- und Familienleistungen
hat bedenkliche Folgen. So springt das notwendige Einkommen zur Überwin-
dung der Hilfebedürftigkeit bei einer Alleinerziehenden mit einem Kind zwi-
schen rund 930 und 1 630 Euro hin und her, abhängig von so banalen Gründen
wie dem Alter des Kindes.
Diese Problemlage ist der Bundesregierung wohl bewusst. Daher hat sie im
Oktober 2008 das Kindergeldgesetz geändert. Nun „[k]ann ein Kinderzuschlag
auch dann gewährt werden, wenn die Betroffenen bereit sind, schriftlich auf
bedarfsdeckende Leistungen zu verzichten“ (ebd., S. 4) . Offiziell haben Allein-
erziehende nun die Wahl auf das gesetzlich verankerte Existenzminimum zu
verzichten.

Drucksache 16/12331 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Offen bleibt, welche Idee der Bundesregierung vorschwebte, keine solche
Möglichkeit zu schaffen. Offen bleibt aber auch, ob die Bundesregierung auf
die Repressionen durch „Hartz IV“ spekuliert oder welche Gründe aus ihrer
Sicht eine Alleinerziehende dazu bewegen sollten, freiwillig auf ihr Existenz-
minimum zu verzichten. Wieso die Bundesregierung den Alleinerziehenden
nahe legt unter dem Existenzminimum zu leben, bedarf ebenfalls einer Erklä-
rung.

In dem Papier der Arbeitnehmerkammer Bremen wird eine Modellfamilie einer
alleinerziehenden Mutter mit einer vierjährigen Tochter zugrunde gelegt. Das
Bruttomonatseinkommen der Mutter liegt bei 1 000 Euro. Die Warmmiete bei
414 Euro und die Kaltmiete bei 313 Euro. Für die Tochter wird Unterhaltsvor-
schuss gezahlt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch wäre bei der im Papier der Arbeitnehmerkammer Bremen genann-
ten Modellfamilie der Bedarf nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II)?

2. Wie hoch müsste das Bruttomonatseinkommen aus einer Erwerbstätigkeit
der Mutter sein, damit sich die Familie inklusive Kinderzuschlag,
Unterhaltsvorschuss, Kindergeld und Wohngeld aus der Bedürftigkeit im
Sinne des SGB II lösen könnte (wie hoch wäre dann das verfügbare Ein-
kommen)?

Wie hoch wäre die Bruttoentgeltschwelle im gleichen Fall, wenn kein Unter-
haltsvorschuss beantragt worden wäre (wie hoch wäre dann das verfügbare
Einkommen)?

3. Ist die Höhe des Kinderzuschlags bei Alleinerziehenden, angesichts der Tat-
sache, dass der Unterhaltsvorschuss voll auf den Kinderzuschlag angerech-
net wird, nach Auffassung der Bundesregierung ausreichend, damit der
Zuschlag sein Ziel, es Familien zu ermöglichen, unabhängig von
Arbeitslosengeld II zu leben, überhaupt noch erfüllen kann, ohne dass
Alleinerziehende dazu genötigt werden, eine Bedarfsunterdeckung in Kauf
nehmen zu müssen (bitte begründen)?

4. Ist es aus Sicht der Bundesregierung ein, wie sie sagt, „abgestimmtes Set
von gezielten Leistungen und Maßnahmen“, wenn bei Alleinerziehenden die
Anrechnung des Unterhaltsvorschusses auf den Kinderzuschlag zu einer
Minderung des Wohngeldanspruchs führt, obwohl das verfügbare Einkom-
men bei Zusammentreffen von Unterhaltsvorschuss und Kinderzuschlag bei
Kindern unter sechs Jahren nicht höher liegt als ohne Unterhaltsvorschuss
(bitte begründen)?

Welche Gründe sprechen aus Sicht der Bundesregierung dafür und welche
dagegen, die Regelung so aufrechtzuerhalten?

5. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass in dem oben geschilderten Mo-
dellfall, bei geltender Gesetzeslage und Zahlung von Unterhaltsvorschuss,
die Bruttoentgeltschwelle zum Überschreiten der Hilfebedürftigkeit nach
dem SGB II bei ca. 1 530 Euro liegen würde und dass sie auf ca. 1 240 Euro
sänke, wenn kein Unterhaltsvorschuss beantragt worden wäre (bitte erläu-
tern und die Höhe der Entgeltschwellen angeben)?

6. Stimmt es, dass eine Alleinerziehende nach dem SGB II dazu verpflichtet
ist, vorrangige Leistungen in Anspruch zu nehmen, sie also gegebenenfalls
Unterhaltsvorschuss beantragen muss, und dass sie somit gesetzlich ge-
zwungen wird, ihre Bruttoentgeltschwelle unnötig zu erhöhen (bitte begrün-

den)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12331

7. Findet die Bundesregierung, dass Unterhaltsvorschuss, Leistungen nach
dem SGB II, Kindergeld, Kinderzuschlag sowie Wohngeld in Kombination
mit Erwerbseinkommen für Alleinerziehende ein systematisches und trans-
parentes System aus Hilfeleistungen erzeugen, welches stringent darauf
ausgerichtet ist, diese Personen aus der Fürsorgeleistung nach dem SGB II
zu lösen, und wenn ja, belegen Sie dies bitte anhand von Zahlen (bitte be-
gründen)?

8. Wie ändert sich im Zeitverlauf die Bruttoentgeltschwelle zur Überwindung
der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II bei einer Alleinerziehenden mit
einem Kind von der Geburt des Kindes bis zur Vollendung des 18. Lebens-
jahres mit und ohne Unterhaltsvorschuss (Kosten der Unterkunft 414 Euro;
davon wohngeldfähig 313 Euro)?

9. Wie ändert sich im Zeitverlauf die Bruttoentgeltschwelle zur Überwindung
der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II bei einer Alleinerziehenden mit
zwei Kindern (im Abstand von 1, 3 und 5 Jahren) von der Geburt des ers-
ten Kindes bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des zweiten Kindes
mit Unterhaltsvorschuss für ein und zwei Kinder und für kein Kind (in
heutigen Werten rechnen: Warmmiete 500 Euro, davon wohngeldfähig 390
Euro)?

10. Findet die Bundesregierung die Forderung der Arbeitnehmerkammer Bre-
men sinnvoll, den Mehrbedarf für Alleinerziehende im SGB II analog als
Erhöhungsbetrag zum Kinderzuschlag auszuzahlen, um zu verhindern,
dass eine Alleinerziehende allein wegen der Existenz des (eindeutig kind-
bedingten) Mehrbedarfszuschlags hilfebedürftig bleibt (bitte begründen)?

11. Findet die Bundesregierung die Forderung der Arbeitnehmerkammer Bre-
men sinnvoll, den Kinderzuschlag analog zu den Kinderregelsätzen im
SGB II altersabhängig zu staffeln, um zu verhindern, dass Familien allein
wegen des höheren Alters des Kindes (wieder) hilfebedürftig werden (bitte
begründen)?

12. Findet die Bundesregierung die Forderung der Arbeitnehmerkammer Bre-
men sinnvoll, den Unterhaltsvorschuss bis zur Höhe des gesetzlichen
Unterhaltsvorschusses beim Wohngeld nicht als Einkommen zu werten,
um zu vermeiden, dass eine Familie allein aufgrund der Tatsache, dass sie
Unterhaltsvorschuss bezieht, hilfebedürftig im Sinne des SGB II wird
(bitte begründen)?

13. Was hält die Bundesregierung vom Vorschlag, den Kinderzuschlag auf 200
Euro, bzw. 270 Euro bei über 14-jährigen Kindern, zu erhöhen und analog
den Regelsätzen für Kinder zu staffeln (bitte begründen)?

14. Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Situa-
tion für erwerbstätige Alleinerziehende zu verbessern; spielen bei diesen
Plänen Änderungen im Leistungsrecht von Wohngeld, Unterhaltsvor-
schuss, Kinderzuschlag o. Ä. eine Rolle (bitte erläutern)?

Berlin, den 16. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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