BT-Drucksache 16/11683

Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung im SGB II - Beschäftigung fördern statt Zwangsumzüge

Vom 21. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11683
16. Wahlperiode 21. 01. 2009

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm,
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Katrin Kunert, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung im SGB II –
Beschäftigung fördern statt Zwangsumzüge

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach der geltenden Rechtslage werden Hartz-IV-Beziehende bereits nach einem
halben Jahr mit Aufforderungen zur Wohnkostensenkung und Zwangsumzügen
bedroht. Günstigere Regelungen, wie sie in Berlin gefunden wurden, werden
von der Bundesregierung als mit dem geltenden Recht unvereinbar betrachtet.
Damit wird eine arbeitsmarkt-, sozial- und stadtentwicklungspolitisch bewährte
Regelung ausgehebelt. Dies läuft dem vorrangigen Ziel des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II) – der Integration in den Arbeitsmarkt – zuwider. Zu-
mindest in dem ersten Jahr des Leistungsbezugs muss den Hilfeberechtigten die
Rechtssicherheit gegeben werden, dass ihre Wohnkosten übernommen werden.
Hilfebedürftige müssen ihre Energien vollständig auf die Integration in Be-
schäftigung konzentrieren können. Dies wird durch die geltende Rechtslage
nicht gewährleistet und muss korrigiert werden.

II. Der Deutsche Bundestag beschließt:

1. § 22 Absatz 1 SGB II ist dergestalt zu verändern, dass Leistungen für Unter-
kunft und Heizung für die Dauer eines Jahres ab Beginn des erstmaligen
Leistungsbezuges nach dem SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen
erbracht werden.

2. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die durchführenden Instanzen der
Leistungen für Unterkunft und Heizung auf die „Ersten Empfehlungen des
Deutschen Vereins zu den Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22
SGB II)“ vom 18. Juni 2008 zu verweisen. Der vorbildliche Charakter dieser
Empfehlungen ist zu betonen, die Einhaltung zu kontrollieren und eine
stärkere Rechtsverbindlichkeit zu prüfen.

3. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Höhe der Beteiligung des Bundes

an den in § 46 Absatz 5 SGB II genannten Leistungen nach Maßgabe der
Entwicklung der tatsächlichen Ausgaben für Leistungen für Unterkunft und
Heizung zu bestimmen. § 46 Absatz 6, 7 und 8 SGB II ist entsprechend zu
verändern.

Berlin, den 20. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Drucksache 16/11683 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Begründung

1. Mit dem SGB II soll in erster Linie die Integration von Arbeitsuchenden in
den ersten Arbeitsmarkt verbessert werden. Empirische Befunde der Dyna-
mik im SGB II zeigen, dass es neben einer dauerhaften Verfestigung von
Langzeitbezug auch eine erhebliche Fluktuation von Zu- und Abgängen gibt.
So schreibt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in sei-
nem Kurzbericht 23/2006: „Von den Neuzugängen im ersten Halbjahr 2005
können durchschnittlich 43 Prozent innerhalb von zwölf Monaten den Leis-
tungsbezug beenden“. In einem jüngeren Kurzbericht weist das IAB aus, das
von den Zugängen im März 2006 50 Prozent nach neun Monaten nicht mehr
im Leistungsbezug verblieben (IAB KB 17/2007). Gerade im ersten Jahr des
Leistungsbezugs müssen die Arbeitsuchenden alle Aktivitäten auf die Wie-
dereingliederung in den Arbeitsmarkt konzentrieren können. Um dies zu er-
möglichen, ist den Leistungsbeziehenden eine Rechtssicherheit hinsichtlich
der Übernahme ihrer Wohnkosten für ein Jahr zu geben. Auf diese Art und
Weise wird ihnen ermöglicht, alle Kräfte zur Rückkehr in den Arbeitsmarkt
zu mobilisieren.

