BT-Drucksache 16/12309

Betreutes Wohnen für ältere Menschen - Qualitätskriterium Nutzerorientierung

Vom 18. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12309
16. Wahlperiode 18. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Britta Haßelmann, Nicole Maisch,
Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, Hans-Josef
Fell, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Ulrike Höfken, Markus Kurth, Krista
Sager, Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Betreutes Wohnen für ältere Menschen – Qualitätskriterium Nutzerorientierung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Betreute Wohnen für Ältere stellt sich in Bezug auf die baulichen Stan-
dards, Leistungs- und Versorgungsangebote höchst unterschiedlich dar. Der
Begriff „Betreutes Wohnen“ wird sehr uneinheitlich verwendet. Er orientiert
sich nicht an Mindeststandards oder gar an einer gesetzlichen Festlegung. Auf-
grund dieser Defizite sind die Angebote kaum miteinander zu vergleichen, in
hohem Maße intransparent und keinesfalls verbraucherschutzfreundlich. Dies
führt dazu, dass sich gerade ältere Menschen bei der Beschäftigung mit dieser
Wohnform überfordert fühlen oder eine übererhöhte Erwartungshaltung an das
Betreute Wohnen entwickeln. Fälschlicherweise wird angenommen, dass Be-
treutes Wohnen automatisch Betreuung einschließt.

Nach der Föderalisierung des Heimrechts verbleibt die Zuständigkeit zur Rege-
lung vertragsrechtlicher Vorschriften in gesetzgeberischer Kompetenz des Bun-
des. In dem im November 2008 vorgelegten Referentenentwurf zum Wohn- und
Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) wurde ein Versuch unternommen verbrau-
cherschutzrechtliche Regelungen zum Bereich des Betreuten Wohnens aufzu-
nehmen. Das daraufhin im Februar 2009 im Kabinett beschlossene Wohn- und
Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) erkennt zwar den besonderen Schutzbedarf
der (potentiellen) Inanspruchnehmerinnen und Inanspruchnehmer an, schließt
aber – entgegen dem Referentenentwurf – gerade die heute typischen Betreuten
Wohnangebote, in denen Betreuung erbracht, vorgehalten oder vermittelt wird,
aus. Diese Regelung schafft keinerlei Verbesserungen für den Verbraucher-
schutz im Betreuten Wohnsegment, die aber dringend geboten sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten, die die Rechte und Bedürfnisse der
Verbraucherinnen und Verbraucher im Zusammenhang mit dem Leistungsange-
bot des Betreuten Wohnens stärken und schützen. Diese Maßnahmen gelten für
alle Leistungsangebote, bei denen es sich um eine Kombination aus Wohnen
und Betreuung bzw. betreuerischen Serviceleistungen handelt, die vom Leis-
tungsanbieter erbracht, vorgehalten oder vermittelt werden. Dabei zu regeln ist

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1. die Schaffung einer eindeutigen und verbraucherschutzorientierte Rechts-
grundlage zur Ausgestaltung Betreuter Wohnangebote, was u. a. eine ein-
deutige Definition Betreuter Wohnangebote und einen Rechtsanspruch auf
Beratung und Information vor Vertragsabschluss einschließt;

2. die Etablierung von Mindeststandards und Entwicklung von Qualitätskrite-
rien sowie die Förderung der Leistungstransparenz u. a. durch die Errichtung
eines Einrichtungs- und Diensteregisters;

3. a) die Gewährleistung eines ausgeweiteten und umfassenden Rechts-
anspruchs auf eine unabhängige Wohn- und Pflegeberatung sowie

b) eine umfassende Beratungs- und Informationspflicht durch die Leis-
tungserbringer.

Berlin, den 18. März 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Beim Betreuten Seniorenwohnen handelt es sich um eine besondere Wohnform
zwischen der privaten Häuslichkeit und einer stationären Wohn- und Unter-
bringungsform. Durch die weitgehend fehlende rechtliche Grundlage im Be-
reich des Betreuten Wohnens für ältere Menschen gibt es bis heute keine klaren
Anforderungen an dieses Konzept.

