BT-Drucksache 16/12322

NATO-Gipfel für eine strategische Neuausrichtung nutzen - Neue Schritte zur Abrüstung und für gemeinsame Sicherheit einleiten

Vom 18. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12322
16. Wahlperiode 18. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Ulrike
Höfken, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

NATO-Gipfel für eine strategische Neuausrichtung nutzen – Neue Schritte zur
Abrüstung und für gemeinsame Sicherheit einleiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der NATO-Gipfel muss für eine strategische Neuausrichtung des Bündnisses in
Richtung Abrüstung, Vertrauensbildung und gemeinsame Sicherheit im Rahmen
der Vereinten Nationen (VN) genutzt werden.

Das gegenwärtige Strategische Konzept aus dem Jahr 1999 spiegelt die heutigen
Herausforderungen und Schwerpunkte der NATO nicht mehr wider. Globale
Risiken wie der Klimawandel, zunehmende Ressourcenkrisen oder die Weiter-
verbreitung von Massenvernichtungswaffen können nur global und politisch ge-
löst werden. Keines dieser Probleme lässt sich durch ein hochgerüstetes Militär-
bündnis abschrecken. Diese Probleme müssen multilateral, kooperativ und zivil
angegangen werden.

Mitentscheidend für die Zukunft der NATO wird sein, dass sich die europäi-
schen Staaten und die USA darin auf Augenhöhe begegnen. Wenn NATO-Ein-
sätze wie in Afghanistan erfolgreich sein sollen, setzt das die gemeinsame Klä-
rung von Zielen und Strategien voraus. Als „Werkzeugkasten“ für amerika-
nische Hegemonialpolitik, wie unter der Bush-Administration praktiziert, hätte
die NATO keine Zukunft.

Als Block gegen den Rest der Welt wird das transatlantische Bündnis keinen
Bestand haben. Es muss Teil einer kooperativen Weltordnung werden, die auch
die neuen aufsteigenden Mächte integriert. Der Rückfall in eine multipolare
Machtkonkurrenz wäre eine Gefahr für den Weltfrieden. Die NATO muss sich
als Teil einer multilateralen Sicherheitsarchitektur verstehen, die auf dem Prin-
zip gemeinsamer Sicherheit beruht und militärische Einsätze an ein Mandat des
VN-Sicherheitsrates bindet. Darüber hinaus ist dringend ein neuer Anlauf für
Abrüstung und Rüstungskontrolle, an dem sich die NATO-Staaten, allen voran
die USA, beteiligen müssen, erforderlich.
Der Amtsantritt der neuen US-Administration und die Rückkehr Frankreichs in
die Militärstruktur der NATO müssen für eine Stärkung der transatlantischen
Allianz und des europäischen Pfeilers in der NATO genutzt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. alle Anstrengungen zu unternehmen, damit der strategische Dialog und die
kooperative sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den USA und

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Europa wieder belebt werden und durch den Ausbau der friedens- und sicher-
heitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU der europäische Pfeiler in der
NATO gestärkt wird,

2. dazu beizutragen, dass bei der Erarbeitung des neuen Strategischen Konzep-
tes

● die Europäische Sicherheitsstrategie als Orientierungsrahmen dient,

● die NATO sich auf ihren Kernauftrag (Bündnisverteidigung) konzentriert
und der Entspannung und Sicherheit in und für Europa – unter Einbezie-
hung Russlands und dessen Nachbarstaaten – zentrale Bedeutung zumisst,

● das Bündnis eine Erweiterungspolitik betreibt, die sich an diesen Zielen
und den Standards der Allianz orientiert und keine neue „Blockbildung“
befördert,

● anerkannt wird, dass darüber hinausgehende militärische Aktivitäten
außerhalb des Bündnisgebietes – insbesondere friedenserzwingende
Einsätze – grundsätzlich nur mit Mandat der Vereinten Nationen und im
Einklang mit dem Völkerrecht erfolgen sowie der kollektiven Friedens-
sicherung dienen,

