BT-Drucksache 16/12326

Die Mitte stärken - Mittelstand ins Zentrum der Wirtschaftspolitik rücken

Vom 18. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12326
16. Wahlperiode 18. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Angelika Brunkhorst, Ernst
Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß,
Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger, Michael Kauch, Hellmut
Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz
Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Michael Link
(Heilbronn), Dr. Erwin Lotter, Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke,
Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr,
Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Frank Schäffler, Marina Schuster, Dr. Max Stadler,
Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Dr. Daniel Volk, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Guido Westerwelle und der
Fraktion der FDP

Die Mitte stärken – Mittelstand ins Zentrum der Wirtschaftspolitik rücken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mittelstand ist keine betriebswirtschaftliche Recheneinheit. Mittelstand ist eine
Geisteshaltung. Mit Pioniersinn und Patriotismus, Mut und Verantwortungs-
gefühl hat der Mittelstand unser Land einst wieder aufgebaut und das deutsche
Wirtschaftswunder möglich gemacht. Wer morgens früher aufsteht, wer sich und
anderen auf eigenes Risiko eine Existenz aufbaut, wer selber vorsorgt, nicht
fragt, was der Staat ihm schuldet, sondern was er für andere erreichen kann, der
verdient den Respekt aller und braucht politischen Rückenwind. Diese mittel-
ständischen Tugenden sind auch heute gefragt, um unser Land weiter nach vorn
zu bringen.

Ohne solche Menschen, die ein umfassendes Verantwortungsprinzip vorleben,
kann es keine freiheitliche Gesellschaft geben. Der Mittelstand steht für Freiheit
und Verantwortung. Deutschland braucht eine Politik, die den Mittelstand stärkt
und nicht schwächt.

Der Mittelstand erwirtschaftet mehr als 40 Prozent aller Umsätze der Unterneh-

men in Deutschland. Etwa 3,5 Millionen mittelständische Betriebe und die zahl-
reichen Freiberufler – vom selbständigen Ingenieur bis zum pharmazeutischen
Unternehmen, von der Landärztin bis zum Maschinenbauer – sorgen mit ihren
Dienstleistungen und Produkten für eine breite Angebotsvielfalt, für funktionie-
renden Wettbewerb und für faire Preise.

44 Prozent des Steueraufkommens aus Unternehmen und Kapitaleinkommen
leistet der Mittelstand. Ohne das erfolgreiche Wirtschaften von Mittelständlern

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könnten in Deutschland keine Schulen, keine Straßen und keine öffentliche
Sicherheit finanziert werden. Alle Finanzminister sollten sich zudem an der mit-
telständischen Tugend orientieren, dass vor dem Ausgeben das Erwirtschaften
kommt.

71 Prozent der Arbeitsplätze und 83 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutsch-
land stellt der Mittelstand. Auch in der Rezession sind es die mittelständischen
Betriebe, die aller Erfahrung nach ihre Belegschaft länger halten. Der Mittel-
stand bietet eine breite Berufspalette, die jedem nach seinen Fähigkeiten und
Talenten die Chance auf Teilhabe gibt.

Der Mittelstand sorgt mit seinen Beiträgen für die Finanzierung unserer sozialen
Sicherungssysteme. Ohne Mittelstand gibt es keine Rentenversicherung. Ohne
Mittelstand gibt es kein leistungsfähiges Gesundheitswesen. Ohne Mittelstand
wäre die Pflegeversicherung schon heute am Ende. Viele Mittelständler fühlen
sich dem Wohl ihrer Mitarbeiter über die Arbeitszeit hinaus besonders verpflich-
tet.

Der Mittelstand bildet oft über den eigenen Bedarf hinaus junge Menschen aus
und bietet ihnen die Möglichkeit, in vielfältigen Lehrberufen Qualifikationen zu
erwerben, Erfahrungen zu sammeln und sich selbst Zukunftschancen zu eröff-
nen. Vielen jungen Menschen mit Integrationsschwierigkeiten bietet der Mittel-
stand die Chance, das Leben zu meistern, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln
und Eigenverantwortung zu übernehmen. Der Mittelstand leistet damit eine
wichtige gesellschaftliche Arbeit. Der Mittelstand schafft immer wieder neue,
innovative Berufsfelder. Viele Länder beneiden uns um die duale Berufsausbil-
dung in Deutschland. Ohne den Mittelstand gäbe es diese Erfolgsgeschichte
nicht.

