BT-Drucksache 16/11637

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -16/9915- Lebenslagen in Deutschland - Dritter Armuts- und Reichtumsbericht

Vom 21. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11637
16. Wahlperiode 21. 01. 2009

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank
Spieth, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 16/9915 –

Lebenslagen in Deutschland –
Dritter Armuts- und Reichtumsbericht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist ein wichtiges Instrument zur
Gewinnung von Erkenntnissen über die Vermögens- sowie Einkommens-
situation und -entwicklung verschiedener Gruppen sowie über Verteilungs-
relationen in der Gesellschaft. Sie muss daher fortgeführt und verbessert wer-
den. Dabei muss sicher gestellt werden, dass repräsentative, aussagekräftige
und vergleichbare Daten verwendet und für politische Schlussfolgerungen
zugrunde gelegt werden.

2. Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht ist ein vernichtendes Zeugnis für
die Ergebnisse langjähriger rot-grüner Regierungspolitik. Die Armut in
Deutschland hat in den analysierten Jahren dramatisch zugenommen. Die
Armutsrisikoquote ist nach den im Bericht enthaltenen Daten des Sozio-
ökonomischen Panels von 12 Prozent 1998 auf 18 Prozent im Jahr 2005
gestiegen. Bei Kindern hat sich das Armutsrisiko im selben Zeitraum von
16 Prozent auf 26 Prozent erhöht. Auch die soziale Spaltung zwischen Arm
und Reich nimmt zu. Die Zahl der Reichen ist gestiegen, während die Mittel-
schicht geschrumpft ist. Die durchschnittlichen Löhne und Gehälter sind real
um fast 5 Prozent real gesunken, während die Gehälter von Managern explo-
diert sind. Die Ungleichheit der deutschen Gesellschaft hat sich durch diese
Entwicklungen verschärft.

3. Dass so viele Menschen in Deutschland in Armut leben oder von Armut be-
droht sind, ist für ein solch reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland

ein Armutszeugnis und ein Zustand, der dringend bekämpft werden muss.
Armut beeinträchtigt die Lebenschancen und die Menschenwürde der Betrof-
fenen und verletzt daher elementare Verfassungsprinzipien. Die zunehmende
Spaltung zwischen Arm und Reich führt zur Gefährdung des sozialen Zusam-
menhalts und der Demokratie.

4. Die Bundesregierung wird der Aufgabenstellung „materielle Armut und Un-
terversorgung sowie Strukturen der Reichtumsverteilung zu analysieren und

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Hinweise für die Entwicklung geeigneter politischer Instrumente zur Vermei-
dung und Beseitigung von Armut, zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit
sowie zur Verminderung von Polarisierungen zwischen Arm und Reich zu
geben“ (Bundestagsdrucksache 14/5990, Seite 10) unverändert nicht in aus-
reichendem Maße gerecht. Insbesondere im Hinblick auf die politischen
Schlussfolgerungen, die die Bundesregierung aus der Zunahme der sozialen
Polarisierung zieht, scheint die Bundesregierung lernunwillig. Die Bundes-
regierung bleibt daher dringend aufgefordert, wirksame Maßnahmen gegen
Armut und die weitere Spaltung der Gesellschaft zu ergreifen. Wesentliche
politische Entscheidungen der vergangenen Jahre wie z. B. die Hartz-Ge-
setze, die Agenda 2010, die Teilprivatisierung der Alterssicherung (Riester-
Rente), die Absenkung des Rentenniveaus sowie zahlreiche Steuerreformen
haben die Armuts- und Ungleichheitsentwicklungen bewirkt bzw. verstärkt
und müssen daher dringend korrigiert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Vierten und die weiteren Armuts- und Reichtumsberichte der Bundes-
regierung dahingehend zu qualifizieren, dass

a) repräsentative, aussagekräftige und vergleichbare Daten verwendet und in
den Mittelpunkt der politischen Schlussfolgerungen und Debatte gestellt
werden;

b) die Datengrundlage für die Berichterstattung über Reichtum und Vertei-
lungsrelationen zwischen Oben und Unten erheblich verbessert wird und
wesentlich mehr Indikatoren und Befunde zu diesen Themen präsentiert
werden;

c) Analysen zum Ausmaß verdeckter Armut in allen Grundsicherungssyste-
men unternommen werden;

d) künftig in den Berichten Handlungsanleitungen und -konzepte aufgeführt
werden, mit denen qualitative und quantitative Ziele von der Politik auf-
gegriffen und nachprüfbar erreicht werden können und in einem umfas-
senden Aktionsplan zur Armutsbekämpfung gebündelt werden.