Derzeit werden daher altengerechte Wohnungen mit und ohne Serviceangebote
bis hin zu Wohnstiften und Residenzen mit einem Vollservice als Betreutes
Wohnen bezeichnet. Diese Pluralität bietet zwar einerseits die Möglichkeit zur
Entwicklung neuer und unterschiedlichster Wohnkonzepte. Andererseits er-
geben sich aber gerade aus der Breite dieser Leistungsangebote vermehrt
Erschwernisse hinsichtlich der rechtlichen Eingrenzung und Regulation sowie
der Festlegung von Mindeststandards. So existieren beispielsweise bundes-
landspezifische Qualitätssiegel und eine DIN-Norm (DIN 77800) mit einem
umfassenden Verbraucherschutzanspruch, die keinerlei Rechtsverbindlichkeit
aufweisen.

Verbraucherinnen und Verbraucher müssen daher die notwendigen Informatio-
nen über das Angebot, den Leistungsumfang und die Leistungsausgestaltung
des Betreuten Wohnens selber einholen und Vergleichskriterien erstellen. Das
schwächt ihre Rolle als selbstbestimmte Verbraucherinnen und Verbraucher.

Bei Angeboten des Betreuten Wohnens wird von der noch gegebenen Selbst-
ständigkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgegangen. Verschiedene
Erhebungen (Saup, W. 2008, 10-jährige Längsschnittstudie Betreutes Wohnen
im Alter, Projektstudie Universität Augsburg) zeigen, dass das Einzugsalter bei
78 Jahren und höher liegt. Gesundheitliche Einschränkungen vor und zum Ein-
zugszeitpunkt sind dabei auffällig hoch (Engels, D. 2001, Wunsch und Wirk-
lichkeit des Betreuten Wohnens, Sekundäranalyse des Instituts für Sozialfor-
schung und Gesellschaftspolitik GmbH, Köln). Dies lässt auf einen vermehrten
Hilfe- und Unterstützungsbedarf schließen. Dieser Bedarf oder der von den Be-
troffenen zukünftig erwartet wird, ist zumeist der Grund für die Wahl des
Wohnangebotes und unterstreicht den besonderen Schutzbedarf der Klientel.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12309

Deshalb kommt der Beratung vor und während der Inanspruchnahme des Be-
treuten Wohnens eine sehr hohe Bedeutung zu. Damit betreute Wohnangebote
auch langfristig eine tatsächliche Alternative zum stationären Versorgungs-
angebot sein können, bedarf es zukünftig vor allem mehr Maßnahmen der
Qualitätssicherung (z. B. Einführung von Mindeststandards) wie auch effekti-
vere Maßnahmen des Verbraucherschutzes (Beratung und Aufklärung).

Zu Nummer 1

Nach der Föderalismusreform ist die Zuständigkeit für das Heimgesetz vom
Bund auf die Länder übergegangen. Das bedeutet, dass die Länder alle
Rahmenbedingungen für die ordnungsrechtliche Weiterentwicklung rund um
Betreuung und Pflege regeln. Es zeigt sich aber, dass in den bislang erlassenen
bundeslandspezifischen Heimgesetzgebungen lediglich der Versuch unter-
nommen wird, eine Abgrenzung zum stationären Versorgungsbereich zu voll-
ziehen. Weitere Regelungsnormen unterbleiben. Ungeachtet der Übertragung
der Regelungskompetenz für das Heimrecht an die Länder im Rahmen der
Föderalismusreform, bleibt der Bund weiterhin für die zivilrechtlichen Vor-
schriften zuständig. Explizit handelt es sich dabei um die Ausgestaltung des
Vertragsrechts. Der Anspruch eines verbraucherschutzorientierten Gesetzes
muss folgende Punkte beinhalten:

● Betreute Wohnformen sind so zu definieren, dass dazu all jene Angebote
zählen, bei denen Wohnraum mit der Erbringung, Vorhaltung und Vermitt-
lung von Dienst-, Betreuungs- und Pflegeleistung verbunden ist.

