BT-Drucksache 16/12109

Zwei Jahre Europa-Vereinbarung - Bundesregierung muss ihre Verpflichtungen unverzüglich vollständig erfüllen

Vom 4. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12109
16. Wahlperiode 04. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Manuel Sarrazin,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zwei Jahre Europa-Vereinbarung – Bundesregierung muss ihre Verpflichtungen
unverzüglich vollständig erfüllen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europa-Vereinbarung ist seit mehr als zwei Jahren gültig. Der Bundestag
ratifizierte sie am 22. September 2006 als Vereinbarung zwischen dem Deut-
schen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in An-
gelegenheiten der Europäischen Union (Bundestagsdrucksache 16/2620). Mit
dieser Vereinbarung (abgekürzt BBV) hat der Deutsche Bundestag wichtige
Entscheidungs-, Beteiligungs- und Informationsrechte erhalten. Sie hat die
europabezogenen Abläufe im Deutschen Bundestag erheblich gestärkt. Und sie
ist die Voraussetzung dafür, dass der Deutsche Bundestag an den Rechten und
Pflichten, die der Bundesrepublik Deutschland aus der Mitgliedschaft in der
Europäischen Union erwachsen, mitentscheiden und mitgestalten kann. Ins-
gesamt hat sich die Europaarbeit des Deutschen Bundestages durch die BBV
erheblich verbessert.

Doch zwei Jahre nach Inkrafttreten der BBV stellt der Deutsche Bundestag
zum wiederholten Male fest, dass die Bundesregierung noch immer nicht alle
ihre Verpflichtungen einhält. Dem in Abschnitt I Nummer 1 Satz 1 BBV fest-
gelegten Grundsatz, wonach der Deutsche Bundestag „frühzeitig, fortlaufend
und in der Regel schriftlich über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen
Union unterrichtet wird“ wird noch immer nur teilweise entsprochen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregie-
rung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union
vollständig umzusetzen;

● mit dem Deutschen Bundestag eine Klärung zu Artikel VI BBV herbeizu-
führen, mit der die Abläufe zur Herstellung des Einvernehmens vor der Auf-
nahme von Verhandlungen zur Vorbereitung von Beitritten zur Europäischen
Union sowie zur Aufnahme von Verhandlungen zur Änderung der vertrag-
lichen Grundlagen der Europäischen Union festgelegt werden;

Drucksache 16/12109 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

● den Unterrichtungspflichten in den Bereichen Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) und Europäische Sicherheits- und Verteidigungs-
politik (ESVP) gemäß Abschnitt I Nummer 1 Absatz 2 BBV frühzeitig und
umfassend nachzukommen und die Dokumente zur Unterrichtung über die
GASP und die ESVP dem Bundestag künftig frühzeitig und förmlich zu-
zuleiten;

● die Stellungnahmen des Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes (GG) zu berücksichtigen und nach Abschnitt II Nummer 4 BBV
einen Parlamentsvorbehalt einzulegen, wenn die durch den Bundestag fest-
gelegten wesentlichen Belange in Ratsverhandlungen nicht durchsetzbar
sind;

● den Bundestag in einem frühen Verhandlungsstadium über geplante völker-
rechtliche Verträge der Gemeinschaft zu informieren und ihm dafür Be-
schlüsse, durch die die Kommission zur Verhandlung über völkerrechtliche
Verträge ermächtigt wird (Verhandlungsmandat), förmlich zu überweisen;

● dem Bundestag vorbereitende Papiere der Kommission, soweit sie der Bun-
desregierung vorliegen, gemäß Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe a BBV zur
Verfügung zu stellen;

● den Deutschen Bundestag grundsätzlich frühzeitig und vollständig gemäß
Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe c BBV über die Arbeitsgruppen des Rates
zu unterrichten;

● in die Vor- und Nachberichterstattung über Tagungen des Rates gemäß
Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe b und Nummer 3 auch Informationen über
geplante Verabschiedungen ohne Aussprache (sog. A-Punkte) bzw. ohne
Debatte verabschiedete Rechtsakte aufzunehmen;

● den Bundestag über Initiativen der Bundesregierung für Organe der EU ge-
mäß Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe d BBV im Vorfeld regelmäßig zu
unterrichten und dem Bundestag ein regelmäßiges Unterrichtungsschreiben
über Stellungnahmen der Bundesregierung zu übermitteln;

● dafür Sorge zu tragen, dass „Umfassende Bewertungen“ nach Abschnitt I
Nummer 5 BBV zu allen beratungsrelevanten Rechtsetzungsvorschlägen
angefertigt werden;

● dem Bundestag nach Abschnitt I Nummer 7 BBV den Zugang zu als „rest-
reint“ klassifizierten Dokumenten zu ermöglichen;

● dem Bundestag in Anlehnung an Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe a BBV
Mahnschreiben der Kommission an die Bundesregierung zur Einleitung
eines Vertragsverletzungsverfahrens zu übersenden.

Berlin, den 4. März 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Nur wenn der Deutsche Bundestag gemäß dem Grundsatz „frühzeitig, fort-
laufend und in der Regel schriftlich über alle Vorhaben im Rahmen der Euro-
päischen Union“ unterrichtet wird, kann er seiner Rolle zur Mitentscheidung und
Mitgestaltung in EU-Angelegenheiten gerecht werden und das Verhalten der
Bundesregierung im Rat kontrollieren. Auch das neue im Vertrag von Lissabon

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12109

enthaltene Recht auf Prüfung der Einhaltung des Prinzips der Subsidiarität
kann nur vollständig und fristgerecht erfolgen, wenn der Deutsche Bundestag
hinreichend unterrichtet wird.