2. unmittelbar wirksame Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zur Verbes-
serung der Situation der Betroffenen zu ergreifen und hierzu

a) einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,71 Euro pro
Stunde einzuführen, der „Armut trotz Arbeit“ verhindert, sowie die Be-
schäftigungspolitik auf die Schaffung guter Arbeit und die Zurückdrän-
gung prekärer Beschäftigung auszurichten;

b) die Regelsätze des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II und SGB XII) sofort auf 435 Euro anzuheben;

c) den Regelsatz für Kinder in den Grundsicherungssystemen unverzüglich
auf 300 Euro zu erhöhen und zu einem kindgerechten Regelsatz weiterzu-
entwickeln;

d) gemeinsam mit den Bundesländern Lernmittelfreiheit an den Schulen,
eine kostenlose Schülerinnen- und Schülerbeförderung sowie ein kosten-
freies Mittagessen für die Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten;

e) den bedarfsbezogenen Kinderzuschlag für Eltern, die ihren eigenen Le-
bensunterhalt bestreiten können, aber nicht den ihrer Kinder, deutlich von
bisher maximal 140 Euro auf 200 Euro für unter 14-jährige und 270 Euro
für 14-jährige und ältere Kinder anzuheben und die Einkommensgrenzen
abzuschaffen, damit der Berechtigtenkreis deutlich ausgeweitet wird;
f) das Wohngeld weiter anzuheben und um eine Familienkomponente zu
erweitern.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11637

3. wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die von Armut betroffenen oder bedroh-
ten Menschen langfristig Lebensperspektiven jenseits der Armut eröffnen
und hierzu

a) eine sozial gerechte und demokratische Bildungsreform durchzuführen,
die dafür sorgt, dass bestehende soziale Ungleichheiten nicht durch man-
gelnde individuelle Förderung, frühzeitige Auslese und soziale Ausgren-
zung reproduziert und sogar noch verstärkt werden, sondern jedem Kind
Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet;

b) die Förderung beruflicher Aus- und Weiterbildung im Rahmen der Arbeits-
marktpolitik zu stärken und für Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt
kaum Chancen haben, statt perspektivloser Ein-Euro-Jobs öffentlich ge-
förderte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bereitzustellen;

c) durch den Ausbau gebührenfreier Kinderganztagsbetreuung und die fami-
lienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, insbesondere auch für Alleinerziehende, zu gewährleisten;

d) die Absenkung des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente zurückzu-
nehmen und Maßnahmen zu ergreifen, damit auch Menschen mit geringen
Einkommen eine existenzsichernde Rente aus der gesetzlichen Rentenver-
sicherung erhalten.

4. der zunehmenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen durch eine
sozial gerechte Steuerpolitik, die die Erhöhung der Spitzensteuersätze, der
Erbschaftssteuer, die volle Versteuerung von Unternehmens- und Veräuße-
rungsgewinnen sowie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer umfasst,
entgegenzuwirken.

Berlin, den 20. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt trotz seiner
anderweitigen politischen Kommunikation dramatische Befunde über die Ent-
wicklung der deutschen Gesellschaft. Die allgemeine Armutsrisikoquote ist seit
1998 um 6 Prozentpunkte gestiegen, die Kinderarmut hat sogar um 10 Prozent-
punkte zugenommen. Mehr als jedes vierte Kind lebt damit unterhalb der Ar-
mutsrisikogrenze. Die dauerhafte Armut hat sich allein zwischen 2002 und 2005
von 9 auf 11 Prozent erhöht. Arbeitslose haben ein Armutsrisiko von 43 Prozent.
Auch Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten sowie Menschen ohne
Schulabschluss sind in besonderem Maße von Armut betroffen. Im Osten liegt
die Armutsquote 5 Prozentpunkte über der im Westen. Besonders erschreckend
ist die Zunahme von „Armut trotz Arbeit“, die sich im Zeitraum von 1998 bis
2006 von 6 auf 12 Prozent verdoppelt hat und von der vier Millionen Menschen
betroffen sind. Hier zeigen sich in eklatanter Weise die Folgen der Deregulie-
rung und der politisch betriebenen Ausweitung prekärer Beschäftigung der ver-
gangenen Jahre.