● Bestandteil der gesetzlichen Regelung muss die Verpflichtung zur münd-
lichen und schriftlichen Aufklärung und Information durch den Leistungs-
anbieter vor Vertragsabschluss sein. Hierzu gehört auch die Verankerung
einer Prospektpflicht.

● Der Leistungsanbieter muss verpflichtet werden, im Rahmen des Aufklä-
rungs- und Informationsgesprächs auf die Möglichkeit der unabhängigen
Wohn- und Pflegeberatung zu verweisen (siehe Nummer 3).

Zu Nummer 2

Bisher existieren keine verbindlichen Qualitätsstandards für das Betreute
Wohnen. Die Entwicklung und Gewährleistung von Mindeststandards und
Qualitätskriterien sowie die Förderung der Leistungstransparenz wird die
Etablierung und Verbreitung dieser Wohnform stärken und zukünftig die Nach-
frage erhöhen. Eine bedeutende Grundlage für die Qualitätsentwicklung in die-
sem Bereich ist die Errichtung eines Einrichtungs- und Diensteregisters. Dieses
soll dazu beitragen, die Entwicklung des Wohnangebots qualitativ wie quantita-
tiv einschätzen zu können und daraus u. a. prospektiv die kommunale Alten-
hilfe- und Versorgungsplanung abzuleiten. Im Rahmen der Festlegung von
Qualitätsstandards fordern wir, folgende Bereiche sicherzustellen:

● Vertragsgestaltung (Vertragspartner, Leistungserbringer, Form, Entgelte,
Übersichtlichkeit, Transparenz, Verständlichkeit),

● Anforderung an die Dienstleistungen des Betreuten Wohnens (Grund- und
Wahlleistungen, Betreuungskonzept, Personalschlüssel, Erreichbarkeit und
Verfügbarkeit von Leistungserbringer, Beratungs- und Betreuungsperson
auch außerhalb von Sprechstunden),

● Anforderungen an das Wohnangebot (Barrierefreiheit, Gestaltung, Umfeld,
Quartier),

● qualitätssichernde Maßnahmen (Bewohnerbefragung, Beschwerdemanage-

ment),

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● Transparenz der Angebote (Beratungsanspruch auch nach Einzug in das
Betreute Wohnen, strategisches Kommunikationsmanagement),

● Qualifikation der Leistungserbringer, Beratungs- und Betreuungsperson
(Aufgabenprofil, Grundfähigkeiten, Kompetenzen, Kenntnisse im Sozial-
recht, der Hilfebedarfsermittlung und -planung, Festlegung von Fort- und
Weiterbildungsmaßnahmen),

● Kontinuitätsgarantie (Regelungen zur Sicherstellung der Leistungserbrin-
gung, insbesondere bei neu initiierten Projekten).

Die bereits entwickelte Qualitätsnorm der DIN 77800 stellt einen bereits vor-
liegenden Standard dar, der im Expertenkonsensus entwickelt wurde und der
hier Berücksichtigung finden sollte.

Zu Nummer 3a

Der Markt im Bereich alternativer Wohnformen für ältere Menschen wächst be-
ständig. Dadurch wird er für die Einzelne/den Einzelnen jedoch auch immer
unübersichtlicher. Speziell die hier genannte Nutzerinnen- und Nutzergruppe,
die infolge des demografischen Wandels in den kommenden Jahren stark an-
wächst, benötigt eine flächendeckende, unabhängige, wohnortnahe und quali-
tätsgesicherte Pflege- und Wohnberatung. Sie soll Verbraucherinnen und Ver-
braucher kostenlos und unbürokratisch zur Verfügung stehen und darf an keine
Zugangsvoraussetzungen, wie beispielsweise das Vorliegen von Pflegebedürf-
tigkeit, gekoppelt sein. Gerechtfertigt ist dieser Anspruch besonders unter Be-
achtung des Grundsatzes Prävention vor Rehabilitation und Pflege, da sich die
Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Wohnform positiv oder negativ
auf den gesundheitlichen und pflegerischen Zustand einer Person auswirken
kann. Pflege- und Wohnberatung sollte folgende Aspekte beinhalten:

● allgemeine und individuelle Beratung,

● telefonische oder persönliche Beratung in der Beratungsstelle oder der pri-
vaten Häuslichkeit,

● Informationen zum regionalen Wohn- und Betreuungsangebot und zum
Leistungsspektrum der regionalen Versorgungs- und Einrichtungsangebote,

● Ermittlung und Konkretisierung des individuellen Wohn- und/oder Unter-
stützungsbedarfs,

● Hilfe bei der Suche eines passgenauen Wohn- und Unterstützungsangebotes,

● Prüfung von Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der häuslichen Wohn-
situation, z. B. durch Maßnahmen der Wohnraumanpassung,

● Informationen über individuelle sozialrechtliche Ansprüche, die für die
Inanspruchnahme von Betreuten Wohnangeboten wichtig sind,

● Information und Aufklärung über allgemeine rechtliche Grundlagen im
Zusammenhang mit Betreuten Wohnangeboten.

Zu Nummer 3b

Anbieter des Betreuten Wohnens sollen verpflichtet werden im Vorfeld eines
möglichen Vertragsabschlusses, neben dem mündlichen Informations- und Be-
ratungsgespräch schriftliche Informationen zum Leistungsangebot vorzulegen.
Darin müssen auch die Grenzen des Angebots in verständlicher Sprache formu-
liert sein. Die Informationen sollten sich, orientiert an der DIN-Norm 77800,
auf folgende Bereiche beziehen:

● Hinweis auf unabhängig Wohn- und Pflegeberatung mit Kontaktdaten,

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● Wohnanlage: Angaben zu Vermieter, Ansprechpartner, Größe der Anlage,
Infrastruktur und Angaben zur Barrierefreiheit,

● Wohnung: Angaben zu Wohnungsgröße, Ausstattung, Einhaltung der DIN-
Normen zur Barrierefreiheit usw.,

● Grundleistungen: Verdeutlichung, dass keine Vollversorgung gewährleistet
werden kann; Angaben zu Träger der Betreuungsleistungen, Betreuungs-
konzept, Funktion, Adresse und Telefonnummer der Ansprechpartner,
Qualifikation, Aufgabenprofil, Funktion, Erreichbarkeit der Betreuungs-
kraft/Betreuungskräfte, Leistungskatalog usw.,

● Wahlleistungen: Angaben zur Garantie der freien Wahl der Dienstleister, zu
Art und Weise der Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern, Leistungs-
katalog der Wahlleistungen, Aufschlüsselung der Leistungen möglicher
Angebotspakete,

● Kosten und Finanzierung: Angaben zu Miete, Mietnebenkosten, Möglich-
keiten des Eigentumerwerbs, monatliche Kosten der Grundleistung, ein-
malige Kosten bei Vertragsabschluss, monatliche Kosten der Wahlleistun-
gen, Aufschlüsselung der pauschalierten Leistungsangebote,

● Weitere: Grenzen des Leistungsangebotes (z. B. bei Fremd- und Eigen-
gefährdung, bei erhöhtem Betreuungsbedarf durch eine Demenzerkran-
kung), Einzugsvoraussetzungen, Möglichkeiten des Probewohnens, Um-
gang mit Beschwerden, vertragliche Regelungen (Miet- und Betreuungsver-
trag), Regelung zur Beendigung des Vertrags (z. B. bei Auszug oder Todes-
fall).

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