BT-Drucksache 16/11907

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -16/9163- Verbraucherpolitischer Bericht 2008

Vom 10. Februar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11907
16. Wahlperiode 10. 02. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Heidrun
Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Katrin
Kunert, Michael Leutert, Dorothee Menzner, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 16/9163 –

Verbraucherpolitischer Bericht 2008

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag nimmt zur Kenntnis, dass der Verbraucherpolitische
Bericht 2008 zahlreiche verbraucherpolitische Vorgaben der Europäischen
Union aufzählt, die im Berichtszeitraum in nationales Recht umgesetzt wur-
den. Der Deutsche Bundestag sieht auch die besondere Herausforderung, die
die Verteilung der Zuständigkeiten im bundesdeutschen Föderalismus, insbe-
sondere im Bereich des gesundheitlichen Verbraucherschutzes mit sich
bringt. Dennoch und gerade deshalb vermisst der Deutsche Bundestag ein
eigenständiges Profil der Bundesregierung als verbraucherpolitische Akteu-
rin auf Bundesebene. Dies zeigt sich unter anderem im Fehlen eines Ausbli-
ckes über künftige verbraucherpolitische Initiativen im Regierungsbericht.

2. Der Deutsche Bundestag teilt die Auffassung der Bundesregierung, dass der
tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel von einer verant-
wortungsbewussten Verbraucherpolitik begleitet werden muss. Dieser Wan-
del ist Ausdruck und Konsequenz der jahrelangen neoliberalen Politik der
Bundesregierung und der Europäischen Union. Die Liberalisierung und De-
regulierung der Märkte und der damit einhergehende Abbau der öffentlichen
Daseinsvorsorge in so lebenswichtigen Bereichen wie Energie, Wasser, Ge-
sundheit oder Altersvorsorge hatte und hat gerade auch für Verbraucherinnen
und Verbraucher weit reichende oder gar existenzielle Folgen. Angesichts der
wachsenden Vielfalt des Waren- und Dienstleistungsangebots und der Anbie-
ter werden Konsumentscheidungen immer komplexer. In vielen Bereichen
wird ein Maß an Eigenverantwortung und Informiertheit vorausgesetzt, das

viele Menschen überfordert.

3. Die den Bericht durchdringende Marktideologie der Bundesregierung und
deren ablehnende Haltung gegenüber regulierenden Eingriffen bzw. ver-
pflichtenden Maßnahmen sind nicht geeignet, die Stellung der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher auf dem Markt zu stärken bzw. die dortigen Macht-
verhältnisse zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern einerseits und
anbietenden Unternehmen andererseits auszugleichen. Auch der von der

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Bundesregierung bevorzugte Ansatz der Freiwilligkeit bzw. der Selbstver-
pflichtung, der es Unternehmen freistellt, ob und wie sie sich an verbraucher-
politische Vorgaben halten, ist nicht zielführend.

Verbraucherpolitik hat in erster Linie die Interessen der Verbraucherinnen
und Verbraucher zu schützen sowie deren Rechte zu sichern und auszubauen.
Sie ist nicht Mittel zum Zweck, die Handlungsspielräume der Wirtschaft oder
Marktanteile zu sichern. Vielmehr muss sie nachteilige Entwicklungen für
Verbraucherinnen und Verbraucher am Markt vermeiden bzw. abfedern. Re-
gelungen zum Verbraucherschutz müssen dementsprechend dazu beitragen,
negative Auswirkungen von Vertragsabschlüssen von vornherein zu vermei-
den oder ggf. eine nachträgliche Korrektur zugefügter Schäden ermöglichen.

4. Verbraucherinnen und Verbraucher sind keine homogene Gruppe. Sie unter-
scheiden sich hinsichtlich ihres verfügbaren Einkommens, ihres Alters, ihres
Bildungshintergrunds oder auch ihrer kulturellen Herkunft. Aufgabe staat-
licher Verbraucherpolitik muss es sein, die Rechte aller Verbraucherinnen
und Verbraucher adäquat zu schützen und zu stärken. Staatliche Informa-
tionspolitik sowie Angebote der Verbraucherbildung und -aufklärung müssen
zielgruppengerecht gestaltet sein, damit alle Bürgerinnen und Bürger ohne
Unterschied in der Lage sind, sich auf einfachem Weg zu informieren, selbst-
bestimmte Entscheidungen zu treffen und ihr Konsumverhalten kritisch zu
hinterfragen.

In diesem Zusammenhang kritisiert der Deutsche Bundestag, dass die Bun-
desregierung den wichtigen Bereich der Verbraucherbildung aus ihrem Ver-
braucherpolitischen Bericht 2008 ausklammert und auch nicht am ersten Be-
richt der OECD (Organization for Economic Cooperation and Development)
zur Verbraucherbildung mitwirkt.