● einer Militarisierung des erweiterten Verständnisses von Sicherheitspoli-
tik eine Absage erteilt wird, d. h. einer militärischen Allzuständigkeit des
Militärbündnisses für neue Sicherheitsrisiken und Bedrohungen, z. B.
beim Klimawandel, der Ressourcensicherung, der Terrorismusbekämp-
fung oder beim Schutz kritischer Infrastrukturen, entgegenzuwirken,

● für die Beendigung eines Bündnisfalles ein klares verbindliches Verfahren
festgelegt und der nach dem 11. September 2001 erklärte Bündnisfall
unverzüglich beendet wird,

3. einen substanziellen Beitrag zur Abrüstung und Rüstungskontrolle zu leisten,
indem sie darauf hinwirkt, dass

● sich die Bundeswehr nicht mehr auf den Einsatz von Atomwaffen vorbe-
reitet,

● die Anzahl der Atomwaffen in den Mitgliedstaaten drastisch und über-
prüfbar reduziert und die in Deutschland und Europa gelagerten Atom-
waffen unverzüglich abgezogen und vernichtet werden,

● die NATO-Staaten ihre Sicherheit ohne Rückgriff auf Atomwaffen ge-
währleisten und dabei u. a. auf die Drohung eines Kernwaffeneinsatzes
gegen Nichtatomwaffenstaaten und die Drohung eines Ersteinsatzes ge-
gen Atomwaffenbesitzer verzichten,

● der Aufbau eines Raketenabwehrschildes gestoppt und mit Russland und
anderen Staaten ein neuer ABM-Vertrag (ABM: Anti-Ballistic Missile) er-
arbeitet wird,

● der angepasste KSE-Vertrag (KSE: konventionelle Streitkräfte in Europa)
unverzüglich ratifiziert wird und mit Russland Gespräche über weitere
Reduzierungen und Begrenzungen der konventionellen Rüstung in Eu-
ropa begonnen werden,

● das Bündnis den Verzicht auf den Einsatz von Streumunition, Antiperso-
nenminen und uranhaltiger Munition erklärt.

Berlin, den 18. März 2009
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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Begründung

1. Expandierendes kollektives Verteidigungsbündnis

Die NATO ist auch 60 Jahre nach ihrer Gründung für die kollektive Verteidigung
Europas und als sicherheitspolitischer Bestandteil der engen transatlantischen
Beziehung unverzichtbar. Als kollektives Verteidigungsbündnis hat sie die
Sicherheit, staatliche Souveränität und territoriale Integrität ihrer Mitglieder ge-
währleistet. Das Engagement der USA und Kanadas in Europa hat einer militä-
rischen Renationalisierung in Europa entgegengewirkt. Es hat Westdeutschland
die Rückkehr in die Gemeinschaft der Demokratien erleichtert. Mit der Integra-
tion ost- und südosteuropäischer Staaten sowie der engeren Zusammenarbeit mit
Russland und der Ukraine wurde nach 1989 die Spaltung Europas überwunden.
Damit hat die NATO einen Rahmen geschaffen, der in Europa Wohlstand und
das friedliche Zusammenwachsen ehemaliger Feinde und Gegner ermöglichte.

Der Ausbau der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU
hat im vergangenen Jahrzehnt deutliche Fortschritte gemacht, gleichzeitig aber
auch zu Spannungen geführt. Mit der erst jüngst ergänzten Europäischen Sicher-
heitsstrategie haben die EU-Mitgliedstaaten ihre Prioritäten definiert. Versuche
der Bush-Administration, Europa zu spalten oder bilaterale Sicherheitspartner-
schaften aufzubauen, müssen der Vergangenheit angehören. Die USA und die
europäischen Bündnispartner müssen im Zuge der Überarbeitung des Strate-
gischen NATO-Konzeptes den Dialog suchen und die europäische Säule in der
NATO stärken.