Neben der arbeitsmarktpolitischen Integration sprechen weitere schwer-
wiegende Gründe für eine Verlängerung der Übernahme der tatsächlichen
Kosten der Unterkunft und Heizung. Frühzeitige und rigide Überprüfung der
Kosten der Unterkunft und Heizung birgt die akute Gefahr einer sozialen
Segregation und der Schaffung von sozialen Brennpunkten. Dem wirkt die
vorgeschlagene Regelung entgegen, Zwangsumzüge werden erst einmal
verhindert. Die Beibehaltung des gewohnten sozialen Umfeldes dient weiter
der sozialen Stabilisierung der betroffenen Hilfebeziehenden und damit auch
deren Beschäftigungsfähigkeit. Die politische und soziale Gegensteuerung
bei einem einmal geschaffenen sozialen Brennpunkt ist für die öffentliche
Hand regelmäßig – wie der Deutsche Verein zutreffend in seinen Empfeh-
lungen formuliert – mit einem hohen Kostenaufwand verbunden. Eine
präventive Politik zur Vermeidung von sozialer Segregation mit einer ten-
denziellen Ghettoisierung von Hartz-IV-Beziehenden ist daher aus mensch-
lichen, sozialen und finanziellen Gründen vorzuziehen.

Die Herstellung der Rechtssicherheit für die Übernahme der tatsächlichen
Kosten der Unterkunft und Heizung für ein Jahr entlastet zudem die Ver-
waltung, da die jeweils im konkreten Einzelfall zu prüfende Entscheidung
administrativ aufwändig ist (u. a. jeweils zu prüfen: individuelle Umstände
bei den Leistungsbeziehenden, Verfügbarkeit von angemessenen Wohnungen
am Wohnort, Wirtschaftlichkeit eines Wohnungswechsels, Sicherstellung des
Lebensunterhalts, wenn Unterkunftskosten nicht komplett übernommen
werden, vgl. Empfehlungen des Deutschen Vereins). Die Kapazitäten der Ver-
waltung sind stattdessen auf die Förderung und die Unterstützung der Hilfe-
berechtigten zu konzentrieren.

Schließlich wird durch die gewährte Rechtssicherheit auch die Gerichts-
barkeit entlastet. Die gesetzlichen Regelungen zur Senkungen der Wohn-
und Heizkosten sind streitanfällig. Die Anlässe für gerichtliche Auseinan-
dersetzungen werden durch die Verlängerung der Übernahme der faktischen
Kosten der Unterkunft und Heizung auf ein Jahr deutlich reduziert.

Das Land Berlin hatte eine Ausführungsvorschrift zur Ermittlung angemes-
sener Kosten der Wohnung und Heizung gemäß § 22 SGB II (AV Wohnen)
erlassen, nach der die Kosten der Unterkunft zunächst für die Dauer eines
Jahres in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Diese Regelung hat sich
sowohl in sozial-, arbeitsmarkt- als auch stadtentwicklungspolitischer Hin-
sicht bewährt. Der Anteil der Aufforderungen zur Senkung von Wohnkosten

beschränkt sich in Berlin auf 1,8 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften,
während der entsprechende Anteil bei anderen Kommunen (z. B. Dresden)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11683

bis zu 30 Prozent erreicht. Der Prozentsatz der vollzogenen Wohnungs-
wechsel liegt in Berlin bei lediglich 0,03 Prozent der Bedarfsgemeinschaften
(Andrej Holm: Wohnungspolitische Auswirkungen der Hartz-IV-Gesetz-
gebung, in: Jürgen Klute/Sandra Kotlenga (Hg.): Sozial- und Arbeitsmarkt-
politik nach Hartz IV. Universitätsverlag Göttingen 2008, S. 51). Auf Druck
der Bundesregierung wurde die Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten in
der AV Wohnen auf ein halbes Jahr reduziert. Die gesetzlichen Bestimmun-
gen müssen daher so geändert werden, dass die vorbildliche frühere Berliner
Regelung bundesweit übernommen wird.