5. Der Deutsche Bundestag würdigt die Arbeit der unabhängigen Verbraucher-
organisationen, die im Bereich der Verbraucherinformation, der Verbraucher-
bildung und nicht zuletzt der Rechtsdurchsetzung wichtige Aufgaben im
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher wahrnehmen und für deren
Interessen engagiert streiten. Da es in Deutschland traditionell kein behörd-
liches System zur Rechtsdurchsetzung bei Verstößen gegen das Wettbe-
werbsrecht bzw. Verbraucherrechte gibt, sind es vornehmlich die unabhängi-
gen Verbraucherverbände, die gegen solche Verstöße vorgehen. Sie sind da-
mit zentrale Akteure der Verbraucherpolitik in Deutschland. Aus diesem
Grunde ist es nicht hinnehmbar, dass die unverzichtbare Arbeit dieser Ver-
bände erschwert wird und bisweilen sogar bedroht ist durch eine kontinuier-
liche Unterfinanzierung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Interessen und den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher in den
Mittelpunkt ihrer Verbraucherpolitik zu stellen. Dazu müssen die Rechte der
Verbraucherinnen und Verbraucher gesichert und ausgebaut werden. Dies
muss seinen Ausdruck in der Entwicklung einer verbraucherpolitischen Ge-
samtstrategie finden, welche einen schlüssigen roten Faden erkennen lässt.
Drängende verbraucherpolitische Herausforderungen müssen schnell und im
Sinne der Betroffenen gelöst werden und dürfen nicht wie das Verbot der
unerwünschten Telefonwerbung oder auch der Ausbau der Fahrgastrechte um
Monate oder gar Jahre verzögert werden. Zukünftige verbraucherpolitische
Handlungsfelder sind rechtzeitig und vorausschauend anzugehen. In diesem
Kontext sind auch der Ausbau und die Förderung der Verbraucherforschung
notwendig;

– die Angebote zur Verbraucherinformation auf allen Ebenen auszubauen, um

Transparenz und Wahlfreiheit herzustellen. Unter anderem ist neben einer
grundlegenden Überarbeitung des Verbraucherinformationsgesetzes im

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11907

Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher umgehend eine verbindliche,
aussagekräftige und leicht verständliche Nährwertkennzeichnung mit Am-
pelfarben einzuführen. Die Bundesregierung ist darüber hinaus aufgefordert,
sich auch auf europäischer Ebene für dieses Modell einzusetzen;

– zur Vermeidung gesundheitlicher Schäden die Belastung durch Rückstände
und Zusatzstoffe in Lebens- und Futtermitteln und anderen Produkten konti-
nuierlich zu minimieren und mit dafür Sorge zu tragen, dass der Vorsorgege-
danke sowohl bei der Zulassung als auch bei der Festlegung von Grenzwerten
für potentiell gefährliche Zusatz- und Inhaltsstoffe eine zentrale Rolle ein-
nimmt;

– die Bevölkerung in enger Zusammenarbeit mit den Bundesländern und der
Europäischen Union effektiver vor gesundheitlich bedenklichen Lebensmit-
teln zu schützen. In Koordination mit den Ländern müssen weitergehende
Maßnahmen im Bereich der Lebensmittelsicherheit und -kontrolle ergriffen
werden. Dazu gehören auch solche, die zu einem Mehr an Transparenz und
Wahlfreiheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher beitragen – wie das
dänische Smilie-System im Bereich der Lebensmittelkontrolle;

– bei der Einführung neuartiger Lebensmittel und neuer Technologien den Vor-
sorgegedanken und die Sicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher in
den Vordergrund zu stellen. Mögliche Risiken für Mensch und Umwelt müs-
sen durch breit angelegte Forschung ausgeschlossen werden bevor die neuen
Technologien und Stoffe in Verkehr gebracht werden. Aktuell ist vor allem
bei der Nanotechnologie eine Intensivierung der Risikoforschung sowie
mehr Transparenz über ihre potentiellen Chancen und Risiken notwendig;

– den gesundheitlichen Verbraucherschutz nicht auf den Bereich Ernährung und
Lebensmittelsicherheit zu beschränken und insbesondere die Patientenrechte
und deren Verbesserung als verbraucherpolitische Herausforderung anzuneh-
men. So wird beispielsweise im Punkt „Schutz vor auf Menschen übertrag-
baren Krankheiten“ das große Problem der schweren Erkrankungen durch
Infektionen in Krankenhäusern mit multiresistenten Keimen nicht einmal er-
wähnt. Dabei ist nicht zuletzt aufgrund von Versäumnissen der Bundesregie-
rung die Zahl der Erkrankungsfälle und die Durchseuchungsrate in deutschen
Krankenhäusern um ein Vielfaches höher als z. B. in den Niederlanden;

– Bürger- und Verbraucherrechte in der digitalen Welt auszubauen. Insbeson-
dere der Datenschutz muss zwingend gestärkt werden, Zuwiderhandlungen
sind stärker zu ahnden. Dringender Handlungsbedarf besteht bei der Samm-
lung und Weitergabe von persönlichen Daten. Letztere wird durch die zuneh-
mende Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung von der Bun-
desregierung selbst mitbetrieben.