Dass die Armutsrisikoquote nach neuesten Daten im Jahr 2006 auf 16,5 Prozent
gesunken ist, ist kein Grund zur Entwarnung. Denn dies war der guten konjunk-
turellen Entwicklung geschuldet, die bereits wieder zum Erliegen gekommen

ist. Außerdem beträgt die absolute Zahl der Personen, die in einem Haushalt un-
ter der Armutsrisikogrenze leben, immer noch fast 14 Millionen und liegt damit

Drucksache 16/11637 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
um 4 Millionen höher als im Jahr 2000. Dieser Anstieg ist der stärkste, der in
den letzten 25 Jahren statistisch beobachtet wurde.

Nicht nur die Armut hat jedoch zugenommen, sondern auch der private Reich-
tum. Die realen Durchschnittseinkommen haben dagegen abgenommen, die
Reallöhne und -gehälter sind seit 2002 um fast 5 Prozent gesunken, die Mittel-
schicht schrumpft. Dass diese Spaltungsprozesse das Vertrauen in unsere Gesell-
schaftsordnung erschüttern, wird auch im Bericht der Bundesregierung ange-
deutet.

Die Bundesregierung versucht jedoch diese Entwicklungen zu beschönigen, in-
dem sie die wenig aussagekräftigen und im Zeitverlauf nicht vergleichbaren Da-
ten der europäischen Datenbasis EU-SILC in den Mittelpunkt der politischen
Kommunikation über den Armuts- und Reichtumsbericht stellt. Sie verweist auf
die Wirksamkeit des Sozialstaats, der laut dieser Datenbasis die Armutsrisiko-
quote von 26 Prozent auf 13 Prozent halbiert, ignoriert dabei jedoch Befunde
wie die des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e. V., des Soziolo-
gischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) e. V. und des eigens für den
Dritten Armuts- und Reichtumsbericht angefertigten Gutachtens „Integrierte
Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung“, die allesamt zeigen, dass
die armutsvermeidende Wirkung staatlicher Umverteilung in den letzten Jahren
deutlich nachgelassen hat. Mit dem Verweis auf jüngere – positive – Arbeits-
marktentwicklungen, die in der Datenbasis des Berichts noch nicht abgebildet
sind, ignoriert sie die Befunde und negiert den nach wie vor bestehenden drin-
genden Handlungsbedarf in Sachen Armutsbekämpfung.

Die Bundesregierung rühmt sich dafür, durch ihre Politik und die der Vorgänger-
regierung, die Weichen in die richtige Richtung gestellt und für einen Auf-
schwung gesorgt zu haben, der bei den Menschen in Form verbesserter Einkom-
mensperspektiven und zusätzlicher Arbeitsplätze ankomme. Das Institut für
Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK-Report Nr. 27/2008) zeigt je-
doch, dass der Aufschwung bei den unteren Einkommensgruppen nicht an-
kommt. Zusätzliche Arbeitsplätze sind vor allem im Bereich prekärer Beschäf-
tigung entstanden, die realen Löhne und Gehälter sind auch im Aufschwung
nicht gestiegen, die Sockelarbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch. Durch die Zu-
nahme von Repressionen in der Arbeitsmarktpolitik verschwinden viele Men-
schen aus dem Leistungsbezug, ohne dass sie in den ersten Arbeitsmarkt gelan-
gen würden. Die verdeckte Armut von Hilfebedürftigen nimmt dadurch zu. Die
offiziellen Arbeitslosenzahlen zeigen kein realistisches Bild der Beschäfti-
gungslage. Nicht die wirtschaftsliberalen Reformen der letzten Jahre haben den
Aufschwung herbeigeführt, der bereits wieder an sein Ende gelangt ist, sondern
die Entwicklung der Weltwirtschaft und nachgeholte Investitionen der deut-
schen Wirtschaft. Mit der aktuellen Finanzkrise droht eine erneute Verschlim-
merung der Lage.

Dennoch glaubt die Bundesregierung, trotz der internationalen Finanzkrise der
Wirksamkeit der wirtschaftsliberalen Reformen der letzten Jahre vertrauen und
keinen Kurswechsel in der Sozial- und Beschäftigungspolitik vornehmen zu
müssen. Sie unternimmt deshalb auch keine Anstrengungen, Armut wirksam zu
bekämpfen. Weder will sie einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, noch die
Regelsätze der Grundsicherungssysteme erhöhen. Ihre Maßnahmen gegen Kin-
derarmut greifen völlig zu kurz. Die Debatte zum Dritten Armuts- und Reich-
tumsbericht im Parlament muss daher zum Anlass genommen werden, die Bun-
desregierung nachdrücklich aufzufordern, sich ihrer Verantwortung für die be-
schriebenen Entwicklungen zu stellen und schnell und effektiv zu handeln.

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