BT-Drucksache 16/11204

Sanitäre Grundversorgung international verbessern

Vom 3. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11204
16. Wahlperiode 03. 12. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Alexander Bonde, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried
Nachtwei, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sanitäre Grundversorgung international verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Jahr 2000 haben die Staats- und Regierungschefs auf dem Millenniumsgipfel
im Rahmen des Entwicklungsziels 7 zur „ökologischen Nachhaltigkeit“ be-
schlossen, bis zum Jahr 2015 den Anteil der Menschen zu halbieren, die „ohne
dauerhaft gesicherten Zugang zu hygienisch unbedenklichem Trinkwasser“
sind. Zwei Jahre später wurde auf der UN-Konferenz in Johannesburg das Ziel
für den Sanitärbereich, den Anteil der Menschen ohne Zugang zu verbesserter
Sanitärversorgung bis 2015 im Vergleich zu 1990 zu halbieren, ergänzt.

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie sanitärer Grundversorgung inklu-
sive Toiletten, die umweltfreundliche Entsorgung, Klärung der Abwässer und
ihre Wiederverwertung sind wichtige Voraussetzungen für nachhaltige ökono-
mische und soziale Entwicklung. Fehlende Sanitärversorgung verhindert Fort-
schritte bei der weltweiten menschlichen Gesundheit, der Bildung und der
Gleichstellung der Geschlechter. Klimawandel und der weltweit enorm stei-
gende Wasserverbrauch tragen zu einer Verschärfung der Situation bei.

Weltweit haben 2,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu verbesserten Sani-
täranlagen, durch die sich der direkte Kontakt mit menschlichen Exkrementen
und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken vermeiden ließen. Von diesen
2,5 Milliarden verfügen 1,2 Milliarden Menschen oder 18 Prozent der Weltbe-
völkerung über gar keinen Zugang zu Toiletten in irgendeiner Form, so dass sie
sich im Freien erleichtern müssen. Zwischen 1990 und 2006 hat sich der Anteil
der Menschen ohne Zugang zu verbesserten Sanitäranlagen nur um 8 Prozent-
punkte verringert. Werden weitere Fortschritte nur in dem bisherigen Tempo er-
zielt, wird das Millenniumsentwicklungsziel im Sanitärbereich um 700 Millio-
nen Menschen verfehlt. Besonders in den afrikanischen Staaten südlich der
Sahara hat sich die Situation nur geringfügig verbessert; derzeit verfügen dort
31 Prozent der Bevölkerung über einen Zugang zu verbesserter Sanitärversor-

gung und damit nur 5 Prozent mehr als 1990. Im Gegensatz dazu gibt es in der
Trinkwasserversorgung deutliche Fortschritte zu verzeichnen: Zum ersten Mal
ist die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser unter eine
Milliarde gesunken, wobei auch hier einige afrikanische Länder südlich der
Sahara und Länder in Ozeanien hinter ihren Zielen zurückliegen. Setzt sich der
derzeitige Trend fort, wird das Millenniumsziel in diesem Bereich voraussicht-

Drucksache 16/11204 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

lich erreicht werden und 2015 mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung Zugang
zu sauberem Trinkwasser haben.

Die Auswirkungen verschmutzten Wassers als Entwicklungshindernis sind
immens. Fast 90 Prozent aller Durchfallerkrankungen in Entwicklungsländern
sind auf verschmutztes Wasser, mangelnde sanitäre Grundversorgung und
Hygiene zurückzuführen. Die Hälfte aller Krankenhausbetten ist mit Patienten
belegt, die an wasserbedingten Krankheiten leiden. Rund 5 000 Kinder unter
fünf Jahren sterben täglich an den Folgen schmutzigen Wassers – ein Vielfaches
der Kinder, die an AIDS sterben. Allein die Sanitärversorgung kann die Kinder-
sterblichkeit mehr als halbieren. Wasser- und Sanitärversorgung sind daher die
beste Präventivmedizin. Die Arbeitsausfälle und Gesundheitsausgaben, die süd-
lich der Sahara wegen unhygienischer Wohn- und Lebensbedingungen infolge
unzureichender Wasser- und Sanitärversorgung auftreten, kosten die afrika-
nischen Staaten südlich der Sahara laut UNDP jährlich 5 Prozent der Wirt-
schaftskraft und damit mehr Geld als die Region 2003 an Entwicklungshilfe und
Schuldenerlassen erhielt. Investitionen in die Sanitärversorgung sind überaus
lohnend: Jeder in den Sektor investierte Euro erbringt laut Human Development
Report 2006 einen durchschnittlichen volkswirtschaftlichen Gewinn von 9 Euro.
Die aufgrund steigenden Verbrauchs und des Klimawandels schrumpfenden
Süßwasservorkommen werden durch die defizitäre Abwasserentsorgung nach
Angaben von UN Water erheblich belastet: 70 Prozent der Industrieabwässer in
Entwicklungsländern werden ungeklärt in die Umwelt geleitet. Bei den kommu-
nalen Abwässern sind es sogar 90 Prozent. Mehr als 200 Millionen Tonnen
menschlicher Ausscheidungen gehen jährlich unbehandelt in die Umwelt und
verschmutzen die Wasserressourcen und die Wohnumgebung der Menschen.