Viele Erfindungen werden von Mittelständlern gemacht und auf den Markt ge-
bracht. Vom Dübel über die LCD-Flachbildschirme bis zu den hochkomplizier-
ten Messgeräten in der Raumfahrt – vieles wurde von deutschen Tüftlern und
Forschern erfunden. Der Mittelstand investiert auf eigenes Risiko Milliarden in
die Entwicklung lebensrettender Medikamente, neuer Hochtechnologien und
klimaschonender Energiegewinnung.

Der Metzgermeister, die selbständige Architektin oder andere mittelständische
Unternehmer, die auf eigenes Risiko mit ihrem Geld sich und anderen eine Exis-
tenz aufgebaut haben, die vor Ort leben und arbeiten und ihre Kunden kennen,
haben oft ein anderes Verantwortungsbewusstsein für die Menschen in ihrer
Heimat als anonyme Großkonzerne. Standortpflege und gemeinnütziges Enga-
gement vor Ort sind im Mittelstand besonders ausgeprägt.

Eigentum stabilisiert unsere Gesellschaft. Wer als Selbständiger oder in der
eigenen Firma arbeitet, hat einen näheren Bezug zu seiner Nachbarschaft und
seiner Gemeinde, für die er sich dann auch eher engagieren wird. Eigentum
verpflichtet, fördert das Verantwortungsgefühl und verhindert Beliebigkeit
und Desinteresse. In vielen Orts-, Gemeinde- und Stadträten übernehmen Mit-
telständler kommunalpolitische Verantwortung. Viele Mittelständler engagie-
ren sich ehrenamtlich in Sportvereinen, Kirchen und Bürgerinitiativen. Star-
ker Mittelstand heißt starkes bürgerschaftliches Engagement. Starker Mittel-
stand heißt schwache extreme Ränder. Starker Mittelstand heißt starke Demo-
kratie.

Die mittelständischen landwirtschaftlichen Betriebe sichern unsere Ernährung
mit hochwertigen Lebensmitteln, pflegen unsere Kulturlandschaft und prägen
unsere Dörfer. Viele mittelständische Betriebe sind Familienbetriebe. Der Mit-
telstand hat ein besonderes Interesse an der Vereinbarkeit von Beruf und Fami-
lie. Viele Mittelständler bieten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern flexible

Arbeitszeitmodelle und machen Deutschland damit familienfreundlicher. Viele
Mittelständler unterstützen Kultureinrichtungen, fördern Ausstellungen und

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gründen Stiftungen. Auch freischaffende Fotographen, Autoren und Künstler
sind Mittelständler.

Deutschland braucht endlich ein mittelstandsfreundliches Klima. Die Politik
muss mittelstandsfreundliche Rahmenbedingungen schaffen. Die Politik muss
den Mittelstand als Rückgrat unseres Landes anerkennen und unterstützen. Vor-
urteile, Neid und Misstrauen gegen Menschen, die durch harte Arbeit, auf eige-
nes Risiko und mit hoher Verantwortungsbereitschaft für sich und andere erfolg-
reich sind, müssen bekämpft werden.

Die politische Agenda darf nicht vor allem die Extreme im Blick haben und da-
bei die breite Mitte in Deutschland vernachlässigen.