Die bevorstehende Rückkehr Frankreichs in die militärische Struktur der Allianz
und das Interesse vieler anderer Staaten an einer Mitgliedschaft und Zusammen-
arbeit zeigen, dass die NATO auch 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
ihre Anziehungskraft nicht verloren hat. Die NATO ist seit dem Ende des Kalten
Krieges von 16 über zunächst 19 auf gegenwärtig 26 Mitglieder angewachsen.
Mit dem Beitritt Albaniens und Kroatiens wird der Erweiterungsprozess nicht
beendet sein. Neben Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro,
Kosovo und Serbien werden auch die Ukraine und Georgien als potentielle
Beitrittsstaaten gehandelt.

Jede Erweiterung verändert den Charakter des Bündnisses. Gerade in Osteuropa
darf damit keine neue Blockbildung intendiert sein, die besonders von Russland
als Bedrohung aufgefasst wird. Eine gute Kooperation und Abstimmung im
NATO-Russland-Rat ist Voraussetzung, um Spannungen zu vermeiden. Gleich-
zeitig muss deutlich sein, dass kein Staat, der nicht Mitglied der NATO ist, ein
Einspruchsrecht gegen zukünftige Erweiterungen hat. Perspektivisch muss die
NATO auch für Russland offenstehen. Die Erweiterung der NATO und die Su-
che nach globalen Partnern dürfen aber kein Selbstzweck sein. Sie müssen dem
Frieden und der gemeinsamen Sicherheit Deutschlands, Europas und der Welt
dienen. Erweiterungen dürfen die Handlungsfähigkeit und den Charakter der
NATO als Verteidigungsbündnis demokratischer Staaten nicht schwächen und
keine neuen Konfliktlinien aufwerfen.

2. Wiederbelebung von Vertrauensbildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle

Die NATO muss zu einer Politik der Entspannung und Rüstungskontrolle zu-
rückkehren. Durch die beabsichtigte Erweiterung der NATO um Georgien und
die Ukraine, die geplante Stationierung des US-Raketenabwehrsystems in Polen
und Tschechien sowie die Nichtratifizierung des angepassten KSE-Vertrages
von Seiten der NATO-Staaten hat sich das Verhältnis zu Russland spürbar ver-
schlechtert. Der Alleingang der USA in der Frage der Raketenabwehr hat auch
bei der NATO und der EU negative Spuren hinterlassen.

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Ein wesentliches Ziel der NATO war und ist es, die Spaltung in Zonen unter-
schiedlicher Sicherheit in Europa zu überwinden und damit ein Leben in Frieden
und Freiheit zu ermöglichen. Gemeinsame Sicherheit von Vancouver bis Wladi-
wostok kann es nur mit den USA und mit Russland geben. Die Fähigkeit zur
Entspannung, Vertrauensbildung und Kooperation sind Teil der Erfolgsge-
schichte der NATO. Daher müssen die NATO-Partner der Zusammenarbeit mit
Russland besondere Bedeutung zumessen und diese weiter ausbauen. In diesem
Zusammenhang gilt es, unter Einbeziehung der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Überlegungen für eine euro-atlantische
Sicherheitsarchitektur konstruktiv zu begleiten.

Die NATO ist das mit Abstand stärkste Militärbündnis der Welt und für mehr als
2/3 der weltweiten Militärausgaben verantwortlich. Gelder, die in die Hoch- und
Überrüstung gesteckt werden, fehlen im zivilen Bereich. Die weltweiten Mili-
tärausgaben wachsen weiter an. Insbesondere die USA bauen ihre globale Inter-
ventionsfähigkeit und militärische Unverwundbarkeit systematisch aus. Russ-
land, China, Indien, Pakistan, Iran und Indonesien folgen diesem Trend.

Das Festhalten an der Nukleardoktrin und nuklearen Hochrüstung, die konven-
tionelle Überlegenheit und die Bereitschaft zur globalen Machtprojektion haben
das Risiko des Wettrüstens, der nuklearen Proliferation und asymmetrischer Be-
drohungen erhöht. Ohne massive nukleare Abrüstungsschritte der NATO und
Russlands droht der Atomwaffensperrvertrag zu erodieren. Führende NATO-
Staaten weigern sich, multilateralen Rüstungskontrollvereinbarungen – zum
Beispiel zum Verbot von Antipersonenminen oder Streumunition – beizutreten
und den Einklang mit dem humanitären Völkerrecht sicherzustellen. Dies unter-
gräbt die Glaubwürdigkeit der NATO insgesamt. Neue Schritte zur Vertrauens-
bildung, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind dringend erforderlich.