2. Der Gesetzgeber hat in § 22 SGB II den unbestimmten Rechtsbegriff der
„Angemessenheit“ der Kosten für Unterkunft und Heizung eingeführt. Da
die gesetzliche Zuständigkeit für die Kosten der Unterkunft und Heizung bei
den Kommunen liegt, kommt es zu einer Vielzahl unterschiedlicher und z. T.
auch widersprüchlicher Rechtsanwendungen. Zum Schutz der betroffenen
Leistungsberechtigten vor Zwangsumzügen sowie zur Herstellung einer ein-
heitlichen Rechtspraxis sind bundesweite Mindeststandards für angemesse-
nen Wohnraum und Wohnkosten zu definieren. Eine Verordnungsermächti-
gung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ist im Gesetz ge-
geben. Ein entsprechender Vorschlag der Fraktion DIE LINKE. findet sich
auf Bundestagsdrucksache 16/3302. Eine Vereinheitlichung der Verwal-
tungspraxis ergibt sich durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, die die
örtliche Praxis bindet. Darüber hinaus hat der Deutsche Verein fachliche
Empfehlungen vorgelegt, mit denen auch nach Ansicht des Bundesministe-
riums für Arbeit und Soziales (BMAS) „ein Standard gesetzt (wird), an dem
sich die künftige Verwaltungspraxis wird messen lassen müssen“ (Bericht
des BMAS, Anlage zur Haushalts-Ausschussdrucksache 16(8)4549). In den
Empfehlungen des Deutschen Vereins finden sich rechtliche Klarstellungen
zur Ermittlung des Richtwerts, zum Verfahren zur Ermittlung der Angemes-
senheit der Leistungen sowie konkrete Anweisungen zum Kostensenkungs-
verfahren.

Die Empfehlungen des Deutschen Vereins gehen deutlich weiter als die
Hinweise des Bundes. Ein Beispiel mit Bezug auf das Kostensenkungsver-
fahren soll das daraus resultierende Problem verdeutlichen. In dem Bericht
des Bundesrechnungshofs zur Angemessenheit der Leistungen für Unter-
kunft und Heizung heißt es: „In Fällen, in denen die Grundsicherungsstellen
die Hilfeempfänger aufgefordert hatten, die Aufwendungen zu senken, kürz-
ten sie nach Ablauf der Frist die Leistungen für Unterkunft, ohne zuvor
geprüft zu haben, wie die Hilfebedürftigen den von der Grundsicherungs-
leistungen nicht mehr erfassten Beitrag deckten. Teilweise überschritten die
vom Hilfeempfänger selbst zu zahlenden Beträge sogar die ausgezahlte
Regelleistung“ (Bericht des Bundesrechnungshofs, Bundestagsdrucksache
16/7570, S. 10). Nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins ist ein
solches Vorgehen strikt abzulehnen: „Mit den Leistungsberechtigten sollte in
einem Beratungsgespräch geklärt werden, inwieweit die verbleibenden – un-
gedeckten – Unterkunftskosten … finanziert werden können. Dabei ist
sicherzustellen, dass der Lebensunterhalt der Leistungsberechtigten nicht
gefährdet wird. Erläuterung: Aufgrund des Bedarfsdeckungsprinzips ist die
Übernahme des Differenzbetrags aus der Regelleistung in der Regel nicht
möglich“ (Deutscher Verein Punkt III g.). Es ist zu kritisieren, dass in den
Hinweisen des Bundes zu den Leistungen für Unterkunft und Heizung nach
§ 22 SGB II dieser Punkt nicht aufgegriffen wird (Bericht des BMAS
a. a. O.).

Der Bund ist aufgefordert, ein Verfahren zur bundesweiten Orientierung an
den Empfehlungen des Deutschen Vereins zu etablieren, die Umsetzung zu

kontrollieren und ggf. die Rechtsverbindlichkeit der Empfehlungen zu ver-
stärken.

Drucksache 16/11683 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. Die Anpassung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft ist
nach der gesetzlichen Lage an die Entwicklung der Anzahl der Bedarfs-
gemeinschaften gekoppelt. Diese Kopplung hat sich als nicht sachgerecht
erwiesen. Eine gerechte Aufteilung der Kosten zwischen Bund und Kommu-
nen ist aktuell nicht gewährleistet, stattdessen entzieht sich der Bund zu-
lasten der Kommunen seiner finanziellen Verantwortung. Die Bundesregie-
rung ist daher aufgefordert, ihre Beteiligung an den Kosten der Unterkunft
an den tatsächlichen Aufwendungen auszurichten.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.