II. Der Deutsche Bundestag beschließt:

1. Steuern und Abgaben senken

Leistung und Risikobereitschaft muss sich wieder lohnen. Der Mittelstand war-
tet auf Steuersenkungen und niedrigere Lohnzusatzkosten, damit er investieren
und Arbeitsplätze schaffen kann. Die Gewerbesteuer gehört nicht ausgeweitet,
sondern abgeschafft. Die Unternehmensteuerreform hat den Mittelstand zu we-
nig entlastet. Viele Mittelständler unterliegen gar nicht der Körperschaftssteuer
wie größere Unternehmen, sondern zahlen als Personengesellschaften Einkom-
mensteuer. Sie profitieren nicht von den Steuersenkungen, werden aber durch
die Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform belastet. Deshalb muss
auch die Einkommensteuer gesenkt werden. Die Beiträge zu den Sozialversiche-
rungen müssen weiter sinken. Wir wollen mehr Investitionen durch ein niedri-
geres, einfacheres und gerechteres Steuersystem.

2. Steuern und Abgaben vereinfachen

Nur ein einfaches Steuer- und Abgabensystem ist auch ein gerechtes. Gerade
Mittelständler brauchen einfache und klare Steuergesetze, die auch ohne eigene
Steuerabteilung im Unternehmen verstanden und angewendet werden können.
Die Unternehmensteuerreform lässt hier viel zu Wünschen übrig. Sie hat das
deutsche Steuerrecht noch komplizierter gemacht. Wir brauchen weniger und
bessere Steuerregelungen ohne Ausnahmetatbestände. Durch die Vorverlegung
des Fälligkeitstermins von Sozialabgaben ist ein bürokratischer Mehraufwand
für die Unternehmen von etwa 4 Mrd. Euro entstanden. Der Fälligkeitstermin
muss wieder so gewählt werden, dass die Unternehmen nicht allein dadurch
zusätzlich belastet werden.

3. Erbschaftsteuer in Länderkompetenz überführen

Die Erbschaftsteuerreform hat für viele Mittelständler keine Entlastung beim
Betriebsübergang gebracht. Die Steuerregeln sind komplizierter geworden. Eine
Frist von mehreren Jahren, in der die Lohnsumme insgesamt kaum sinken darf,
als Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist unrealistisch. Kein Mittelständler
kann über einen so langen Zeitraum vernünftig planen. Wer den Mittelstand von
der Erbschaftsteuer entlasten will, darf das nicht an solche Bedingungen knüp-
fen. Was an Erbschaftsteuer gezahlt wird, steht nicht mehr für die Produktion zur
Verfügung. Die Erbschaftsteuer vernichtet Arbeitsplätze.

Die Länder sollen die grundgesetzlich abgesicherte Gesetzgebungskompetenz
für die Erbschaftsteuer erhalten. So entsteht ein Wettbewerb zwischen den Län-
dern um eine mittelstandsfreundliche Besteuerung. Dann entscheiden die Län-
der, welche Höhe die Erbschaftsteuer haben soll, oder ob sie ganz auf sie ver-
zichten.

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4. Lohnflexibilität statt staatlich gestützte Mindestlöhne

Die Tarifautonomie muss vor staatlichen Lohndiktaten geschützt werden. Statt
Mindestlöhne brauchen Mittelständler flexiblere Regelungen. Die Flächentarif-
verträge orientieren sich zu stark an den großen Unternehmen. Kleine und mitt-
lere Unternehmen brauchen mehr Selbstbestimmung durch Mitarbeiter und Un-
ternehmer vor Ort. Sie brauchen mehr Möglichkeiten für betriebliche Bündnisse
für Arbeit. Ohne allgemeinverbindliche Tarifverträge erhöht sich der Druck auf
den Tarifparteien, bei ihren Abschlüssen die Interessen des Mittelstands stärker
zu berücksichtigen. Wenn 75 Prozent der Belegschaft oder der Betriebsrat für
abweichende Regelungen vom Tarifvertrag stimmen, muss das ohne Zustim-
mung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände möglich sein.

Die bestehenden Möglichkeiten der Mitarbeiterbeteiligung an Kapital und
Erfolg müssen so weiterentwickelt werden, dass sie die betriebliche Alters-
vorsorge ergänzen und zugleich eine freiwillige Option zur Flexibilisierung der
Vergütungsstrukturen ermöglichen.