3. Aufgaben und Einsatzraum begrenzen

Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die NATO auf der Suche nach einem
tragfähigen transatlantischen Sicherheitskonsens. Zwischen den Mitgliedstaaten
gab es in den vergangenen Jahren einen zum Teil tief greifenden Dissens über
die vorrangigen Ziele, Aufgaben und Methoden der gemeinsamen Friedens-
sicherung, der das Bündnis und die transatlantische Partnerschaft schwer belas-
tet hat. Die Veränderung der existenziellen Bedrohungslage, das militärische
Engagement auf dem Balkan und in Afghanistan, die angestrebte außen- und
sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU, die Anschläge des 11. Sep-
tember 2001 oder das umstrittene militärische Vorgehen einiger Mitglieder
gegen den Irak haben das Bündnis in den vergangenen zwei Jahrzehnten grund-
legend verändert.

Dass die NATO-Staaten als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September
2001 den Bündnisfall ausgerufen haben, hat weder zu einer transatlantischen
Stärkung der NATO noch zu einem einheitlichen und völkerrechtskonformen
Vorgehen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus beigetragen. Die
jahrelange und halbherzige Aufrechterhaltung des Bündnisfalles hat die Bei-
standsverpflichtung des Artikels 5 des NATO-Vertrages (Nordatlantikvertrag)
entwertet. Eine weitere Aufrechterhaltung des Bündnisfalles ist nicht mehr
nachvollziehbar, ein Ende nicht in Sicht. Bis heute gibt es kein Verfahren, wie
der formal beschlossene Bündnisfall beendet wird.

Der Afghanistaneinsatz zeigt: Globale friedenserzwingende Einsätze stellen das
Bündnis vor Belastungsproben, die es auf Dauer nicht aushält. Auf diesem Feld
liegt nicht die Zukunft der NATO. In vielen Staaten bestehen innenpolitisch
große Vorbehalte, zumal wenn die Einsätze mit hohen Opferzahlen unter eige-
nen Soldaten oder der Zivilbevölkerung einhergehen. Oft wird die NATO zudem

anstatt als Wertebündnis als Instrument des Westens zur eigenen Interessen-

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durchsetzung wahrgenommen. Wird sie dauerhaft als Besatzungsmacht empfun-
den, kann die NATO bei internationalen Einsätzen nicht bestehen.

Im globalen Maßstab ist die NATO derzeit noch die einzige Organisation, die
zur Führung anspruchsvoller, multinationaler Militäreinsätze im Auftrag der
Vereinten Nationen in der Lage ist. Die Einhaltung des Völkerrechts und die
Einbettung in einen tragfähigen politischen und zivilen Rahmen sind zwingende
Voraussetzungen für dieses VN-mandatierte globale Engagement der NATO.
Als Militärallianz ist die NATO aber elementar darauf angewiesen, dass die
zivilen Akteure ihren Teil der Aufgabe effektiv erfüllen.

Hier hat das Bündnis nichts zu bieten. Andere Akteure, wie die EU, sind mit
ihrem zivil-militärischen Ansatz und ihrer demokratischen Legitimation in vie-
len Fällen besser geeignet, vernetzte Sicherheit herzustellen. Die NATO hinge-
gen muss sich wieder auf ihre Kernaufgaben und Kernkompetenzen der Frie-
denssicherung im euroatlantischen Raum konzentrieren.

Konfliktprävention, Ressourcenkrisen, der Kampf gegen den internationalen
Terrorismus, aber auch Entwicklungen wie der Klimawandel oder die globale
finanzielle und technologische Vernetzung stellen das Bündnis vor Aufgaben,
die mit militärischen Instrumenten nicht zu lösen sind. Hier sind in erster Linie
politische und globale Initiativen erforderlich, die nicht im Rahmen eines Mili-
tärbündnisses zu klären sind.

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