Die Sicherheit im Internet muss verbessert werden, damit Verbraucherinnen
und Verbraucher effektiver vor Abo- und Kostenfallen, Phishing und Spam
geschützt werden;

– zeitnah den finanziellen Verbraucherschutz deutlich auszubauen, um insbe-
sondere Kleinanleger und Sparer vor Übervorteilung und finanziellen Ver-
lusten zu schützen. Vor allem im Bereich des Erwerbs von Kapitalanlagen
müssen die Information und die Bildung der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher deutlich verbessert und ausgebaut werden. Beim Verkauf von Verbrau-
cherkrediten durch die darlehensgebenden Institute ist eine Zustimmungs-
pflicht der betroffenen Kundinnen und Kunden erforderlich. Die Aufgaben
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sind um den
Verbraucherschutz zu erweitern. Darüber hinaus muss eine verbraucherorien-
tierte Finanzmarktkontrolle institutionalisiert werden, welche Marktwächter-
funktionen innehat und die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher

vertritt. Und nicht zuletzt ist die Umsetzung des Rechts auf ein „Girokonto
für Jedermann“ voranzutreiben;

Drucksache 16/11907 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu stoppen und die Inte-
ressen der Verbraucherinnen und Verbraucher im diesem für die Grundver-
sorgung, Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe essentiellen Bereich
nachhaltig, flächendeckend und in guter Qualität zu sichern. Im Sinne der
Verbraucherinnen und Verbraucher muss die Bundesregierung auch eingrei-
fen, wenn wirtschaftliche Akteure in diesem bereits teilweise privatisierten
Sektor im Vorteil sind und dort für mehr Transparenz, Information und ver-
besserte Verbraucherrechte sorgen. Im Bereich der Energieversorgung ist es
beispielsweise notwendig, die Strom- und Gaspreisaufsicht wieder einzufüh-
ren und wirksam auszugestalten sowie Verbraucherbeiräte einzuführen, die
den Stromkundinnen und Stromkunden einen Einblick und ein Mitsprache-
recht bei der Preisgestaltung garantieren;

– die Klagerechte der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie der Verbrau-
cherschutzorganisationen auszuweiten und zu vereinfachen, um die Durch-
setzung von Verbraucherrechten zu gewährleisten. Dafür müssen insbeson-
dere die Verbandsklagebefugnisse erweitert, die Entschädigungsmöglichkei-
ten der Verbraucherinnen und Verbraucher verbessert und Sammelklagen
eingeführt werden;

– die Arbeit der unabhängigen Verbraucherorganisationen als zentrale Akteure
der Verbraucherpolitik langfristig zu sichern. Dazu ist es unabdingbar, das
bestehende Ungleichgewicht zwischen deren Aufgabenbelastung und ver-
fügbaren Mitteln zu beheben und für eine ausreichende finanzielle Ausstat-
tung zu sorgen. Die Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang aufgefor-
dert, nachhaltige und tragfähige Konzepte vorzulegen, um die Finanzierung
der Verbraucherberatung und insbesondere die Arbeit der Verbraucherzentra-
len langfristig zu gewährleisten;

– die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher
anzuerkennen. Demzufolge sind in den Bereichen Verbraucherbildung, -be-
ratung und -information zielgruppenspezifische Angebote und Zugänge an-
zubieten. In diesem Kontext bedarf es zielgerichteter Einzelmaßnahmen für
bestimmte Bevölkerungsgruppen, wie zum Beispiel ein Werbeverbot im Kin-
derfernsehen, ebenso wie zukunftsweisender Strategien, unter anderem sol-
cher, die den Anforderungen der alternden Gesellschaft und der unterschied-
lichen Siedlungsdichte gerecht werden. So sollte beispielsweise allen Bürge-
rinnen und Bürgern ein umfassender Universaldienst inklusive eines Inter-
netanschlusses mit schneller Übertragungsrate als Mindeststandard zustehen.

Die Bundesregierung ist überdies gefordert, insbesondere für die Verbraucher-
bildung mehr Verantwortung zu übernehmen und diesen grundlegenden
Bereich in Kooperation mit den Ländern sowohl in Kindergärten und Schulen
als auch in der Erwachsenen- und Seniorenbildung verstärkt zu fördern;

– vorwärtsweisende Initiativen im Bereich des nachhaltigen Konsums (mit) zu
entwickeln, voranzutreiben und im Sinne der Wahlfreiheit der Verbraucherin-
nen und Verbraucher breit zu kommunizieren. Besonders relevant ist in die-
sem Kontext die Schaffung von verbindlichen, durchsetzbaren und kontrol-
lierbaren Umwelt- und Sozialstandards, damit Verbraucherinnen und Ver-
braucher Zugang zu vergleichbaren und unabhängig überprüften Informatio-
nen über die sozialen und ökologischen Auswirkungen unternehmerischen
Handelns erhalten und daraus Konsequenzen für ihr Konsumverhalten ziehen
können.

Berlin, den 10. Februar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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