Frauen und Mädchen sind von den Mängeln in der Wasser- und Sanitärversor-
gung besonders betroffen. Der fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser im
Haushalt oder in unmittelbarer Nähe beeinträchtigt ihre Bildungs- und Entwick-
lungschancen deutlich, da sie in 64 Prozent der betroffenen Haushalte für das
Wasserholen von z. T. weit entfernten Wasserquellen zuständig sind, was in
ländlichen Gebieten Afrikas für einen 6-köpfigen Haushalt im Schnitt einen
Aufwand von täglich 3 Stunden für diese unproduktive Tätigkeit bedeutet, ganz
zu schweigen von den körperlichen Belastungen, denen junge Mädchen und
Frauen hierdurch ausgesetzt sind. Aber auch fehlende Sanitäranlagen sind für
Frauen besonders problematisch und bringen zusätzliche Probleme mit sich,
z. B. das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Zudem werden die Bil-
dungschancen von Mädchen durch fehlende Toiletten in Schulen deutlich einge-
schränkt, da für sie nach Einsetzen der Menstruation die Teilnahme am Schul-
unterricht kaum möglich ist, wenn getrennte und abschließbare Toiletten fehlen.

Trotz der Bedeutung der sanitären Grundversorgung für die Umwelthygiene, ein
Leben in Würde und die Prävention zur Verhütung von wasserbedingten Krank-
heiten werden nach Schätzungen der WHO nur 37 Prozent der internationalen
Entwicklungshilfe im Wassersektor in den Sanitärbereich investiert. Um dem
Thema weltweit mehr Beachtung zu verschaffen und das Tabu zu brechen, das
Toiletten und Abwasserentsorgung umgibt, haben die Vereinten Nationen das
Jahr 2008 auf Initiative des Beraterkreises für Wasser und sanitäre Grundversor-
gung des UN-Generalsekretärs (UNSGAB) zum „Internationalen Jahr der sani-
tären Grundversorgung“ ausgerufen. Der Deutsche Bundestag (Bundestags-
drucksache 16/2758) und die Bundesregierung haben diese Initiative von Anbe-
ginn an unterstützt.

Deutschland fällt im Kreis der entwicklungspolitischen Partner eine besondere
Verantwortung für die Verbesserung der Sanitärversorgung zu: Die damalige
rot-grüne Bundesregierung war als Gastgeber und Initiator der Internationalen

Süßwasserkonferenz in Bonn 2001 eine treibende Kraft dafür, dass das Sanitär-
Millenniumsziel auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannes-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11204

burg 2002 nachträglich in den Katalog der Millenniumsentwicklungsziele auf-
genommen wurde.

Um dem Sanitär-Millenniumsziel näher zu kommen gilt es, dem Thema auf der
innenpolitischen Agenda der betroffenen Länder, aber auch auf der internationa-
len politischen Tagesordnung eine höhere Priorität einzuräumen, die Kapazitäts-
entwicklung voranzutreiben, das Marketing von Sanitärversorgung auszubauen,
adäquate Finanzmittel zu generieren und das Monitoring zu stärken. Besonderes
Augenmerk verdient das Potential wiederverwertungsorientierter Ansätze der
Sanitärversorgung, die durch Wassereinsparung und Umwandlung von Fäkalien
zu Biogas oder Dünger wichtige und kostengünstige Beiträge leisten können,
um Ressourcen zu schützen, die Anpassung an den Klimawandel und die land-
wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Zudem können auch internationale Re-
gelwerke an der Schnittstelle zwischen Umwelt- und Entwicklungspolitik sowie
eine verbesserte Koordination verschiedener Akteure einen Beitrag dazu leisten,
die Sanitärversorgung politisch zu stärken und ihre Implementierung zu verbes-
sern.

Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die große Anfrage der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 16/9387) die Trink-
wasser- und Sanitärversorgung als wichtigen Faktor für die Armutsbekämpfung
anerkannt und die Hauptursachen für die Vernachlässigung des Sanitärbereiches
mangelnden politischen Willen, Tabuisierung des Themas, Kapazitätsmängel in
den betroffenen Ländern sowie unzureichende finanzielle Mittel identifiziert,
bisher jedoch selbst zu wenig Maßnahmen ergriffen, um diesen Ursachen zu
begegnen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Dialog mit ihren Partnerländern das Thema der Sanitärversorgung stärker
voranzutreiben, um gemeinsam den Ursachen der Vernachlässigung dieses
Millenniumsentwicklungsziels entgegenzuwirken;

2. dafür zu werben, dass in der internationalen Zusammenarbeit zukünftige
Trinkwasserprojekte immer eine Sanitärkomponente enthalten;

3. weiterhin Kapazitätsentwicklung und Sektorreformen in Partnerländern zu
fördern und dabei einen besonderen Fokus auf Sanitärversorgungssysteme
und Abwassermanagementkonzepte zu setzen, die die Aufbereitung und
Wiederverwendung des Wassers und seiner Wertstoffe ermöglichen;

4. dazu beizutragen, dass die lokale Bevölkerung in Angelegenheiten der sani-
tären Grundversorgung und Trinkwasserversorgung angemessen informiert
und beteiligt wird;

5. eine Strategie vorzulegen, wie die Kompetenzen deutscher Unternehmen,
öffentlicher Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen im Bereich
der Sanitärversorgung stärker genutzt werden können, um den Anstrengun-
gen zur Erreichung des Sanitärziels bis 2015 einen Schub zu verleihen;

6. alles zu tun, ihre afrikanischen Partner und den Rat der afrikanischen Wasser-
minister (AMCOW) bei der Umsetzung der AU-Deklaration von Sharm-El-
Sheik von 2008 über die Erreichung der Ziele im Bereich der Trinkwasser-
und Sanitärversorgung in Afrika und der Ethikwini Ministererklärung zur
Sanitärversorgung von 2008 zu unterstützen;

7. sich weiterhin im Rahmen der G8 dafür einzusetzen, dem Aufruf der
AU-Deklaration von Sharm-El-Sheik zu folgen, die Partnerschaft der G8 mit
den afrikanischen Ländern im Bereich der Wasser- und Sanitärversorgung zu
intensivieren und gemeinsam mit afrikanischen Partnern konkrete Vor-

schläge zu erarbeiten, wie der Evian Actions Plan der G8 von 2003 und die
AU-Deklaration von Sharm-El-Sheik umgesetzt werden können;

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8. im Rahmen der G8 dafür zu werben, dass die Entwicklungszusammenarbeit
der G8 im Bildungs-, Gesundheits- und Landwirtschaftssektor den Aspekt
der sanitären Grundversorgung systematisch integriert, das heißt z. B. bei
Neuinvestitionen in Krankenhäuser und Schulen auf den Einbau von ge-
schlechtergetrennten Toiletten zu achten;

9. sich gegenüber WHO und UNICEF für eine Reform des Monitorings der
Millenniumsentwicklungsziele auch im Bereich Sanitärversorgung einzu-
setzen, da die vorhandenen Daten die aktuelle Situation sowohl hinsichtlich
der Qualität als auch der Quantität der Sanitärversorgung verzerrt darstel-
len;

10. aktiv auf die Partner aus dem „Stockholm-Prozess“ der Weltwasserwoche
2008 zuzugehen, damit der dort gefundene Konsens bezüglich der Reform
des Monitoring-Mechanismus (JMP) nun konkrete Veränderungen nach
sich zieht und technisch, finanziell und personell besser ausgestattet wird;

11. sich für die weltweite Erfassung von Daten zum Abwassermanagement ein-
zusetzen, da fehlende Abwasserentsorgung ein zunehmendes Problem bei
der Bereitstellung von sauberem Trinkwasser darstellt;

12. sich bei der Commission on Sustainable Development dafür einzusetzen,
erstmals das Kapitel 21 über „den umweltfreundlichen Umgang mit festen
Abfällen und abwasserbezogenen Problemen“ der Agenda 21 zu behandeln,
Fortschritte zu überprüfen und Politikempfehlungen abzuleiten;

13. sich weiterhin für den Ausbau der wiederverwertungsorientierten Sanitär-
konzepte gegenüber den Partnerländern und anderen Gebern einzusetzen
und die Verwendung dieser Konzepte besonders im Landwirtschafts- und
Energiebereich möglichst auszuweiten;

14. den Ecosan-Ansatz auch bei internationalen Organisationen wie der FAO
und regionalen Entwicklungsbanken bekannt zu machen und seine Anwen-
dung einzufordern;

15. alles zu tun, damit die Partnerländer ihre Wasserentsorgungspolitik an die
Auswirkungen des Klimawandels anpassen und ein nachhaltiges Wasser-
management bei Dürren und bei Überflutungen sichergestellt ist;

16. im Rahmen der Kooperation mit der unabhängigen Expertin des VN-Men-
schenrechtsrates zum Recht auf Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung
daraufhin zu wirken, dass die zukünftige Definition dieses Rechts ausdrück-
lich nicht nur das Recht auf Zugang zu sauberem Trinkwasser, sondern auch
das Recht auf Zugang zu sanitärer Grundversorgung umfasst.

Berlin, den 3. Dezember 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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