5. Betriebliche Mitbestimmung mittelstandsfreundlich reformieren

Die Ausweitung der Funktionärsmitbestimmung hat den Mittelstand mit zusätz-
lichen Kosten in Millionenhöhe überzogen. Gerade in kleinen Inhaberbetrieben
wird das unkomplizierte betriebliche Miteinander durch die gesetzliche Mit-
bestimmungsverschärfung erheblich gestört.

Die gesetzlich vorgegebene Zahl der Betriebsratsmitglieder muss deutlich redu-
ziert werden. Ein Betriebsrat sollte erst in Unternehmen mit mindestens 20 Be-
schäftigten gebildet werden und ein Wahlquorum von 50 Prozent erfordern. Die
Freistellung von Betriebsratsmitgliedern darf erst in Unternehmen mit mehr als
500 Beschäftigten beginnen.

6. Arbeitsrecht flexibilisieren

Das vor allem für den Mittelstand komplizierte Kündigungsschutzgesetz muss
beschäftigungsfreundlicher werden. Der Kündigungsschutz sollte erst für Be-
triebe mit mehr als 20 Beschäftigten und nach zwei Jahren Beschäftigungsdauer
gelten. Da, wo es für die Beschäftigten günstiger ist, muss auch von den Tarif-
bedingungen abgewichen werden können. Auch ein Lohnverzicht oder eine län-
gere Arbeitszeit stellen sich dann als günstiger dar, wenn dies den Erhalt des Ar-
beitsplatzes sichert oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglicht, sofern
der Betriebsrat oder 75 Prozent der Mitarbeiter zugestimmt haben. Das Vorbe-
schäftigungsverbot für sachgrundlose, befristete Einstellungen gehört aufgeho-
ben. Zur Vermeidung von Kettenarbeitsverträgen soll ein Verbot wiederholter
Beschäftigung vor Ablauf von drei Monaten eingeführt werden. Das schafft
Flexibilität für den Mittelstand und führt zu mehr Arbeitsplätzen in Deutschland.
Eine befristete Einstellung ist besser als arbeitslos zu sein.

7. Bürokratielasten senken

Der Staat muss sich aus der Wirtschaft zurückziehen. Das gilt für die immer
noch zu hohe bürokratische Regelungsdichte. Drei sogenannte Mittelstandsent-
lastungsgesetze von schwarz-rot haben die Bürokratiekosten für die Unterneh-
men in Deutschland gerade einmal im Promillebereich gesenkt. Statt zusätzliche
bürokratische Lasten wie das sogenannte Antidiskriminierungsgesetz zu schaf-
fen, müssen die bestehenden reduziert werden. Die zahlreichen statistischen
Doppelerhebungen müssen abgeschafft werden. Zusätzliche Bürokratielasten
muss der Staat den Unternehmen vergüten. Wie hohe Lohnzusatzkosten führen

auch hohe Bürokratiekosten zum Wachsen der Schwarzarbeit.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/12326

8. Privatisierung öffentlicher Aufgaben voranbringen

Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben in Wettbewerbsmärkte stärkt mittel-
ständische Betriebe. Denn die öffentlichen Serviceleistungen werden vielfach
durch Private schon angeboten und sind vor allem Betätigungsfelder kleiner und
mittlerer Unternehmen. Es gibt keine Chancengleichheit im Wettbewerb zwi-
schen privaten mittelständischen Unternehmen und öffentlichen Betrieben. Die
größten Privatisierungspotentiale liegen in den Kommunen. Dazu müssen alle
Landesregierungen in den Gemeindeordnungen ein wirksames Subsidiaritäts-
gebot verankern, das privaten Unternehmen ausreichend Rechtsschutz gegen
die gewerbliche Betätigung von Kommunen gewährt. Auch die einheitlichen
Ansprechpartner für Unternehmen, die nach der EU-Dienstleistungsrichtlinie
eingerichtet werden müssen, sollten privatwirtschaftlich organisiert sein.

Berlin, den 17. März 2009

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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