BT-Drucksache 16/11830

Selbstständige im SGB II-Bezug - Bewertung des Einkommens und Berufsfreiheit

Vom 3. Februar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11830
16. Wahlperiode 03. 02. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, Inge Höger,
Katja Kipping, Kornelia Möller, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken),
Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Selbstständige im SGB II-Bezug – Bewertung des Einkommens und Berufsfreiheit

Mit dem Erlass der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) zum
1. Januar 2008 wurde die Anrechnung des Einkommens von Selbstständigen
und Freiberuflerinnen und Freiberufler vom Steuerrecht abgekoppelt. Die Rege-
lungen des Steuerrechts sind seitdem nicht mehr die verbindliche Grundlage zur
Ermittlung des Einkommens bei selbstständig Erwerbstätigen. Von den Be-
triebseinnahmen sind laut Verordnung die „tatsächlich geleisteten notwendigen
Ausgaben […] ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abzusetzen“
(§ 3 Absatz 2 Alg II-V). Tatsächliche Ausgaben sollen dabei nicht abgesetzt
werden, soweit diese vermeidbar sind oder „offensichtlich nicht den Lebens-
umständen während des Bezugs der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeit-
suchende entsprechen“ (§ 3 Absatz 3 Alg II-V). Abweichend von der steuer-
lichen Absetzbarkeit werden statt 0,30 Euro lediglich 0,10 Euro Kilometerpau-
schale gewährt. Mit der 1. Änderung der Alg II-Verordnung zum 1. Januar 2009
ist letzter Punkt insofern korrigiert worden, als bei überwiegend betrieblich ge-
nutzten Fahrzeugen die tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben ange-
rechnet werden.

Aus der Abkopplung der Einkommensermittlung vom Steuerrecht ergeben sich
erhebliche Auswirkungen auf den Leistungsanspruch – sowohl hinsichtlich der
Frage, ob eine Bedürftigkeit vorliegt und hinsichtlich der zu gewährenden Leis-
tungshöhe. Die Existenzsicherung und insbesondere der Aufbau einer selbst-
ständigen Existenzgrundlage werden durch diese Maßnahme gefährdet. Für die
betroffenen Leistungsbeziehenden wird zudem eine doppelte Buchführung not-
wendig.

Mit dem Gesetz zur Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wird
§ 10 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) insofern geregelt, als nun-
mehr die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht die Unzumutbarkeit durch die
arbeitsmarktpolitischen Institutionen vermittelten Tätigkeit begründet. Selbst-
ständig Tätige im SGB II-Bezug können demnach durch die zuständigen Träger
in eine abhängige Beschäftigung vermittelt werden.
Beide genannte Veränderungen scheinen verfassungsrechtlich problematisch
(Fall 1: Ungleichbehandlung betrieblicher Ausgaben; Fall 2: Eingriff in Arti-
kel 12 des Grundgesetzes – Berufsfreiheit) und vermitteln den Eindruck, dass
die Bundesregierung davon ausgeht, dass selbstständig Erwerbstätige mit pre-
kären Einkommensverhältnissen überwiegend in missbräuchlicher Weise ihr
Anrecht auf SGB II-Leistungen nutzen würden.

Drucksache 16/11830 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hat sich die Zahl der selbstständig Erwerbstätigen im SGB II-Bezug
seit 2005 entwickelt?

2. Welche Leistungen in welcher Höhe haben selbstständig Erwerbstätige in
Anspruch genommen (Durchschnittswerte pro Jahr – bitte getrennt nach
Leistungen der Grundsicherung und Kosten der Unterkunft angeben)?

3. Wie lange waren selbstständig Erwerbstätige durchschnittlich im Leis-
tungsbezug nach dem SGB II?

4. Wie hoch waren die Gesamtausgaben für Selbstständige im SGB II-Bezug
in den Jahren seit 2005 (bitte pro Jahr angeben)?

5. Welche Gründe und dokumentierten Fakten haben die Bundesregierung zu
der Entwicklung einer sozialrechtlichen Bewertung des Einkommens von
Selbstständigen im SGB II-Bezug – unabhängig vom Steuerrecht – bewo-
gen?

6. Welche Auswirkungen hat nach den bisherigen Erfahrungen des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) für das Jahr 2008 die Alg II-
Verordnung in Bezug auf die Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen und
die Leistungshöhe?

7. Wie viele Alg II-Beziehende haben aufgrund der Neuberechnung ihrer Ein-
nahmen als Selbstständige ihren Anspruch auf Alg II verloren, und wie
viele Personen haben infolge der Verordnung ihre selbstständige Erwerbs-
tätigkeit aufgegeben?

8. Wie hoch ist der zusätzliche administrative Aufwand einzuschätzen, der mit
der Neukalkulation der Einkommen bei Selbstständigen im SGB II

a) bei den betroffenen Leistungsberichtigten und

b) bei den Verwaltungsstellen

entsteht?

9. Wie bewertet die Bundesregierung mit heutigem Kenntnisstand die Aussage
der Bundesagentur für Arbeit (zitiert in Bundestagsdrucksache 16/7838),
dass der administrative Aufwand mehr Kosten im Vollzug als erwartete
Einsparungen produzieren werde?

10. Wie hoch ist die Zahl der

a) Widersprüche und

b) Klagen

aufgrund von angefochtenen Kalkulationen hinsichtlich des Einkommens?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass die sozialrechtliche
Bewertung der Einnahmen von Selbstständigen rechtswidrig ist, und
welche diesbezüglichen Urteile mit welchem Inhalt sind der Bundesregie-
rung bekannt?

12. Mit welcher Begründung anerkannte die Bundesregierung bei Selbstständi-
gen im SGB II-Bezug lediglich eine Kilometergeldpauschale in Höhe von
0,10 Euro gegenüber 0,30 Euro im Steuerrecht?

Welche Regelung und Praxis gilt derzeit?

13. Welche Gründe haben die Bundesregierung zu der begrenzten Novellierung
durch die 1. Änderung der Alg II-Verordnung bewogen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11830

14. Welche Gründe und dokumentierten Fakten haben die Bundesregierung zu
der Ergänzung der Zumutbarkeitsregelung im SGB II (§ 10 Absatz 2) be-
wogen, wonach nunmehr eine bereits bestehende Erwerbstätigkeit keine
Unzumutbarkeit eines Arbeitsangebots begründet?

15. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Verpflichtung zur
Beendigung einer bereits bestehenden Erwerbstätigkeit zugunsten einer
anderen Tätigkeit ein erheblicher Eingriff in den Artikel 12 des Grundge-
setzes (GG) (Berufsfreiheit) darstellt, und wie rechtfertigt die Bundesregie-
rung diesen Eingriff?

Berlin, den 29. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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