Die Bundesregierung hat entgegen Abschnitt VI BBV kein Einvernehmen mit
den Fraktionen vor Eröffnung der jüngsten Regierungskonferenz gesucht. Die
Regierungskonferenz zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäi-
schen Union wurde durch den Rat der Außenminister gemäß Artikel 48 des
EUV-Vertrages auf seiner Sitzung am 23./24. Juli 2007 einberufen. Der Deut-
sche Bundestag wurde hierüber lediglich in Kenntnis gesetzt, hätte jedoch vor
der abschließenden Entscheidung zur Eröffnung der Regierungskonferenz im
Rat konsultiert werden müssen. Eindeutige Klärungen dieses Artikels müssen
dazu führen, dass künftig die Herstellung des Einvernehmens mit dem Bundes-
tag klar definiert ist.

Besonders gravierende Defizite bei der Umsetzung der BBV ergeben sich in
den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). So stellte eine
unabhängige Kontrollgruppe bereits 2007 fest, dass dem Grundsatz, dass der
Bundestag „frühzeitig, fortlaufend und in der Regel schriftlich über alle Vorha-
ben im Rahmen der Europäischen Union unterrichtet wird“, nur teilweise ent-
sprochen wird. Die Dokumente wurden nicht oder nur teilweise förmlich zuge-
leitet und häufig erst, nachdem sie bereits beschlossen waren. Doch die
Bundesregierung hat diesen Missstand nicht behoben. Stattdessen, stellte die-
selbe unabhängige Kontrollgruppe in ihrem Bericht von 2008 fest, dass dem
Bundestag seit Monaten gar keine Dokumente mehr aus diesem Bereich förm-
lich zugeleitet werden.

In Abschnitt II Nummer 4 BBV wird geregelt, dass die Bundesregierung einen
Parlamentsvorbehalt einlegen muss, wenn ein Beschluss des Deutschen Bun-
destages (nach Artikel 23 Absatz 3 GG) in einem seiner wesentlichen Belange
nicht durchsetzbar ist. Dies hat die Bundesregierung bei den Verhandlungen im
Rat zum Emissionshandel im Rahmen des Klima- und Energiepaketes nicht
getan. Der Bundestagsbeschluss 16/9334 legt als wesentlichen Belang fest, eine
100-prozentige Versteigerung der Zertifikate in der Stromwirtschaft vorzu-
sehen. Dieser wesentliche Belang wurde nicht durchgesetzt. Der notwendige
Parlamentsvorbehalt wurde nicht eingelegt. Zudem sieht Abschnitt II Num-
mer 3 BBV vor, dass der Bundestag Stellungnahmen im Verlauf der Beratun-
gen des Vorhabens in den EU-Gremien anpassen und ergänzen kann. Zu diesem
Zweck unterrichtet die Bundesregierung den Bundestag durch ständige Kon-
takte über wesentliche Änderungen bei dem Vorhaben. Auch dies ist nicht er-
folgt.

Die vereinbarte Übermittlung inoffizieller Dokumente gemäß Abschnitt I
Nummer 2 Buchstabe a BBV auf Anforderung des Bundestages ist nur in eini-
gen Fällen erfolgt.

Die BBV bestimmt zudem in Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe c BBV, dass der
Deutsche Bundestag Berichte über die Arbeitsgruppen des Rates (RAG) erhält.
Diese Berichte fallen jedoch lückenhaft aus, da sie häufig im „Hauptstadt-
format“ verfasst werden. Über das Hauptstadtformat findet keine regelmäßige
Berichterstattung statt. Durch diese Praxis kann sich der Deutsche Bundestag
nicht ausreichend über den Verlauf der RAG-Sitzungen informieren. Da in den
RAG-Sitzungen bereits viele Ratsbeschlüsse vorentschieden werden, ist eine
zuverlässige Unterrichtung des Deutschen Bundestages unabdingbar.

Nach Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe d BBV hat die Bundesregierung den
Bundestag durch Übersendung von Dokumenten und Informationen über ihre
förmlichen Initiativen, abgegebenen Stellungnahmen und Erläuterungen für
Organe der Europäischen Union zu unterrichten. Auch dies erfolgt mangelhaft,

Drucksache 16/12109 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
obwohl sich beispielsweise die Stellungnahmen häufig entweder auf den
Internetseiten der Ministerien oder der Kommission finden lassen.

Berechnungen haben ergeben, dass nur zu knapp der Hälfte der beratungsrele-
vanten Rechtsetzungsvorschläge „Umfassende Bewertungen“ der Bundesregie-
rung, die neben der Prüfung der Rechtsgrundlage, Subsidiarität und Verhältnis-
mäßigkeit eine Gesetzesfolgenabschätzung sowie Angaben zu Alternativen,
Kosten, Verwaltungsaufwand und Umsetzungsbedarf beinhalten soll, gefertigt
wurden und dass die Qualität der Bewertungen erheblich schwankt. Diese Be-
richte müssen jedoch vollständig angefertigt werden, damit sich der Bundestag
ein umfassendes Bild über Rechtsetzungsvorschläge machen kann.

Der Bundestag hat gemäß Abschnitt I Nummer 2 Buchstabe a BBV einen An-
spruch auf Übersendung von Dokumenten der Kommission und ihrer Dienst-
stellen, soweit sie an den Rat gerichtet oder der Bundesregierung auf sonstige
Weise zugänglich gemacht worden sind. Dies betrifft auch Mahnschreiben an
die Bundesregierung. Bislang erreichen den Bundestag allerdings keine Unter-
richtungen über außergerichtliche Verfahrensabschnitte. Dies betrifft insbeson-
dere die erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 226 des
EG-Vertrages.

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